In Europa galt Multilateralismus 1990 als Geschäftsgrundlage der deutschen Rückkehr zu nationaler Einheit. Staaten wie Frankreich und Großbritannien konnten sich damit nur abfinden, weil sie eine absehbar aufsteigende Macht europäisch verankert glaubten. Immerhin verschwand die Ordnung von Jalta im Schlund der Geschichte, die dem Kontinent für Jahrzehnte bei aller Bipolarität – oder eben deshalb – Stabilität gebracht hatte. Bald zeigte sich, dass deutsche Gestaltungsmacht in der EU nicht trotz, sondern wegen des multilateralen Geschirrs um sich griff. Eine durch die Währungsunion in die Alternativlosigkeit getriebene Integration hatte daran entscheidenden Anteil, die Bundesrepublik Deutschland den größten Gewinn.
Was stößt an dieser Bilanz dermaßen ab, dass der bayerische Ministerpräsident Söder einen geordneten Multilateralismus für beendet erklärt, dem Deutschland mehr als viel zu verdanken hat? Was reflektiert der Trump-Sound? Mutmaßlich das Unbehagen über einen Status, der als Glücksfall erscheint, aber als Dilemma empfunden wird. Tatsächlich steht außer Frage: Je unaufhaltsamer sich Deutschland als europäische Macht etabliert hat, desto mehr wurde seine Stärke zur Schwäche, weil nicht gegen Verlust gefeit. Um es in Anlehnung an Willy Brandt zu sagen: Europa ist nicht alles, aber ohne das vereinte Europa in all seinen Facetten ist alles nichts. Wo der Hegemon auftaucht, ist ihm die Hegemonie-Falle sicher. Ein seit Jahren von deutschen Interessen dominiertes Euro-Krisenmanagement darf Euro-Staaten nicht derart in Bedrängnis bringen, dass darüber der Euro selbst in Bedrängnis gerät. Eine in die EU getragene Austeritätspolitik darf den Wohlfahrtsstaat nicht so weit beschädigen, dass die EU irreversibel beschädigt wird. Zum autoritären Staatsverständnis neigende EU-Mitglieder wie Polen, Ungarn und andere dürfen nicht derart reglementiert werden, dass nationale Gegenwehr das multilaterale Minimum sprengt. Frankreichs Reformwille darf nicht ausgesessen, sondern muss angenommen werden. Alles andere beleidigt eine schwächelnde Mittelmacht und entfremdet sie Europa. Schließlich sollte in Berlin keine Flüchtlingspolitik mehr betrieben werden wie im Spätsommer 2015, die auf Kosten der Nachbarn geht. Damals gab die Regierung Merkel zu verstehen, dass sie sich um Regelwerke wie die Dublin-Verträge so wenig schert wie den Eindruck, den Eigenmächtigkeit europaweit hinterlässt. Auf Euro-Nationalismus folgte Flüchtlingsautismus.
Was wird der europäischen Gesinnung in Deutschland alles abverlangt, wenn das europäische Soll so voller Zumutungen steckt? Faustisches womöglich – „zwei Seelen leben, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen“. Und kann es, weil sie will? Nach dem G7-Gipfel in Kanada ist nach europäischem Selbstbewusstsein gerufen worden, um auf eine selbstsüchtige US-Administration zu reagieren. Als Echo wird die EU mit einem nicht nur von der CSU ausgehenden deutschen Selbstbewusstsein eingedeckt, das der Mentalität um vieles gerechter wird als der Realität. Offenkundig ist die Zeit der Selbstbescheidung vorbei, die als Selbstbeschränkung erduldet, wenn nicht erlitten wurde. Hat man in Deutschland als Europäer lange vorbeigelebt an seiner wahren Natur, dann versprechen die natürlichen Stimmungen oder die „gesunden“ eine Entschädigung für all die Selbstverleugnung. Es hat nicht mehr bedurft als des Zustroms hilfsbedürftiger Menschen, um sich zu versichern, wer man wirklich ist und sein will.
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