Dieser Sommer

Flüchtlinge Dieser Sommer war voller trauriger Nachrichten von Tod, Hass und Gewalt - aber er hat den Menschen auch gezeigt, was es heißt, Mensch zu sein.

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Dieser Sommer war heiß, angeblich der zweitheißeste seit Beginn der Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert. Doch in Erinnerung bleiben wird der Sommer 2015 aus anderen Gründen. Es war ein Sommer der Gewalt, des Terrors und unerträglicher Aussagen von RegierungspolitikerInnen (ganz zu schweigen von allen, die noch weiter rechts stehen). Seit Wochen reißen sie nicht ab, die Nachrichten vom Massengrab Mittelmeer, brennenden Flüchtlingsheimen, angegriffenen Jugendlichen, angespuckten Kindern, Anschlägen auf HelferInnen. Man führe sich das mal vor Augen: Menschen lassen Heimat und Familie zurück, um der Hölle auf Erden, Bürgerkrieg und/oder Armut, zu entfliehen, legen Tausende Kilometer unter widrigsten Umständen und Lebensgefahr zurück, werden immer wieder in Lager gesteckt, wie Kriminelle behandelt und wenn sie es ins reiche Deutschland geschafft haben, versagt nicht nur die ach so ordentliche und effiziente deutsche Bürokratie, nein, sie werden auf offener Straße angefeindet, angegriffen und mit Hitlergrüßen begrüßt – und wer ihnen hilft, wird mit dem Tod bedroht.

Dieser Sommer war ekelhaft. Er hat das unmenschliche Gesicht der EU (ja, die mit dem Friedensnobelpreis) gezeigt, hat den Rechtsruck der (irgendwann im 19. Jahrhundert mal linken) Volksparteien (Siggi-Pop) und die Idiotie von Konservativen (Seehofer, Hermann, de Maizière, diese Liste kann man wirklich ins Unendliche weiterführen) offenbart. Er hat gezeigt, dass Rassismus kein Randphänomen ist, dass Neonazis ihrem Hass freien Lauf lassen können – und „normale“ Menschen applaudieren. Der Rassismus wurde zuerst verharmlost („Asylkritiker“, „besorgte Bürger“) und als das so pervers wurde, dass man befürchten musste, dass die Umfragewerte dann doch irgendwann mal sinken (Merkel) oder die Auflage leidet (BILD), hat man sich verbal auf die Seite derer gestellt, die schon seit Langem das Richtige sagen: Refugees welcome! Das heißt natürlich nicht, dass man Abschottungs- und Abschiebepolitik revidiert, nein, man folgt dem Merkel-Prinzip: Einfach ein bisschen streicheln, dann wird schon alles wieder gut. Dieser Sommer war insofern hoffentlich das Widerwärtigste, was meine Generation in diesem Land erleben muss.

Dieser Sommer war aber auch ein Sommer der Menschlichkeit, der Solidarität. Überall Spendenannahmestopps, weil niemand die vielen Sachspenden der Menschen verwalten konnte. Da gab es kleine Geschichten wie die von dem Taxifahrer, der eine Kundin nicht bezahlen lässt, weil sie vom Supermarkt direkt zum Flüchtlingsheim fährt. Menschen, die nach Osteuropa fahren und die dort gestrandeten Menschen nach Deutschland schmuggeln. Ja, selbst die sonst so verhasste Polizei, die zuerst noch durch Misshandlungen von Flüchtlingen auffiel, konnte sich endlich mal wieder ein netteres Bild verpassen (wobei nie vergessen werden wird, wie glimpflich sie die Nazis davonkommen lassen hat). Und während in Mazedonien das Militär aufmarschierte, um die Grenze „zu sichern“, das heißt abzuschotten, rückte in Deutschland die Bundeswehr an und baute Notunterkünfte. Hilfsorganisationen stießen an ihre Grenzen, Menschen haben sich regelrecht aufgeopfert – für andere Menschen, die sie nicht kennen, die sie nie zuvor gesehen haben, deren Sprache sie nicht verstehen. Das ist Solidarität.

Ich war in diesem Sommer 2015 immer wieder den Tränen nahe, insbesondere, wenn ich Nachrichten las. Zu Beginn war ich verzweifelt, weil man die Griechen und Griechinnen in die Armut treibt, dann zutiefst erschüttert, weil man die Menschen aus den Regionen der Welt, die in Krieg und Armut versinken, mit Gewalt von einem besseren Leben abhalten will. Doch seit ein paar Wochen sind es immer wieder schöne, bewegende Geschichten, die mich berühren.

Dieser Sommer hat eben nicht nur gezeigt, dass Deutschland nach wie vor scheiße ist, sondern auch, dass die Menschen wundervoll sein können. Doch als ich mich schon freuen wollte, mischte sich sofort wieder ein seltsamer Unterton zu den Nachrichten von Hilfsbereitschaft: Wir könnten deswegen stolz auf Deutschland sein. Wie bitte? Was hat denn Solidarität, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit mit Deutschland zu tun? Klar, den Medien und PolitikerInnen, die sich plötzlich menschlich anmalen, geht es einzig und allein darum, das „Ansehen Deutschlands in der Welt“ wiederherzustellen – schließlich könnte sonst der Export leiden. Aber mit Menschen, die Karriere in einer Regierung machen, kann man sowieso selten über Menschlichkeit reden. Die anderen, die Menschen, die spenden, mithelfen, aufnehmen – tut ihr das, weil ihr Deutsche seid, oder weil ihr Menschen seid? Wollt ihr euch auf das Gleiche berufen, wie die abstoßenden Zeitgenossen, die Hass und Gewalt säen? Die sind nämlich Deutschland, das ist der Nationalstaat, das ist das Teilkollektiv, das sich abschottet und andere Menschen ausschließt. Deutschland wird siegen, wenn wir Deutsche sind. Die Menschlichkeit wird siegen, wenn wir Menschen sind.

Dieser Sommer hat gezeigt, dass eine Alternative möglich ist. Staat und Politik lassen die Menschen alleine, dämmen Hass nicht ein – und die Menschen machen es einfach selbst. Wir sind stark, wenn wir solidarisch sind, wir brauchen niemanden, der von Humanität und gleichzeitig vom „Asylmissbrauch“ schwadroniert, diese Leute gehören nicht zu uns. Wir sind nicht das Volk, wir sind die Menschen.

Trotz aller erschütternder Nachrichten kann dieser Sommer also auch eine gute Folge haben: Die Menschen könnten gelernt haben, dass sie stark sind, dass die Alternative von unten kommen kann und muss. Dass wählen nichts hilft, wenn der Handlungsdruck steigt. Dass Menschlichkeit nicht im Parteibuch steht – sondern im Menschen. Refugees welcome!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

Leander F. Badura

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