Der Amokläufer von Winnenden hat seine Tat in einem Internet-Forum angekündigt, wurde aber nicht ernst genommen“, verlas Jens Riewa am gestrigen Donnerstag zu Beginn der Tagesschau um 20 Uhr. Und obwohl die Nachrichtensprecher der ARD natürlich der Inbegriff von Neutralität sind, hatte man das dumpfe Gefühl in diesem Satz etwas mitschwingen zu hören, das wie „Gott sei Dank, hätten wir das geklärt!“ klang: Internet. Diese Freaks. Und keiner tut was.
German Amok: Freitag-Autorin Ulrike Baureithel zur Community-Debatte über den Amoklauf von Winnenden
Viele Erklärungen, keine Antwort
Der einzige, kleine Haken an der Sache: Das vermeintliche Beweisstück, das der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) auf einer Pressekonferenz der versammelten Weltpresse vorgestellt hatte, war keines. Es war das, was man auch außerhalb der Netzgemeinde gerne mal als „Fake“ bezeichnet - eine Fälschung.
Es fällt schwer zu glauben, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart Zweifel an der Echtheit zurückwies, während ein paar Privatpersonen mit ein bisschen Ahnung von Computern die Fälschung binnen kurzer Zeit enttarnten. Alles, was sie dafür brauchten, waren rudimentäre Computerkenntnisse und Google.
Das technische Unvermögen der Berichterstatter, das mit der lustigen Vermengung von Begriffen wie „Chatroom“ und „Internet-Forum“ begann (das vermeintliche Beweisstück war die Bearbeitung eines Beitrags aus einem sogenannten Imageboard, wo man Bilder hochladen und sich darüber austauschen kann) und bei der Suche nach Spuren eines Chats auf der Festplatte des Täters (in der Regel werden Chats, wenn überhaupt, auf dem Server gespeichert, über den sie laufen) noch lange nicht endete, ist nur ein Teil der Geschichte. Die berechtigte Frage, die selbstverständlich aufkam, lautet: „Was darf man im Internet eigentlich glauben?“
Das Trash-Portal stern.de, das den Fake aus dem Internet gestern offenbar für glaubwürdig hielt, jammerte heute, im Internet würde man ja eh nur belogen. Gut einen Monat nachdem die Medien zuhauf einen falschen Vornamen des neuen Bundeswirtschaftsministers aus der Wikipedia abgeschrieben hatten, hatte das böse, böse Internet schon wieder ihre Arbeit diskreditiert - wenn auch diesmal über Bande und unter tatkräftiger Unterstützung von Ermittlungsbehörden und Politik.
Selbst wer nie eine Journalistenschule besucht hat, dürfte schon einmal den Ausspruch „eine Quelle ist keine Quelle“ gehört haben. Er passt nicht immer und lässt sich auch nicht auf die Kriminalistik übertragen, wo ein Indiz eben ein Indiz ist. Und wo kämen wir hin, wenn wir Innenministern nicht mehr trauen könnten? Dennoch scheint es nicht unwahrscheinlich, dass so viele an den Fake glauben wollten, weil eine Ankündigung der Gewalttat im Internet genau das war, was sie erwartet, ja fast erhofft hatten.
Was also darf man im Internet glauben? Überspitzt gesagt: Genauso viel oder wenig wie im richtigen Leben. Dass Journalisten, die auf der Suche nach einer guten Story sind, diese auch finden werden, ist nichts Neues. Wer auf den großen Wurf wartet, ist ein leichtes Opfer für Fälscher und Scherzbolde. Der Stern hat zum Beispiel seine ganz eigenen Erfahrungen aus einer Zeit, in der das World Wide Web noch nicht erfunden war.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001, als eine noch viel größere mediale Hysterie herrschte als in diesen Tagen, verbreitete sich eine Geschichte im Internet, die für Gänsehaut sorgte: Man müsse nur die Flugnummer „Q33“ und „NY“ für „New York“ in der Schriftart „Wingdings“ eingeben und schon sehe man ein Flugzeug, das in zwei Türme (na ja: zwei Symbole für Textdokumente) rase, dahinter einen Totenkopf und einen Davidstern. Tatsächlich sah man das (und dass „NY“ in dieser Symbol-Schriftart einen Totenkopf und einen Davidstern ergeben, hatte schon vorher für Kontroversen gesorgt), nur hatte keines der beteiligten Flugzeuge die Flugnummer „Q33“ gehabt. Die Geschichte verbreitete sich trotzdem rasend schnell via E-Mail.
Menschen sind seit jeher bereit, Dinge zu glauben, die nicht echt sind: Schon Michelangelo soll eine seiner Statuen auf alt getrimmt und einem Sammler als antikes Kunstwerk verkauft haben. Vor mehr als siebzig Jahren waren sich etliche Radiohörer in den USA sicher, ihr Land werde von Außerirdischen angegriffen, weil Orson Welles ein besonders realistisches Hörspiel zu H.G. Wells‘ Roman Krieg der Welten produziert hatte. Und jede Raufasertapete zeigt das Gesicht Adolf Hitlers, wenn man sie nur lange genug im richtigen Winkel anstarrt.
Selbstverständlich erleichtert das Internet die Verbreitung von Fakes, Hoaxes und sonstiger Falschmeldungen. Genauso wie Journalisten, die solche Geschichten ohne einen Anflug von Zweifel und ohne weitere Recherche weiterverbreiten. Wenn aber beispielsweise einfach ein Mitschüler behauptet hätte, der Amokschütze habe ihm unter vier Augen von seinen Plänen erzählt, wäre das sehr viel schwerer zu widerlegen gewesen als eine schnell gemachte Grafik einer manipulierten Webseite - und man hätte ihm erstmal glauben müssen.
Lukas Heinser bloggt regelmäßig auf freitag.de und unter www.coffeeandtv.de
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