Freie Gesellschaft in der Krise

Coronavirus Als Reaktion auf die Pandemie werden immer lauter immer drastischere Maßnahmen gefordert. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, die sich als frei versteht?

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Die Telekom gibt anonymisierte Bewegungsdaten ihrer Kund*innen an das Robert-Koch-Institut weiter, die EU-Außengrenzen sind geschlossen, in Spanien wird das Einhalten der strikten Ausgangssperre mit Drohnen überwacht und in den Kommentarspalten diverser Medien wird auch für Deutschland vehement eine solche Ausgangssperre gefordert.

Sicherlich erfordern ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen und sicher ist es sinnvoll, die immer stärkere Ausbreitung des Coronavirus mit den zur Verfügung stehenden Mitteln einzudämmen. Inmitten all der Rufe nach Überwachung, Verboten und Co scheint sich der argumentativ-demokratische Diskurs jedoch immer weiter zu verabschieden. Drastische Maßnahmen, die dem Selbstbild einer freiheitlichen Gesellschaft diametral gegenüberstehen und vor wenigen Tagen noch ausschließlich mit diktatorischen Regimes in Verbindung gebracht wurden, werden mittlerweile von vielen Menschen als alternativlos eingefordert und ebenso beschlossen. Das jedoch ist kein rein politisches, sondern auch und vor allem ein gesellschaftliches Problem: Wer nun das Vorgehen mit harter Hand fordert und nach Verboten verlangt, wer nun die Überwachung seiner Mitmenschen fordert und auch, wer seine Sozialkontakte wider besseres Wissen erst einschränkt, wenn ihm dies gesetzlich abverlangt wird, drückt mit seinem Verhalten ein generelles Misstrauen einer freien Gesellschaftsordnung gegenüber aus. Er zeigt wahlweise Sympathie für autoritäre Herrschaftsweisen oder legt einen Untertanengeist an den Tag, der jede frei-vernunftbasierte Abwägung negiert.

In der derzeitigen Krise offenbart sich damit ein erschreckendes Bild: Die vermittelte Botschaft, die von all jenen, die nach Verboten und hartem Durchgreifen verlangen oder erst auf Anweisung zu handeln bereit sind, ausgeht, lautet, Freiheit und Selbstbestimmung seien zwar ganz nett, im Ernstfall aber doch keineswegs tragbar. Sie verlangen explizit oder implizit autoritäre Führung. Vor dem Hintergrund dieses Bildes steht zu befürchten, dass die Coronakrise auch in dieser Hinsicht bleibende Schäden hinterlassen wird.

Sie bietet die Chance, von vielen bisher für alternativlos gehaltene wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisationsformen zu überdenken. Sie bietet die Chance, die Arbeitsmentalität grundlegend zu verändern, eine gewisse Emanzipation vom Zwang zur fremdbestimmten, örtlich gebundenen und für alternativlos gehaltenen Arbeit zu erreichen. Sie bietet sogar die Chance, das Wirtschaftssystem ganz grundlegend zu hinterfragen und zu verändern. Mit ihr ist aber auch die Gefahr verbunden, die freie Gesellschaft aufzugeben und im Namen der Sicherheit Restriktion, Unfreiheit und Überwachung, die nun lautstark eingefordert werden, dauerhaft zu legitimieren.

Entgegentreten lässt sich dieser Gefahr nur, wenn einerseits der Diskurs auch in dieser Hinsicht nicht untergeht und andererseits die Menschen für vernünftiges Handeln nicht erst eine Anordnung voraussetzen, sondern selbstbestimmt dazu bereit sind. Mögliche Maßnahmen sollten nicht nur aus gesundheits- bzw. sicherheitspolitischer Sicht diskutiert werden, sondern auch vor dem Hintergrund ihres Symbolcharakters, ihrer gesellschaftlichen Tragweite und ihrer Folgen für ein System, das sich als frei, demokratisch und weitgehend auf individueller Selbstbestimmung basierend versteht.

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