Sollte eine dozierende, salbungsvolle Rhetorik das Maß für Aura und Größe eines EU-Kommissionsvorsitzes sein, hat Ursula von der Leyen ihre Vorgänger längst deklassiert – den jovial aufgeräumten Luxemburger Jean-Claude Juncker wie den oft als Hilfskraft Angela Merkels wahrgenommenen Portugiesen José Manuel Barroso. Nur fehlt es ihrem gestelzten Pathos an Fortune. An Realismus nicht minder. Anfang August kam ihr die Idee, alle EU-Staaten müssten sich auf verbindliche Sparquoten bei Erdgas einlassen, um mit Berlin solidarisch zu sein. Unterschwellig klang an: Nehme die deutsche Ökonomie Schaden, schlage das auf die europäische durch. Sich einer kleinen Erpressung befleißigen, um Gehör zu finden?
Umgehend verweigerte sich d
rte sich die Gemeinschaft der Kommission, aus der Sparpflicht wurde ein Spargebot nach dem Prinzip „Freiwillige vor“. Aber von der Leyen blieb unermüdlich und sekundierte ihrem Herkunftsland erneut, indem sie vor dem EU-Parlament in einer State-of-the-Union-Rede verkündete, einen europäischen Konvent einberufen zu wollen, der eine EU-Reform vorantreiben werde. Diese hatte auch Kanzler Olaf Scholz am 29. August bei seiner „Prager Rede“ verlangt, als er eine Union des prompten wie geschlossenen Entscheidens und des einheitlichen Willens entwarf, die vom Staatenbund zum Staatenblock mutiert, um sich geopolitisch Geltung zu verschaffen.Insofern hält es von der Leyen mit dem Zeitgeist, nur bürgt der nicht zwingend für den realpolitischen Gehalt ihres Aufschlags. Allein die nordischen Staaten, Ungarn und Polen halten den Zeitpunkt für wenig geeignet, an der inneren Statik des Vertragswerks zu rütteln, was unter anderem darauf hinausliefe, die Einstimmigkeit bei relevanten Beschlüssen zu schleifen. Überdies ist dem kollektiven Gedächtnis vermutlich erinnerlich, dass es zwischen 2001 und 2005 bereits einen vergleichbaren Konvent gab, der seinerzeit einen europäischen Verfassungsvertrag präsentierte – und scheiterte. Bei Volksabstimmungen in den beiden EWG-Gründungsnationen Frankreich und Niederlande erteilte im Frühjahr 2005 eine Mehrheit von 56 beziehungsweise 62 Prozent einer konstitutionellen Grundierung ihres europäischen Daseins eine Absage. Maßgebend war die Befürchtung, in Brüssel werde zu Lasten der nationalen Selbstbestimmung ein supranationaler Staat geschaffen, für den eine EU-Verfassung den Boden bereite. Danach werde der Übergang vom europäischen Staatenbund zum europäischen Bundesstaat nicht mehr aufzuhalten sein.Die EU war damals weit entfernt von globalen AmbitionenDiese Reminiszenz taugt kaum als Empfehlung für von der Leyens Reformeifer. Ohnehin wäre zu bedenken: EU-Grundverträge lassen sich nur umschreiben, wenn alle zustimmen. Die Modalitäten setzt das Verfassungsrecht jedes einzelnen Mitgliedslandes, was Zeit in Anspruch nehmen kann. Für die Revision von EU-Recht sind etwa in Estland, Griechenland, Irland, Lettland und Österreich Referenden obligatorisch. In Deutschland freilich hätte allein die Legislative das Sagen.Überdies wäre zu bedenken: Als der Verfassungsvertrag durchfiel, trieb die EU, verglichen mit heutigen Verhältnissen, in relativ ruhigem Fahrwasser. Die Osterweiterung war bis auf den Beitritt Bulgariens, Rumäniens und Kroatiens abgeschlossen, Großbritannien noch kein Abwicklungsfall. Den Euro hatten sich erst zwölf Staaten zugelegt, ohne dass die Einheitswährung bereits ihr subversives Potenzial entfaltete. Es gab eine innere Zerreißprobe um die Beteiligung an imperialen Kriegen, die US-Präsident George W. Bush in Afghanistan und gegen den Irak glaubte führen zu müssen. Kurz gesagt, die Union schien weit davon entfernt, sich globale Ambitionen zuzumuten. Nicht ansatzweise waren Vereinigte Staaten von Europa in Sicht, die sich den Vereinigten Staaten von Amerika zur Seite und zur Verfügung stellen wollten.Im Herbst 2022 verhält es sich mit den äußeren Umständen einer Innenrevision gänzlich anders. Will von der Leyen die EU im Konverter sehen, dann mitten im Ukrainekrieg. Da hat ein Europa der Identitäten, Regionen und Kulturen, der verschiedenen Geschwindigkeiten und Integrationsbedürfnisse gewiss nicht ausgedient, aber seine Tauglichkeit nachzuweisen, wenn es um ein Europa als Bastion und Bollwerk geht, das im Kampf der Systeme – mit China und Russland – gefordert sein will. Dazu braucht es den geordneten und gestrafften Organismus, der Disziplin begünstigt und Dissens beschränkt. Ergebnis einer solchen Zäsur könnte eine Entente von Staaten sein, die ideologisierter, militarisierter, vor allem geopolitischer wäre als je zuvor – ein Kampfbund der Gleichgesinnten (und Gleichgeschalteten?), der den permanenten Kampfmodus nicht scheut, sondern als Agenda pflegt. Wer das für eine übertriebene Annahme hält, sei daran erinnert, dass von der Leyen Ende 2019, vor ihrem Antritt als Kommissionspräsidentin, den designierten Kommissaren einen Mission Letter zukommen ließ. Sie wolle eine „wahrhaft geopolitische Kommission“ führen, war da zu lesen. Jetzt kann sie es. Mit der „Zeitenwende“ sind Wendezeiten fällig, die vom Humus der Geschichte zehren. Dem Affen Zucker geben, weil der historisch schmeckt – was sonst? Dass sich Bürger, Völker und Staaten wieder fremdbestimmt fühlen – was soll’s?