Sarah hat keinen Bock auf Nullbock

Bildungschancen Für Jugendliche mit psychischen Beeinträchtigungen sollten neue Wege gefunden werden, die sie nicht ins Abseits stellen. Eine Herausforderung an alle in der Gesellschaft.

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Leistungsdruck und Stress führen nicht nur im Arbeitsleben zu psychischen Beeinträchtigungen. Auch Jugendliche leiden in der Schule oft darunter, dass die Lehrer keine Zeit haben, sich auf die Problematiken einzelner Schüler bei Lernschwächen oder nach einem längeren krankheitsbedingten Ausfall einzustellen. "In Gesundheitskreisen herrscht international Besorgnis über den psychischen Gesundheitszustand der Jugend", schon 2008 schrieb Hans Troedsson, früher bei der Weltgesundheitsorganisation für Jugendgesundheit zuständig. "Das ist eine tickende Bombe, und wenn wir jetzt nicht richtig handeln, werden Millionen von Heranwachsenden die Wirkungen spüren." Auch der ärztliche Direktor der Kasseler Klinik für Kinderpsychiatrie und -psychotherapie, Günter Paul, betont, dass die Zahl der psychisch kranken Schüler in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent gestiegen ist. "Damit leiden die Schüler öfter an psychischen Störungen als an Infektionskrankheiten."1

Schule nicht geschafft, heißt nicht gleich Nullbock auf Lernen

Das war vor 9 Jahren und seither hat sich die Situation für unsere Jugendlichen nicht gebessert: Lehrermangel, marode Schulen, Lehrpläne aus dem vorigen Jahrhundert, veraltete technische und methodische Ausstattung der Schulen ...

Aber Schüler, die das Bildungssystem bereits aufgegeben und in die psychische Ecke abgeschoben hat, können ihren Schulabschluss trotzdem schaffen. Das Beispiel einer jungen Frau aus Leipzig zeigt, dass es gelingen kann, viele Kinder und Jugendliche wieder am Leben als Teenager teilhaben zu lassen.

Die Schule hat sie in der 9. Klasse an einer Leipziger Schule abgebrochen. Es ging nicht mehr. Nach langer Krankheit hat sie den Anschluss nicht mehr geschafft. Kein Lehrer hatte Zeit für sie als einzelne Schülerin. Die Klasse musste das Lernziel schaffen. Da blieb kein Raum für die 15-jährige Sarah. Es folgte das Aus.

Hoffnungslosigkeit? Nein, nicht für Sarah. „Nur weil man die Schule nicht geschafft hat, heißt es noch lange nicht, dass man keinen Bock hatte. Dieses Klischee muss beseitigt werden.“ Sagt sie heute, mit 18, selbstbewusst.

Über zehn Monate konnte sie positive Erfahrungen sammeln. Es geht auch anders. Sie hat den Hauptschulabschluss geschafft. Eine Berufsperspektive.

Sarah gehörte mit zu den ersten, die im letzten Jahr in die Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB) des Beruflichen Trainingszentrums Leipzig (BTZ Leipzig) am Berufsförderungswerk Leipzig (BFW Leipzig) einstieg. Es ist ein spezielles Angebot für junge Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, und die noch nicht über die erforderliche Ausbildungsreife verfügen, aber grundsätzlich eine Ausbildung anstreben und motiviert sind.

Die Motivation hatte Sarah. Mit 14 gingen ihre Berufswünsche schon in Richtung Einzelhandel. Das wollte sie verwirklichen. Mit der BvB-Maßnahme wurde ihr eine neue Chance gegeben. Nicht mehr „Schulabbrecherin“ in den Augen der anderen sein, sondern einen Abschluss schaffen. Eltern und Großeltern unterstützten sie. Das stärkte Sarah.

Die neue „Klasse“ im BTZ Leipzig war klein. Acht Teilnehmer. Die Lehrkräfte konnten sich auf jeden einzelnen einstellen. Individualität, Lernförderung nach den Fähigkeiten und Möglichkeiten. Mit Dozenten, Bildungsbegleitern, Ergotherapeuten und Psychologen. Weg vom klassischen Lehrplan, sondern gezielte Vorbereitung der Jugendlichen auf ihren künftigen Berufs- und Lebensweg. Natürlich mit Mathe und Deutsch sowie mit Sarahs Wahlfächern: Englisch, Geschichte und Geographie. Dazu gab es Exkurse ins reale Leben: Schuldnerberatung „Wie gehe ich mit Geld um?“ oder Verbraucherzentrale „Was brauche ich für ein eigenständiges Leben, für eine Wohnung?“ oder Stadtbibliothek …

Sarahs Ehrgeiz war schon immer groß. Es bleibt unverständlich, warum ihr damals keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sie ins Abseits geschoben wurde. Umso mehr war sie stolz, dass sie im BTZ Leipzig ihren Hauptschulabschluss mit 2,0 absolvierte. Klassenbeste, nach diesem Knick in der Lebensgeschichte. Und mit ihr freuten sich Eltern und Großeltern und Marko Daubitz und Thomas Eilers.

Die beiden Letztgenannten kommen aus dem BTZ Leipzig. Marko Daubitz ist dort Fachbereichsleiter, verantwortlich, dass u.a. die BvB-Maßnahme ins Laufen kam und Beobachter, Steuerer des gesamten Prozesses im ersten Jahr. Er hat das Konzept mit seinem Team erarbeitet. Und Thomas Eilers war der Bildungsbegleiter. Auch für ihn war es Neuland, lohnendes Neuland. Denn er bekam und bekommt so viel von den jungen Leuten zurück. Sein Respekt ihnen gegenüber ist es, der Vertrauen schafft. Und so ziehen alle an einem Strang, ganz individuell, aber mit einem Ziel: Hauptschulabschluss.

„Es ist eine spannende Aufgabe“, sagt Marko Daubitz zu dem Konzept. „In 11 Monaten müssen wir es gemeinsam schaffen. Eine Herausforderung für mein Team und für jeden von den Schülern und für das Umfeld der Jugendlichen. Es bleibt bei der kurzen Zeit unabdingbar, dass Vieles zu Hause erledigt werden muss.“ Diese Motivation haben die Leute um Marko Daubitz bei den Teilnehmern entwickelt. Es war eine ernsthafte Angelegenheit: Die Prüfungen wurden durch das Leipziger Schulamt und an einer unabhängigen Schule abgenommen. Also, ganz „normale“ Bedingungen.

„Die konnten wir hier schaffen“, weiß Thomas Eilers zu berichten. „Wir gehen mit viel Verständnis auf die jungen Menschen zu. Wenn einer mal einen schlechten Tag hatte, dann kann man mal auch etwas langsamer machen.“ Das heißt aber: dranbleiben, beobachten, auf jeden einzeln eingehen.

Und dann philosophiert Marko Daubitz: „Die BvB-Maßnahme kann ein neues Schulmodell sein. Alle, die hier waren und sind, hatten Probleme in der Schule. Mit ein bisschen mehr Menschlichkeit und kleineren Klassenstärken erreicht man die Schüler, motiviert sie.“ Für die Acht im BTZ Leipzig wurde ein guter Weg gefunden. Mittlerweile sind alle in einer Ausbildung. Die nennt sich am BTZ Leipzig IngE – Inklusionsgestützte Erstausbildung. Sie setzt da an, wo die BvB-Maßnahme die Jugendlichen in ihre Zukunft entlassen hat. „Diese Kombination von BvB und IngE ist etwas für junge Leute, die aus dem System rausgefallen sind. Wir fangen sie auf und die Schüler nehmen es an. Sie gehen mit neuer Energie an die Aufgaben ran und schaffen ihre Abschlüsse“, resümiert Marko Daubitz.

Und Sarah? Sie ist jetzt auch in der IngE-Ausbildung. Den Berufs- und Lebenswunsch erfüllen: Kauffrau im Einzelhandel. Lust darauf hat sie. Ein Praxisbetrieb steht auch schon fest: Ein Ladengeschäft in Leipzig. Den kennt sie schon von der Berufsorientierung während der BvB-Maßnahme. Und so steht für Sarah im Rückblick auf die Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme und dem Vorausblick auf die Zukunft während ihrer Inklusionsgestützten Erstausbildung fest: „Wenn man die Chance bekommt, muss man es wollen. Und dann klappt es.“

Kann es wirklich klappen? In diesen Einzelfällen, wir sprechen hier von zehn bis fünfzehn Jugendlichen pro Schuljahr in einer Stadt mit fast 600 Tausend Einwohnern, gelingt es. Ein Modellversuch – Eingehen auf die individuellen Lernfähigkeiten der jungen Menschen. Es ließe sich leicht auf das ganze Bildungssystem der Bundesrepublik anwenden. Im Weg stehen der starre Föderalismus, die vorgeschobenen Geldzwänge der Länder, Schulen zu modernisieren und technisch auf den neuesten Stand zu bringen, mehr qualifizierte, motivierte und interessierte Lehrer auszubilden und einzustellen. Allzu oft ist der Lehrerberuf auch eine letzte Chance, nach dem Gymnasium selbst mit schlechten Abschlüssen über ein Studium zu beginnen.

Schule soll auf das Leben vorbereiten, ja auch Spaß machen. Mit der richtigen Motivation, wie das Beispiel zeigt, kann es gelingen. Es braucht nur den Mut dazu. Politik, Wissenschaft, Elternhaus und Schule sind in der Pflicht, gemeinsam zu handeln

1https://www.welt.de/welt_print/article1616646/Viele-Schueler-haben-psychische-Probleme.html

Weitere Links: www.btz-leipzig.de

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