Hebammen* Ein Hebammenkollektiv hilft queeren Menschen in Berlin bei Fragen rund um die Geburt und das Kinderkriegen. Über das Gebären als politischen Akt und einen dringend benötigten, geschützten Raum
Vanessa Böhm (links) und Cato Warm (rechts) vom Hebammen*kollektiv Cocoon
Foto: Diana Pfammatter für der Freitag
Es ist fast fünf Uhr in der Früh, als die Hebammen* die Wohnung der Gebärenden und ihrer Partnerin betreten. Der Geburtspool im Wohnzimmer ist bereits aufgebaut, das Licht ist gedämpft. Das Wasser, das die Wanne ausfüllen soll, läuft auch schon. Seit vier Stunden hat die schwangere Person kräftige Wehen, die ganze Nacht habe das Paar nicht geschlafen. Eine Hebamme* hört nach den Herztönen des Kindes im Bauch und ertastet mit den Händen die Position.
Die Kollegin dokumentiert es und kümmert sich um Dinge, die noch gebraucht werden: heißes Wasser, Tee, Handtücher. Ihre Partnerin spricht der Gebärenden gut zu und massiert sie. Langsam dämmert es draußen. Die Vögel zwitschern vor dem Fenster. Die Gebärende
#228;rende atmet ruhig. Später, auf dem Bett, beginnen die Wehen, die das Kind noch weiter ins Becken schieben.Ähnliche Szenen erleben die Hebammen* Cato Warm und Vanessa Böhm bei Hausgeburten oft. Welche Gender, sexuellen Orientierungen, Körper die Gebärenden und ihre Partner*innen haben, spielt für sie keine Rolle. Doch für Menschen, die sich dafür entscheiden, außerhalb der heteronormativen Familienmodelle ein Kind zu bekommen, sei es besonders wichtig, Hebammen* auf ihrer Seite zu haben, die ihre Situation verstehen. Sie bringen Ängste und Unsicherheiten mit, die mit Diskriminierungserfahrungen zu tun haben.Oft werden sie in Krankenhäusern und Kliniken „diskriminiert, pathologisiert und misgegendert“, sagt Cato Warm. Das Gesundheitssystem sei noch nicht sensibel genug für sie. Trotz guter Absichten brauche es noch viel Aufklärungsarbeit. „Auch wenn Ärzt*innen nichts Falsches machen wollen, bleiben sie trotzdem wie gelähmt, wenn eine trans Person in den Kreißsaal kommt“, sagt er.Ähnliche LebenserfahrungenQueere, nichtbinäre und trans Eltern freuen sich auch deshalb, von Hebammen* begleitet zu werden, die ähnliche Lebenserfahrungen machen oder zumindest ein Bewusstsein dafür haben. „Werdende Eltern sind in einer empfindlichen Phase, es ist nicht schön, permanent als etwas Exotisches behandelt zu werden“, sagt Vanessa Böhm.Deshalb steht auf der Webseite des Hebammen*kollektivs Cocoon auch: „Wir freuen uns, mit unterschiedlichen Menschen zu arbeiten, unabhängig von geschlechtlicher oder sexueller Identität oder Familienkonstellation.“ Seit 2019 gibt es das erste queerfeministische Hebammen*kollektiv in Berlin. Die Hebammen* begleiten werdende Eltern – vom Kinderwunsch über Schwangerschaft und Geburt bis hin zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes. Vanessa Böhm und Cato Warm sind Teil des fünfköpfigen Teams.Vanessa Böhm ist Anfang 30 und wollte schon als Kind Hebamme werden. „Ich konnte mir schon immer vorstellen, einen medizinischen Beruf auszuüben, wollte aber nicht permanent etwas mit Krankheit und Tod zu tun haben.“ Deswegen habe sie den Hebammen*beruf ausgesucht. Während der Schule machte Böhm ein Praktikum bei einer freiberuflichen Hebamme und fand das „cool“. Seit 2021 ist sie nun Teil des Teams bei Cocoon. „Die Arbeit als Hebamme* ist für mich ein Teil meiner feministischen Praxis, in der es um eine achtsame Begleitung und um die Stärkung der reproduktiven Rechte geht.“Cato Warm ist 40 Jahre alt. Nach einem Studium der Kommunikationswissenschaften, der Publizistik und Psychologie begann er 2009 eine Ausbildung zur Hebamme*. Auf die Idee sei Warm dank seiner eigenen Hebamme gekommen. „Sie hat mich total inspiriert. Ich dachte sofort, das will ich auch machen!“, erzählt er. Warm ist Elternteil von drei „wundervollen Menschen“. Bisher wolle keine*r von ihnen Hebamme* werden, erzählt er und lacht. Vor Cocoon hat er sechs Jahre freiberuflich gearbeitet und Beleggeburten in einer Berliner Klinik begleitet.Muskeln, Herzen und SkeletteDie Praxis in einem Neuköllner Hinterhof teilt sich das Kollektiv Cocoon mit einer Osteopathie-Praxis. Deswegen gibt es Bilder von Muskeln, Herzen und Skeletten an den Wänden. „Nicht so passend für eine Hebammen*praxis, oder?“ Sie lachen. Früher haben sie nur Hausgeburten angeboten. Die Anfragen wurden aber immer mehr, und sie brauchten eigene Räume. An einer anderen Wand hängt ein Bild, das die Geste für das Wort „Hebammen“ in Gebärdensprache zeigt.Das Geschenk eines gehörlosen Elternteils, erzählt Böhm. Sonnenstrahlen blitzen durch die Glastür, sie benutzt nach einem Unfall Krücken und läuft damit in die Küche, um Tee zu machen. Warm kommt später. Er hasse es, fotografiert zu werden, sagt er. Sie lachen und nehmen für das Fotoshooting ihre farblich passenden Mundschutzmasken in Lila und Pink, ab. Sie seien kamerascheu, erzählen sie noch, bevor die Fotografin auf den Auslöser drückt.Nicht sie als Personen sollen im Vordergrund stehen, sondern ihre Arbeit bei Cocoon. Als vier Hebammen* Cocoon 2019 gründeten, rechneten sie nicht damit, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch nicht damit, dass sie durch die große Öffentlichkeit andere Hebammen* inspirieren würden. „Das ist herausfordernd, aber wichtig“, meint Warm. Mittlerweile gebe es ein queerfeministisches Hebammen*kollektiv in Hamburg, ein weiteres in Köln sei im Aufbauprozess.Neben der Betreuung von vier bis fünf Hausgeburten pro Monat geben die Hebammen* des Kollektivs Geburtsvorbereitungskurse und Rückbildungskurse für Queers, hinzu kommen weitere Aktivitäten wie Beratungen zum Stillen, Co-Stillen und zu induzierter Laktation, der Anregung der Milchbildung bei Menschen, die selbst nicht schwanger waren. Und sie organisieren Workshops zur DIY-Insemination sowie Fortbildungen zur queersensiblen Geburtshilfe.Gebären als politischer Akt„Das machen wir gerne neben dem wirklichen Job, weil es uns am Herzen liegt, doch es ist zeitaufwendig“, sagt Warm. „Im Team ergänzen wir uns gut und passen aufeinander auf“, erzählt er. „Wir halten uns den Rücken frei und haben sogar eine gemeinsame Kasse.“Schwangere Personen haben Anspruch auf Hebammen*begleitung bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes. Die Kosten dafür werden von der Krankenversicherung übernommen. Weil aber bestimmte Workshops nicht von den Krankenkassen bezahlt werden und die Rufbereitschaft zur Begleitung der Hausgeburt nur teilweise von der Krankenkasse getragen wird, hat sich das Kollektiv ein solidarisches Modell überlegt.„Wir finden es nicht in Ordnung, dass die Wahl einer Hausgeburt davon abhängt“, sagt Böhm. Deshalb bieten sie eine solidarische Staffelung an. „Wenn jemand freiwillig für den Teil, den die Krankenkasse nicht übernimmt, den höchsten Preis zahlt, wären es für uns umgerechnet etwa 70 Cent pro Stunde. Beim niedrigsten Preis verdienen wir nur 30 Cent“, so Warm.Wenn die reduzierten Preise für jemanden unbezahlbar seien oder eine Person keine Krankenversicherung habe, werde eben eine andere Lösung gesucht und auch gefunden. „Wir können das Politische nicht von der Arbeit trennen“, sagt Böhm. „Wir sind gegen das Patriarchat, aber auch gegen den Kapitalismus, Rassismus. Auch deswegen haben wir das Kollektiv gegründet.“ Denn: „Wie wir leben, wollen wir auch arbeiten.“Entscheiden, wie über den Körper geredet wirdPolitisch sei die Arbeit auch im medizinischen Kontext: den Menschen als Menschen zu sehen und dementsprechend respektvoll zu behandeln. „Auch cis Menschen geben uns das Feedback, dass sie sich bei uns gesehen fühlen“, sagt Cato Warm. „Jeder und jede ist Expert*in für sich selbst“, davon ist er überzeugt. „Du kennst deinen Körper besser als ich. Ich kann mein medizinisches Wissen mitbringen, aber ich kann dich nicht davon überzeugen, einen Test zu machen, zum Beispiel. Die Entscheidungen liegen immer bei dir.“ Jede schwangere Person solle auch für sich entscheiden, wie über sie und ihren Körper geredet werde.Und das solle Respekt erfahren, ob in der Praxis, im Kreißsaal oder im Geburtshaus. Auf einer Karte hat das Kollektiv-Team – zusammen mit dem Kollektiv in Hamburg und dem Empowered Birth Movement, einem Verein, der kollektive Lösungen bei Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung von Müttern und Neugeborenen anbietet – die wichtigsten Punkte zusammengefasst, zu denen medizinisches Personal mit bestimmten Fragen Antworten bekommt. Zum Beispiel: Möchte die Person als „Mutter“ oder als Schwangerschaftsausträger*in bezeichnet werden?Welche Begriffe sollen für den eigenen Körper, für die Genitalien, den Uterus und die Brüste benutzt werden? Wenn eine begleitende Person dabei ist, wie soll sie genannt werden? Und das Baby, heißt es „Baby“ oder lieber „Kind“? Soll von Stillen oder von Spendenmilch die Rede sein? Wörter wie „Gebärmutter“ oder „Muttermilch“ seien nicht geschlechtsneutral. Sie seien noch von alten Bildern geprägt, die definieren, wie eine schwangere Person auszusehen hat, sagt Warm.Damit dieses Bild irgendwann alle Personen als mögliche Schwangere inkludiert, muss noch viel getan werden. Doch sowohl Böhm als auch Warm glauben, dass sich langsam, aber sicher etwas zum Guten verändert. Auch bei den Hebammen* sei heute mehr Bewusstsein und Sensibilität für die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu spüren als noch vor ein paar Jahren.Wenn das Hebammen*kollektiv einmal im Jahr zum Sommerfest einlädt und dabei alle bisher betreuten Kinder wiedersieht, weckt das in Vanessa Böhm und Cato Warm Hoffnung: Für die nächsten Generationen werden eine gerechte Geburt für alle und allgemein eine neue Idee von Familie doch selbstverständlicher sein.Placeholder infobox-1