Adieu DDR, adieu Wende

Volkskammerwahl Am 18. März 1990 wählt die DDR sich selbst ab, werden aus Revolutionären der Wende wendige Revolutionäre, ist ein mündiges Volk auf neue Fremdbestimmung erpicht

Der 18. März 1990 ist ein milder, sonniger Frühlingstag, zum Flanieren geboren, zum Wählen genutzt. Der Schock kommt Punkt 18.00 Uhr mit der ersten Prognose aus dem Zentralen Wahlstudio des Deutschen Fernsehfunks (DFF) im Palast der Republik. Der horizontal und nach rechts über den Bildschirm laufende Balken will in seinem Lauf nicht innehalten. 48 Prozent für die aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch formierte Allianz für Deutschland, nur enttäuschende 21,9 Prozent für die Ost-SPD von Ibrahim Böhme. Helmut Kohl hat die Volkskammerwahl in der DDR gewonnen. Ein Auswärtssieg nach einem Heimspiel. Die Herbst-Revolutionäre haben ausgesorgt, der Bürger will nicht länger Citoyen sein und ein Basta los werden. Bündnis90, Sammelbecken der Bürgerrechtler, erzielt blamable 2,9 Prozent und verdankt es dem Verzicht auf jedes Mindestquorum, überhaupt Abgeordnete in die letzte Volkskammer der DDR schicken zu können.

An diesem Wahltag hat sich die DDR selbst abgewählt. Sie schrumpft zur „Fußnote der Geschichte“, wie der Schriftsteller Stefan Heym noch am Wahlabend befindet. Viele Draufblick, noch mehr Weitblick. Denn es geschieht, was so oft in der Geschichte zu beobachten war – aus Revolutionären einer Wende werden wendige Revolutionäre. Das Volk, in diesem Fall das Wahlvolk, scheint vor sich selbst erschrocken, seiner Souveränität und Macht überdrüssig. Wohin damit? Der 18. März 1990 schafft Abhilfe.

Kopf hoch, nicht die Hände

Noch Mitte Februar 1990 hat es sich das Gros der Parteien und Bewegung, die seit Dezember 1989 am Runden Tisch sitzen und einiges dafür tun, das aus dem Systemeinbruch kein Staatsnotstand für Millionen DDR-Bürger wird, energisch verbeten, dass westdeutsche Parteien den DDR-Wahlkampf bestreiten. Doch weder dieses Gremium, geschweige Rudimente von DDR-Staatsmacht besitzen Willen und Autorität, dieser Anmaßung zu begegnen. Die Fremdbestimmung erprobt, wie weit sie gehen kann. Sie kostet ihre Lokaltermine aus: Helmut Kohl redet in Erfurt, Leipzig und Rostock, Hans-Dietrich Genscher in Halle, Willy Brandt gleichfalls in Leipzig. Nur die PDS will den Beweis antreten, wie sehr sie historische Schuld in die demokratische Katharsis getrieben hat, und verschreibt sich einem Faiplay, das niemanden zur Gegenleistung treibt. Ihr Noch-Ministerpräsident Hans Modrow, der mit einem Kabinett der nationalen Verantwortung die DDR ohne ökonomischen Kollaps über den Winter bringt, will von keinem Amtsbonus zehren. Er spricht nur auf einer einzigen Wahlkundgebung am 13. März 1990 vor 50.000 Zuhörern in Neubrandenburg. Ein kleines Heimspiel im bevölkerungsarmen Norden, das bringt der PDS nicht viel. So sehr auch an ihr Spitzenkandidat Gregor Gysi als wahlkämpfender Fallschirmspringer aus allen Wolken fällt und Sympathisanten wie Denunzianten in Massen sammelt, die 16,4 Prozent für die PDS am 18. März erscheinen alles in allem respektabel, viel bewirken können sie nicht.

Die Weichen sind ohnehin gestellt. Die noch vor dem Wahltag in Aussicht genommene Wirtschafts- und Währungsunion braucht den Segen des Wählers. Der Kurs für den Umtausch von DDR-Mark zu Deutscher Mark steht längst fest. Wer will es einer Mehrheit der DDR-Bürger verübeln, dass sie der D-Mark ihre Zukunft anvertraut und Kohls Versprechen von den "blühenden Landschaften" glaubt? Kopf hoch und nicht die Hände – das ist leicht gesagt, aber ohne den Bürger eines untergehenden Staates gedacht.

Bereits auf dem Schreibtisch

„Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein“, heißt es in der Regierungserklärung von Premier de Maizière am 19. April 1990. Ein frommer Wunsch. In seinem 133-Tage-Kabinett sitzt – bis CSU-Chef Waigel den Rauswurf durchsetzt – der Sozialdemokrat Walter Romberg als Finanzminister. In einem Interview für den Freitag im Juni 2000 erinnerte er sich: „Als ich das Finanzministerium übernahm, lagen auf meinem Schreibtisch bereits Textentwürfe für den Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion ...“

Der Wähler hat sich eine Regierung gewählt, die nicht viel zu sagen hat und sagen will. Auch das ist ein Ergebnis des 18. März 1990, der letzten Endes allein darüber entscheidet, nicht ob, sondern wie schnell die DDR ins Koma und in die Einheit fällt. Am 19. März um 2.17 Uhr gibt die Wahlkommission das vorläufige Endergebnis bekannt – um 2.17 Uhr ist alles vorbei.

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