Arbeit an einem Nebenschauplatz

Documenta Der Chor der Arbeit oder wie ein unternehmerisches Selbst an einem Abend am Rande der Documenta zum Denken angeregt wird und dabei auch noch entspannt

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"Chor der Arbeit" im Kreuzberg Pavillon Kassel
"Chor der Arbeit" im Kreuzberg Pavillon Kassel

Foto: Janine Sack

Diese Documenta hat mich daran erinnert, was mich irgendwann mal der Kunst nahe gebracht hat: der große Raum, den es in der Kunst geben kann, die Möglichkeit in viele Richtungen zu denken, wörtlich zu denken, räumlich, visuell, theoretisch. Und diese Richtungen miteinander verbinden zu können.

Mir haben sehr viele Arbeiten gut gefallen, ich habe mich gefreut an dem Gefühl viel zu viel gesehen zu haben, nur ein Bruchteil davon verarbeiten zu können, aber dennoch so angeregt gewesen zu sein, dass ich Dinge erinnern und Fäden wieder aufgreifen werde.

Am Beeindruckendsten war für mich allerdings eine Veranstaltung, die nicht Teil des offiziellen Programms war, deren Ankündigung aber gut verteilt im Umfeld der Ausstellung zu finden war. Sie hieß Chor der Arbeit und fand in der Dependance des Berliner Kreuzberg Pavillon in Kassel statt. StudentInnen der Kunstakademie Stuttgart haben sich ein Semester lang mit Texten zur Bedingung von Arbeit und der daraus resultierenden Auffassung des Selbst auseinandergesetzt.

Ausgehend von Fragen wie „Was ist die Position der Künstler/innen auf dem Arbeitsmarkt? Was ist seine oder ihre Position gegenüber der Ökonomisierung von Bildung, Ausbildung, Lebensplanung und Lebenserfahrung? Sind Künstler die Vorreiter einer neuen „kreativen“ Subjektivität, die in der neoliberalen Arbeitsgesellschaft der Selbstaktivierer von allen übernommen werden muss?“ (Auszug aus dem Vorlesungsverzeichnis) wurden Texte von Theoretikern wie Boltanski, Chiapello, Menke und Diederichsen gelesen.

Die Frage, wie „unternehmerische Selbst“ sich selbst noch entkommen kann oder unter der Last der „Dynamik permanenter Selbstoptimierung“ nur noch in der Schleife der Dauerfrustration verweilt, hat auch der Sozialwissenschaftler Ulrich Bröckling in seinem Buch „Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform“ behandelt.

Auf Einladung des Künstlers Ulf Aminde haben sie zusammen mit Felix Ensslin, der an der Akademie Kunstvermittlung und Ästhetik unterrichtet, einen Abend veranstaltet, dessen Form irgendwo zwischen Performance, Gesprächskreis und Mattenlager lag.

Der Abend war durch eine lose Choreografie strukturiert, in der die Akteure in unregelmäßigen Abständen sich wiederholende Zitate zum Thema im Chor proklamierten, um sich daraufhin sofort wieder nahtlos in die Gespräche zu begeben, die mit dem Publikum geführt wurden. Zeitgleich wurden Textpassagen aus den zugrunde liegenden Theorien vorgelesen.

In dem Veranstaltungsort, der gleichzeitig als Schlafplatz den AkteurInnen diente, verwob sich das theatralische Setting des Rezitierens mit dem Lebensweltlichen des Biertrinkens und Schlafens. Die Akteure verließen ihre Betten nicht mehr, sobald sie diese „bezogen“ hatten und waren so zum Gespräch mit den Gästen, die ihren Sitzplatz auf eben diesen Betten hatten, gewissermassen gezwungen.

Gezwungen wirkte es allerdings überhaupt nicht, im Gegenteil war es beeindruckend mit welcher ernsthaften Leichtigkeit, die StudentInnen uns als ZuhörerInnen gekommene in Gespräche verwickelten, die ausgehend von der Situation in der man sich befand, genau die zuvor programmatisch angerissenen Fragestellungen aufgriffen.

Das Gespräch begann mit den einfachen Fragen wie man zu der Veranstaltung gefunden habe, was man beruflich mache und gelangte erstaunlich rasch zum Thema des Abends: die Bedingungen der Arbeit. Wie es sich arbeitet als Studentin, als Freiberuflerin, als Angestellte, als Künstlerin, als Grafikerin oder als Mutter, wie sich verschiedene Bedürfnisse in diesen Rollen erfüllen lassen, oder eben nicht. Welche Ansprüche man an sich selbst stellt, wie man sich zu den Realitäten von Arbeitswelt, Hierarchie, Aufmerksamkeitsökonomie stellt und was es bedeuten kann, sich diese Fragen zu stellen.

Ich fand es bemerkenswert, wie sehr sich hier die lebensweltlichen, die philosophischen und soziologischen Aspekte der Frage, wie man heute arbeitet und wie es sich konstituierend für die Identität darstellt, miteinander verwoben. Und wie einfach es sich in dieser Inszenierung besprechen ließ.

Ein Abend der es geschafft hat, ein Thema, das weder leicht, noch erfreulich und auch nicht ganz neu ist, so konkret und fassbar zu machen, dass die Gedanken weiterspinnen.

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Ich jedenfalls bin gespannt auf die angekündigte Ausstellung in der Agentur für Arbeit diesen Herbst in Stuttgart.

Janine Sack ist Künstlerin und Artdirektorin des Freitag. Vor langer Zeit hat sie in dem Projekt "be yourself!" dem Selbstoptimierungs-Ich in einer fiktiven Reality-TV-Show ein zweifelhaftes Denkmal gesetzt. janinesack.de

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Geschrieben von

Janine Sack | Let's Talk About Art

Sprechen wir über Kunst. Ein zweisprachiges Forum für Beiträge über Kunst – initiiert von Janine Sack Künstlerin und Art-Direktorin

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