Am Ende verklingt eine Halbkadenz im Dunkeln, die Tonika fällt aus: keine Erlösung, kein Entrinnen. Aber: „Never stop imagining“, das hat Damian Rebgetz soeben noch gesungen. Gemeinsam mit Moritz Gottwald hat er an diesem Abend Robert verkörpert – im wahrsten Sinne des Wortes, denn mehr als Körper ist von dieser Figur nicht übrig, nachdem ihre Erinnerungen entfernt wurden.
Ahnungs- und orientierungslos war er, waren sie, gespalten, gut eineinviertel Stunden zuvor erwacht. Eben erklang noch ein Lied über den Krieg – „War sings. (Come along and sing with it.)“ –, nun ist alles fort. Mit den Erinnerungen verschwinden auch die Wunden der Vergangenheit.
Yael Ronen und Shlomi Shabans Protagonist sucht Erinnerungen
Das sind die
ungenDas sind die Eckpunkte von Bucket List, dem neuen Musiktheaterstück von Regisseurin Yael Ronen und Komponist Shlomi Shaban an der Berliner Schaubühne. Es ist ein gelungener Abend der Ambivalenzen. Die Musik ist broadwayhaft, die düstere, melancholische, bissig-ironische Inszenierung steht dazu in gelungenem Kontrast.Neben Gottwald und Rebgetz stehen Carolin Haupt und Ruth Rosenfeld auf der Bühne. Ihre schlichten schwarz-grauen Kostüme funktionieren wie eine Art Negativ-Leinwand: Immer wieder greifen sie einige der von der Decke herabgefallenen weißen Kleidungsstücke auf, ziehen sie an, projizieren Rollen auf sich.Die weißen Kleider stehen dabei auch für jene Erinnerungsfetzen, denen Robert nach seiner Behandlung – einer Mischung aus „mindfulness and lobotomy“ – ausgesetzt ist. Denn, so verkünden es ihm seine weiß bekittelten Behandler: Die Konstruktion einer neuen Vergangenheit brauche etwas Zeit, und so lange müsse er durch Erinnerungsfetzen stolpern, die möglicherweise nicht einmal seine eigenen sind.Es folgen Szenen eines Lebens, das das von Robert sein kann, aber auch das von Clara (Carolin Haupt) ist: die Demütigung beim Ballettunterricht, das Zerbrechen einer Beziehung, die Heimsuchung durch die verstorbene Geliebte. Und schließlich: die Trennung von der Realität, die einen einholt wie eine toxische Beziehung, musikalisch grandios gestaltet mit einem Tango.„Bucket List“ ist auch ein Stück TrauerarbeitDoch all dem will das behandelnde Unternehmen „Zeitgeist“ ein Ende setzen. In einer der stärksten Szenen besingt Rosenfeld dieses Start-up wie für einen Investorenpitch: Der Markt für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen boome, da komme ihre Methode genau richtig: „They say history is written by winners. / With ‚Zeitgeist‘ every loser gets to rewrite history!“ Und zwar „inspired by some of the happiest biographies known to mankind!“. Max Frischs Diktum, wonach sich jeder früher oder später eine Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält, kehrt hier als kapitalistische Farce zurück.Nicht nur hierdurch wird der Abend ein politischer. Es geht schon vor der Schaubühne los, wo ein paar Personen Flyer gegen Israels Selbstverteidigung in Gaza verteilen, und setzt sich fort durch die dezente Anwesenheit eines Sicherheitsdienstes – eine bittere Notwendigkeit, wenn ein Großteil des Teams israelisch ist. Als Ende Oktober das Maxim-Gorki-Theater in Berlin Ronens Stück The Situation, eine Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt, bis auf Weiteres absagte, hatte sie mitgeteilt, sie brauche „einen Moment Zeit, um zu zerbrechen, mich aufzulösen. Trauer und Wut zuzulassen.“ Es ist unmöglich, Bucket List, dieses Protokoll einer Auflösung und versuchten Rekonstruktion, diesen Kampf mit den Zumutungen der Realität, nicht als Ausdruck dieser Trauerarbeit zu verstehen.Placeholder infobox-1