Tag 1: Ohne Angst verschieden sein

kritische Theorie Die Konferenz „Eine Erinnerung an die Zukunft“ suchte Anfang Dezember nach Analysen und Auswegen aus der „Gewalt des Bestehenden“. Teil 1 eines subjektiven Protokolls

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Die globale Kulturindustrie hat nach Claussen drei Fragen zu beantworten: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wer ist schuld?
Die globale Kulturindustrie hat nach Claussen drei Fragen zu beantworten: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wer ist schuld?

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Erster von drei Teilen eines subjektiven Protokolls zur Konferenz "Kritische Theorie – Eine Erinnerung an die Zukunft", die vom 29.11.-1.12.13. an der HU in Berlin stattfand (Programm).

Tag 2: "Ich halt's nicht mehr aus!"
Tag 3: Immer radikal, nie konsequent

Hunderte Zuhörer_innen, die meisten etwa Mitte Zwanzig, quetschen sich in die Stuhlreihen, suchen dann einen Sitzplatz auf dem Boden, den Fensterbänken, drängen sich in den Ausgängen – der „Kinosal“ der Humboldt-Universität mit seinen 600 Plätzen ist einfach nicht groß genug für das Bedürfnis nach kritischer Theorie.

"Eine Erinnerung an die Zukunft" heißt die Konferenz, die vom 29.11. bis zum 1.12. in Berlin stattfand (Programm). Vorträge, Podien, Workshops und Kunst-Einlagen sollten Analysen und Auswege über und aus der „Gewalt des Bestehenden“ (ein bisschen Jargon muss einfach sein, auch in diesem Text) aufzeigen. Gerade einmal vier Wochen ist es her, da fand an der Freien Universität die völlig überbuchte Konferenz "Ohnmächtige Sehnsucht – Zum Verlust utopischen Denkens in der Spätmoderne" statt. Der Wunsch nach Welterklärung, die Suche nach Veränderungsspielräumen, scheint so groß und drängend wie lange nicht.

Und, um das gleicht vorwegzunehmen, es wurde nicht nur enttäuscht, Enttäuschung gehört immer dazu. Man muss sich nach der „Erinnerung an die Zukunft“ schon fragen, ob die kritische Theorie dafür überhaupt die richtige Ansprechpartnerin ist. Zumindest ist sie es nicht in der Form, in der sie über weite Strecken an jenem Wochenende in Berlin vorgetragen und vorgelebt wurde. Ich habe eine Weile überlegt, wie ich darüber so spät noch etwas schreiben soll und will. Weil dann doch so viele Facebook-Freund_innen Interesse bekundeten (über die Bedeutung der „virtuellen Gemeinschaft“ mehr an Tag 3), mache ich das jetzt in der Form eines subjektiven Protokolls zu allen drei Konferenztagen. Vielleicht wird ja so am deutlichsten, was mich und viele andere so genervt haben. Deutlicher als beim Nachhören der einzelnen Panels, die in den nächsten Wochen online gehen sollen.

tl;dr: white boys reasuring their categories, still talking about the possibility of a revolution, unterhalb der man über nichts reden muss, außer vielleicht über die iranische bombe, auf keinen fall aber über den feminismus.

Am Freitag um kurz nach 15 ploppt die erste Bierflasche im Nebenraum, in den der Eröffnungsvortrag von Detlev Claussen wegen großen Andrangs übertragen wird. Es sollte die einzige bleiben, die ich an diesem Wochenende gesehen habe. (beim „ums-Ganze“-Kongress gehörte das Ploppen der Bierflaschen zum Ambiente der abendlichen Podien, ebenso wie die „dich versteht kein Arbeiter!“-Zwischenrufe). Claussen verwirft in seinem Vortrag (hier zum Nachlesen) zunächst das Bild EINER "Kritischen Theorie" und DER "Frankfurter Schule". Das seien Medienlabels und Begriffe von Jürgen Habermas, benutzt um Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" als finstere Phase des Frankfurter Instituts zu historisieren und hinter sich zu lassen.

Theorie in Zeiten der Begriffslosigkeit

Claussen spricht stattdessen von "kritischer Theorie" (mit kleinem "k"). Diese habe sich immer als Avantgarde, als "absolut modern" verstanden, sie grenzte sich von der bürgerlichen Weltauffassung, sowie von ihrer sozialdemokratischen oder kommunistischen Negation ab. Die Zeit dieser kritischen Theorie sei die des kurzen 20. Jahrhunderts gewesen, von der Oktoberrevolution 1918 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1989. Diese kT habe ihre Hochphase nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt, als nach Auschwitz und dem Archipel Gulag niemand mehr von einer geschichtlichen "List der Vernunft" sprechen konnte.

Und heute? Claussen fragt, wovon sich eine kT heute abgrenzen kann, in einer Zeit, die nicht einmal einen Begriff von sich selber hat. Ständig ploppten neue Begriffe in der Öffentlichkeit auf, ohne dass irgendjemand wisse, was unter ihnen zu verstehen sei: "Globalisierung", "Wissensgesellschaft", "Risikogesellschaft", ja selbst der Begriff "Ideologie" sei heute so in die Alltagssprache übergegangen, dass Claussen die Ideologiekritik gleich mit-entsorgen will. Die Arbeit am Begriff sei schließlich der Motor jeder kritischen Theorie gewesen – aber in welche Begriffe solle sie sich heute reinversenken, um ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnen zu können?

Mit der Integrationskeule die Menschen erschlagen

Klar ist für Claussen, dass der Bedarf an einer kritischen Theorie nichts eingebüßt hat. Die Überwachungspraxis der NSA zeige derzeit anschaulich, was es mit der "verwalteten Welt" heute auf sich hat. Gleichzeitig gehe in der Welt der Völkermord ungehindert weiter, wie man derzeit in Syrien sehen könne. Währenddessen haben die Gesellschaften „Integration“ als wichtigste Aufgabe ihrer Politik entdeckt, Deutschland erschlage mit seiner Identitätskeule alle Menschen und berufe sich dabei auf eine „christlich Jüdische Tradition“ – als seien 1000 Jahre Antisemitismus nicht genug.

Wir alle, so Claussen, machen uns dabei mitschuldig an Verhältnissen, die ein Siebtel der Menschheit verhungern und verdursten lassen, mit jedem Stück Brot, das wir essen und mit jedem Schluck Wasser, den wir trinken (Claussen trinkt einen Schluck Wasser). Und die überflüssigen Menschen werden täglich mehr. Es ist diese Mit-Schuld, die nach Claussen zur Philosophie zwingt und nach einer kritischen Theorie verlangt, die ihre Zeit in Gedanken fassen will. Bleibt nur die Frage: Welche Begriffe eignen sich dazu?

Die globale Alltagsreligion

Seit 1989 und der sich entwickelnden internationalen Arbeitsteilung leben wir in einer Zeit ohne Bürgertum, so Claussen. Von den bürgerlichen Idealen sei nichts mehr übrig, die viel beschworene „Freiheit“ nicht mehr als der Wunsch nach nationaler Souveränität. Die nationale Identität sei zur realen Fiktion geworden, die Menschen glaubten an sie. Es gäbe damit kein „falsches Bewusstsein“ mehr, Ideologiekritik sei obsolet. Das Vakuum zwischen den Menschen sei so groß geworden, dass es keine Ideologie mehr kitten könne.

Die Menschen verbinde stattdessen eine globale „Alltagsreligion“, eine globale Kulturindustrie, die das individuelle Bedürfnis bedienen solle, auf unterhaltsame Weise informiert zu werden, um mitreden zu können und nicht der Dumme zu sein. Diese massenmediale Alltagsreligion habe längst die bürgerliche Hochkultur vereinnahmt, auch die kritische Theorie stehe da nicht drüber oder außerhalb. Aber sie könne und müsse versuchen, die Artefakte und Fundamentalismen dieser Alltagsreligion zu kritisieren.

"Das Schicksal der Welt wird in Amerika entschieden"

Die Alltagsreligion ist nach Claussen Folge einer missglückten Säkularisierung, Folge des Wegbrechens von Sinn nach den Katastrophen des kurzen 20. Jahrhunderts. Dieses Sinn-Vakuum müsse die Alltagsreligion füllen. Sie sei ein Sammelsurium verschiedenster Ideologeme und Widersprüche, notwendigerweise wild zusammengewürfelt, um die Welt erklären und in ihr irgendwie handlungsfähig bleiben zu können.

Die Fragen, die diese Alltagsreligion zu beantworten habe lauten – wie Claussen in der Diskussion ausführte: Wer sind wir? Woher kommen wir? Und: Wer ist schuld? Claussen fand diese drei Fragen in den 90er Jahren in einer russischen Boulevard-Zeitung und hält sie seitdem charakteristisch für die stetig erfolgende Identitätsbildung.

Ebenso wichtig wie die Analyse der Alltagsreligion bleibe die Untersuchung der USA, dem Land, in dem der Kapitalismus am weitesten fortgeschritten sei. „Das Schicksal der Welt wird in Amerika entschieden“, sagt Claussen. Die USA seien zugleich DAS Beispiel für gesellschaftliche Heterogenität.

Die konkrete Utopie Adornos

Auch wenn Begriffe wie „Diversity“ längst vom Marketing entdeckt worden seien, in ihm, wie in der Idee des „Melting Pots“, komme am ehesten zum Ausdruck, was es bedeuten könnte, „ohne Angst verschieden sein zu können“, wie es Adorno einst formuliert habe. Diese „konkrete Verschiedenheit leben“ – das ist für Claussen die konkrete Utopie der kritischen Theorie heute. Ob diese konkrete Utopie eine Chance hat, werde man als erstes in den USA beobachten können.

Die USA, so Claussen weiter, befinden sich längst in einer legitimatorischen Krise, wie der „war on terror“ zeigt. Die unmittelbare Reaktion auf 9/11, der Krieg gegen Afghanistan, seien zwar noch nachvollziehbar gewesen. Aber die ausgeweitete Angenda des Regime-Change und einer Folterpraxis mit internationaler Arbeitsteilung habe die, in deren Namen dieser „war on terror“ ausgeführt wird, schwer beschädigt.

Die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"

Claussen schlägt noch ein Theorem vor, mit dem man sich der globalen Unübersichtlichkeit annähern könnte: Ernst Blochs „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Claussen meint damit das Nebeneinander von Krieg und Frieden in verschiedenen Regionen der Welt, die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen mit Arbeit und Tausch, Autorität und Gewalt. Der Austausch und der Vergleich dieser Erfahrungen sei heute besonders wichtig.

Die Ordnung des Materials und die Bewertung durch die Theorie werde dabei immer schwieriger. Denn die „globale Gleichzeitigkeit“ verändere auch die Wahrnehmung und die Perspektiven von Gesellschaften. Sie verändere auch die Universitäten, deren neue Anforderungen kritische nahezu unmöglich machen – „ich habe das ja versucht in Hannover, das geht nicht“. Dennoch sei das Bedürfnis, die Welt zu interpretieren, heute so groß wie nie.

Bloß keine Metakritik

Es gibt viel Beifall für Claussens Einstieg in die Konferenz, der mit dem an Gramsci erinnernden Konzept einer widersprüchlich zusammengewürfelten Alltagsreligion einen Weg skizzierte, wie man die heutige globalisierte Kulturindustrie beschreiben könnte: als permanenten Versuch, durch Feindbilder die eigene Überflüssigkeit und Ohnmacht zu kompensieren. Ein Versuch, der sich immer auch in Hass und Gewalt entladen kann. Gesellschaftlichen Zusammenhalt hat früher die Religion, später die Philosophie und dann der Fußball gestiftet, wie Horkheimer schon gesagt hat.

Zu allen Punkten würde man gerne mehr erfahren, wissen, was das heute konkret bedeutet. Dementsprechend voll geht es auf dem ersten Podium der Konferenz weiter – „materialistische Gesellschaftskritik unter veränderten Bedingungen“. Leider hatten zwei Teilnehmer_innen abgesagt, so dass neben Moderator Sebastian Tränkle nur Clemens Nachtmann und Micha Böhme Platz nehmen. Tränkle stellte in seinem Vorwort sogleich klar, dass auf diesem Podium nicht beantwortet wird, wie man denn heute etwas zu kritisieren habe. Kritische Theorie betreibe schließlich keine „Metakritik“, sondern entwickele sich immer entlang eines konkreten Gegenstands.

Bloß keine Leitartikel

Böhme stellt in ihrem Eingangsstatement dennoch die Frage, wie man heute überhaupt Kritik üben sollte und präsentiert ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Ziemlich ungeeignet ist für sie die Form des journalistischen Leitartikels, indem ohne viel Ahnung von einem konkreten Gegenstand sämtliche Begriffe ineinander geworfen werden und über ein bestimmtes Thema hinweg-kommentiert wird. Als Beispiel nennt sie zwei Texte aus der Jungle-World (Jörn Schulz und Bernhard Schmid über Syrien, Krieg, Friedensbewegung, Antikrieg, etc.), in denen nach dem Muster „Hauptsache Debatte“ zwei Texte nebeneinandergestellt worden seien, die ihrem Vorhaben einer konkreten Kritik nicht im Ansatz gerecht werden könnten. Die Frage, wie überhaupt aus nachrichtlichen Fakten Kritik werden kann, lässt Böhme offen.

Nachtmann stellt wie Tränkle noch einmal klar, dass Theorie kein bestimmter Filter sein kann, den man der Wahrnehmung von Wirklichkeit voranstellt. Als konkreten Analyse-Gegenstand hatte er sich das Konferenz-Programm selbst ausgesucht. In dessen aufgeblasenen Ankündigungen zu den konferenzeigenen Kunsteinlagen sieht er den besten Weg, jede unvoreingenommene Erfahrung von vornerein unmöglich zu machen.

Passivität und Evidenzerlebnisse

Nachtmann rät diesbezüglich auch von der Lektüre Adornos ab, durch die der eigene Blick erst recht verstellt werde. Der beste Gegenwartsphilosoph sei dagegen Gerhard Polt, der sich den Objekten ohne kritische oder sonstige Demaskierungs-Absichten ganz hingebe und nur so erzählen könne, was sie zu sagen hätten.

Das erfordere zunächst eine Passivität des Subjekts, die Fähigkeit, der eigenen Ohnmacht ins Auge zu sehen, sich von ihr aber nicht dumm machen zu lassen, sondern in der geduldigen Hinwendung zur Sache produktiv werden zu lassen. Diese Passivität sei gerade in Bezug auf den gesellschaftlichen Zwang zur Aktivität und Individualisierung notwendig, der die eigene Unterwerfung stetig in neuer politischer Pseudoaktivität festschreibe.

Nachtmann endet mit einem kleinen Rant gegen die Postmoderne im allgemeinen und den Feminismus im besonderen. Letzterer habe doch in seiner Geschichte auch nur dazu beigetragen, dass sich das doofe Ganze stetig reformiert habe. Insofern bleibe dem kritischen Passivitäts-Theoretiker nicht viel mehr übrig, als auf bestimmte „Evidenzmomente“ zu setzen, Momente, in denen das Subjekt aus seiner Hingabe ans Objekt irgendeinen Funken Erkenntnis schlägt.

Die Feinde: Postmoderne und Feminismus

Diese Evidenzmomente könnten in der Kunst entstehen, aber auch beim Lesen eines Textes, während Begegnungen etc. Es seien Erlebnisse, die einen das Leben lang prägen werden und viel wichtiger sind als jede theoretische Rationalisierung. Die folge immer erst im Nachhinein. Es sei also nicht die „Totalität“, der man sich als kritischer Theoretiker widmen soll, sondern den kleinen, konkreten Erfahrungen.

Wieso diese Evidenzmomente allerdings Nachtmann zufolge ausschließlich im Feld der Musik- und Kunsttheorie zu verorten sind und die täglichen Ohnmachtserlebnisse gesellschaftlich diskriminierter Menschen ausschließen, deren politische Kämpfe er generell als systemerhaltend abtut in Verhältnissen, „die sind wie sie eben sind“ – das bestätigt dann doch wieder das Bild einer elitären Theorie, die ihren Impuls „die Welt unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit zu beschreiben“ (Claussen) aufgegeben hat.

"Was hat das mit uns zu tun?"

Entsprechend konfrontativ die Wortmeldungen in der Diskussion: Was jetzt daran anders als 1950 sei, ob Nachtmann auch zeigen könne, was man denn nun konkret aus welchen Erfahrungen lernen könne, ob es neben der 12-Ton Musik nicht auch andere Evidenz-Erfahrungen gebe, denen man sich widmen müsste – zum Beispiel den stetig reproduzierten Ohnmachtserfahrungen von Frauen im Patriarchat.

Und dieser doofe Post-Strukturalismus, das sei nun mal das, was es hier an der Uni gebe, sagte eine Studentin, wieso finden sich keine kritischen Theoretiker_innen, die zu jenen Themen etwas sagen, die heute Student_innen beschäftigen – wie Post-Colonial oder Gender Studies – muss man da immer noch Adorno und Horkheimer lesen?

Eine Bekannte von mir fragte sich enttäuscht, was denn das Politische an der kritischen Theorie sei. Es ging da doch mal um Kapitalismuskritik und so. An diesem ersten Abend eher nicht.

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