Das norwegische Nobelpreiskomitee ist über sich selbst hinausgewachsen. In diesem Jahr der Pandemie den Friedensnobelpreis an keinen Politiker zu vergeben, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, führte zu einer weisen, vor allem zeitgemäßen Entscheidung. Dass sie zugunsten des UN-Welternährungsprogramms (WFP) und seiner weltweit 17.000 Mitarbeiter fiel, weitet den Blick. Es hilft, Relationen zu wahren, und ist geeignet, sich des Hedonismus bewusst zu werden, der zu Zeiten der Corona-Krise gelegentlich vor dem Ausrasten zu stehen scheint.
Wenn so getan wird, als komme es einem Weltuntergang nahe, dass Masken- und Quarantänepflichten gelten oder nachts auf öffentlichen Plätzen ein Alkohol- wie Versammlungsverbot herrscht, ist der Friedensnobelpreis 2020 nicht nur die Bitte um Augenmaß und Vernunft. Er ist schlichtweg ein Segen. Dieser Preisträger setzt dem Streit über die Relevanz von Infektionsquoten die Gewissheit über die Realität von Sterberaten entgegen. Letztere steigen im Augenblick besonders dort, wo sich Menschen nicht ausreichend ernähren können. Es womöglich noch nie konnten, es wegen der Pandemie erst recht nicht können. Nennt das Welternährungsprogramm die Zahl von derzeit 690 Millionen Hungernden, Tendenz steigend, dann heißt das, 690.000.000-mal sind Menschen zu Krankheit und Siechtum, Vergessen und Vergehen verurteilt.
Sie hätten keine Lobby, gäbe es nicht Organisationen wie den diesjährigen Friedensnobelpreisträger. Was durch das WFP geleistet wird, besteht nicht allein darin, dass seine Teams wissen, wo wie viele Menschen hungern und wie man dagegen vorgehen kann. Benannt werden zugleich die Ursachen wie bewaffnete Konflikte, zerstörte Agrarkulturen, der Klimawandel und auf absehbare Zeit die Covid-19-Krise, sofern der Lockdown in Indien, Kenia oder im Sudan einen informellen Sektor trifft, auf den Millionen Menschen angewiesen sind, um existieren zu können. Wenn am 10. Dezember in Oslo die Lebensretter einer oft letzten Instanz geehrt werden, ist das eine Erinnerung wert: Vor gut 20 Jahren wurden auf einem Sondergipfel der Vereinten Nationen sogenannte Millenniumsziele beschlossen. Sie sollten einer übergeordneten Mission gerecht werden – die Armut und den Hunger in der Welt bis 2015 zu halbieren und bis 2030 ganz zu tilgen. Ging man damals davon aus, dass bei 700 Millionen Unterernährten nach 15 Jahren etwa 350 Millionen von diesem Schicksal erlöst sein würden, so offenbaren die Zahlen und Realitäten der Gegenwart, wie wenig das gelungen ist. In Bertolt Brechts Theaterstück Die Tage der Commune wird gesungen, „dass nur Fensterscheiben uns vom guten Brote trennen, das uns fehlt“. Träfe das weiterhin zu, wäre es legitim, sie einzuschlagen? Opportun, genau darüber nachzudenken, ist es auf jeden Fall. Zu Bruch gehen müsste, was bereits zur Jahrtausendwende als zu beseitigendes Hindernis galt, um die Millenniumsziele zu erreichen. Das traf auf Handelsbarrieren und Zollgrenzen ebenso zu wie die Schuldenlasten von Staaten in Afrika, Lateinamerika sowie Südosteuropa oder auf korrupte Regierungen, die sich selbst mehr dienten als ihren Bürgern.
Nicht zu vergessen, ein vom neoliberalen Leistungskult besetztes Weltbild, das fremdes Leid nicht als Tragödie, sondern als Leistungsdefizit begreift. Dieser Gesinnung – so hat es den Anschein – kommt Covid-19 ganz recht, um sich zu recyclen.
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