Technik als Ausrede für Werteverfall

Briefgeheimnis? Es war verboten, Briefe oder Postkarten zu lesen, egal mit welchen Mitteln. Heute muss angeblich jede moderne Technik gesperrt werden? #31c3

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Still und heimlich hat sich mit dem technischen Wandel ein gravierender Wertewandel eingestellt. So galt ca. 300 Jahre lang, in einigermaßen rechtsstaatlich organisierten westlichen Gesellschaften, die Regel, dass man Briefe nicht lesen durfte. Dabei war egal, mit welchem Mittel man sich Zugang zu den Texten verschaffte. Ob durch Wasserdampf geöffnete Umschläge, oder durch Umdrehen gelesene Postkarten. Auch das Auslesen mit Röntgengeräten war verboten. Weil auch das war LESEN.

Beim Telefonieren galt das Gleiche. Egal ob die Vermittlung sich quasi legal dazu schaltete, oder ob sich jemand an die Leitung angeclipt hatte, er durfte nicht zuhören, was da so geredet wurde.

Nun ersetzen digitale Briefe die alten analog gedruckten, und Drahtlos-Telefone ersetzen die gute alte Kupferleitung. Und plötzlich gilt nicht mehr, was Jahrhunderte lang Konsens war. Die Verfolgung und Bestrafung des illegalen Mitlesens oder Abhörens steht nicht mehr im Vordergrund der Diskussion. Stillschweigend hat die Gesellschaft akzeptiert, dass, was technisch machbar ist, auch gemacht wird. Nunmehr wird versucht, durch eine Spirale der technischen Aufrüstung, die über Jahrhunderte existierende moralisch ethische Verpflichtung zu ersetzen. Das hat nur einen Nachteil: Der einzelne Mensch in dem System wird immer im Nachteil sein. Aber das scheint gerade das Ziel zu sein.

Das Brief- und Telefongeheimnis war einmal zu Zeiten autoritärer Herrschaftssysteme erkämpft worden, um dem Einzelnen eine Privatsphäre zu verschaffen, die ihn vor der Willkür der Herrschenden schützt. Dabei war zum Zeitpunkt der Einführung dieser Bürgerrechte, technisch gar nicht die Möglichkeit gegeben, dass die Herrschenden eine breite und allgemeine Kontrolle von Briefen und Telefonaten einrichteten.

Nun hat sich das geändert. D.h. technisch ist es heute möglich, alle „Briefe“ und alle „Telefongespräche“ vollumfänglich abzuhören. Und prompt wird die Privatsphäre des Einzelnen ausgehebelt. Jahrhunderte alte Rechte werden uns in der Praxis genommen. Dieses, wie viele andere Rechte des Bürgers, sind inhaltsleer geworden.

Aber nicht nur das. Die Begründung dafür ist die, dass der Staat den einzelnen schützen muss. Eine doppelte Absurdität. Also der Nichtschutz der Privatsphäre bedeutet Schutz des Einzelnen. In Wirklichkeit geht es darum, den Staat vor den Bürgern zu schützen. Denn schon rein mathematisch ist der angebliche Schutz ein Witz. Die Abschaffung von Milliarden von Rechten, mit dem Ergebnis, vielleicht eine Person unter einer Milliarde pro Jahr geschützt zu haben, widerspricht jeder Vernunft. Insbesondere wenn man gleichzeitig mit Drohnen „Terroristen“ mordet, und in Kauf nimmt, dass auf einen, der nie von einem Gericht verurteilten „Bösen“, über 20 Unschuldige, sterben müssen. Und ja, auch Deutschland ist durch die stillschweigende Duldung der entsprechenden Einrichtungen der USA auf deutschem Boden, an Letzterem beteiligt und damit mitverantwortlich.

Nein, die Verdrehung der Bürgerrechte in ihr Gegenteil ist längst akzeptierter und zementierter gesellschaftlicher Konsens der breiten Mehrheit. Dabei wissen wir alle, dass der Verfassungsschutz mitnichten die Verfassung schützt, sondern die Regierenden. Ansonsten würde er nicht gewählte Oppositionspolitiker überwachen, sondern Verstöße gegen das Grundgesetz, die von der Regierung begangen werden. Und würde der „Verfassungsschutz“ wirklich das Grundgesetz schützen, gäbe es Gesetze, die Verstöße gegen das Grundgesetz durch die Regierenden unter Strafe stellt. Was nur in ganz seltenen Fällen umgesetzt wurde. Und selbst dort, wo solche Regelungen bestehen, werden sie nicht angewandt, weil es keine Gewaltenteilung in Deutschland gibt.

Aber ohne eine von der Exekutive vollkommen unabhängige Justiz, gibt es auch keinen Schutz der „Verfassung“ vor Verletzungen durch die Regierung.
Und wenn nun jemand erklärt, dass das Bundesverfassungsgericht doch oft genug Gesetze kippt, unterstützt er dadurch nur diese These. Denn wenn Verstöße gegen die Verfassung vom Verfassungsgericht festgestellt werden, also eine Regierung bewusst gegen das Grundgesetz verstößt (schließlich haben sie ja auch Rechtsanwälte, oder?) warum bleibt das unbestraft? Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, kann ich auch nicht sagen, ich wollte nur mal ausprobieren, ob Rot nicht vielleicht doch Grün ist.

Und dann kommt noch hinzu, dass sich das Verfassungsgericht im Laufe der Jahrzehnte zu einem Zweig der Politik entwickelt hat. Die Richter wurden durch die Politik entsprechend ge- und befördert, ihre Gehälter wurden von der Exekutive bezahlt, bis sie schließlich Verfassungsrichter wurden. Oder sie wechselten gleich von einem politischen Amt, z.B. als Chef einer Landesregierung, der selbst Gesetze eingeführt hat, in das Verfassungsgericht, um dann dort über solche Gesetze zu befinden.

Also das Problem ist NICHT die moderne Technik. Das Problem ist der Verlust von Moral und Ethik, und die Vernichtung der Demokratisierungsbemühungen, die in Deutschland nach dem Krieg durch einige ernsthaft bemühte Politiker begonnen worden war. Deshalb: Nicht auf Details einlassen, nicht über Technik diskutieren, und vor allen Dingen sich nicht gegeneinander aufhetzen lassen. Sondern an die Wurzeln gehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

LinksPazi

Unter dem Pseudonym Linkspazi bloggt Jochen Mitschka. Links, engagiert und gegen Heuchelei und Krieg. Statt Mainstream wiederholen, ihm antworten.

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