EU-Grundsatzrede von Olaf Scholz fällt bereits in Prag durch

Meinung Olaf Scholz tritt mit seinen Reformideen die Flucht nach vorn an. Er will das Einstimmigkeitsprinzip in der EU abschaffen. Aber er müsste wissen, dass das derzeit nicht durchsetzbar ist
Ausgabe 35/2022
Bundeskanzler Olaf Scholz trifft den tschechischen Premier Petr Fiala in Prag
Bundeskanzler Olaf Scholz trifft den tschechischen Premier Petr Fiala in Prag

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Der EU-Primus Deutschland ist nach wie vor mächtig, aber nicht allmächtig. Der tschechische Premier Petr Fiala brauchte daher keinen trotzigen Wagemut, um eine vom deutschen Kanzler soeben in Prag entworfene EU-Generalinventur mit reservierter Distanz zu segnen („Die Tschechische Republik ist in diesem Sinne sehr zurückhaltend“).

Details schien Fiala ohnehin nicht zu kennen oder kennen zu wollen, zeigte die gemeinsame Pressekonferenz. Damit war die „Grundsatzrede“ von Olaf Scholz gleich beim ersten Tauglichkeitstest durchgefallen. Und das in aller Öffentlichkeit und beim amtierenden EU-Ratspräsidenten. Fiala nahm die tschechische Tagespolitik (Energiefragen) erkennbar mehr in Anspruch als das europäische Geschick. Er ließ durchblicken, gerade jetzt eine EU-Reform anzugehen, die das Gebot der Einstimmigkeit bei Entscheidungen wie Neuaufnahmen oder Sanktionsmaßnahmen kippt, das hieße, die EU in einen Grundsatzstreit zu stürzen.

Davon wäre in der Tat auszugehen. Denkbare Eskalationsstufen will man sich lieber nicht ausmalen. Wer mit Handgranaten hantiert, muss mit allem rechnen.

Osteuropa tonangebend

Warum sucht Olaf Scholz die Flucht nach vorn, von der er wissen müsste, dass sie ins Nichts führt. Was er will, ist derzeit nicht durchsetzbar. Es gibt Regierungen wie in Budapest, die eine EU-Präsenz nur als Dissidenten ertragen, sonst käme ihr Selbstverständnis ins Wanken. Oder Polen. In Warschau betrachtet man die Rechtsstaat-Verdikte aus Brüssel als imperialen Übergriff und würde EU-Mehrheitsvoten als Angriff auf die nationale Souveränität geißeln und ignorieren. Im Übrigen kann sich selbst Deutschland schneller und unerbittlicher als gedacht auf Minderheitenpositionen wiederfinden und froh sein, von keiner Majorität der EU-Mitglieder diszipliniert zu werden. Man denke an die momentan diskutierte EU-weite Einreisesperre für russische Staatsbürger. Die Oststaaten sind dafür, Paris und Berlin dagegen.

Dank des Einstimmigkeitsprinzips wäre man dagegen immun. Schließlich ist unübersehbar, dass sich mit dem Ukraine-Krieg der Schwerpunkt der Europäischen Union nach Osten verschoben hat. Den Takt gibt nicht mehr das französisch-deutsche Tandem an. Vom Selbstbewusstsein und EU-internen Ranking her sind Polen, die baltischen Staaten, Rumänien oder auch Tschechien im Willen zur unbedingten Konfrontation mit Russland tonangebend. Wer ihnen nicht folgt, hat schnell das Stigma des Kapitulanten oder Verräters auf der Stirn. Die geostrategische Formatierung der EU als Konflikt- und Kriegspartei wird zum kategorischen Imperativ.

Der Regierung Scholz kommt das prinzipiell entgegen, aber sie hat darauf nicht den Einfluss, den sie gern hätte. Der wird weiter schwinden, je mehr sich Beitrittskandidaten wie die Ukraine Gehör und Geltung verschaffen – im Schulterschluss mit Osteuropa. Das gilt bei einem Langzeitkrieg wie einem Kompromissfrieden gleichermaßen.

Nicht groß genug

Dass Scholz trotzdem einen risikobehafteten Ansatz wählt und die EU geschlossener und aktionsfähiger haben will, dürfte der Einsicht geschuldet sein: In ihrem jetzigen Zustand sind die 27 Staaten dem gegen Russland entfachten Wirtschaftskrieg auf Dauer – womöglich in Kürze – nicht mehr gewachsen. Die sich damit selbst zugefügten Schäden sind zu groß, die Russland verursachten Nachteile nicht groß genug.

Als sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang August der Idee hingab, die EU müsse bei der Gasversorgung mit Deutschland solidarisch sein, erwies sich das als absurdes Unterfangen. Die angesprochenen EU-Staaten pochten auf ihre Interessen und die Maxime, jeder müsse seine Energiepolitik selbst verantworten. Immerhin habe Deutschland während der Eurokrise ebenfalls darauf bestanden, Großschuldner wie Griechenland oder Spanien hätten allein für ihre Finanzpolitik aufzukommen.

Wenn dieses Erbe nachwirkt und Solidarität verhindert, wie wird es dann erst sein, sollte Energiearmut im Winter zum Notstand führen. Wenn sich mehr als das augenblicklich schon der Fall ist, der Wirtschaftskrieg gegen Russland als Kriegserklärung an die eigene Bevölkerung erweist. Und von den Betroffenen so verstanden wird.

Die EU hätte sich ins Feuer begeben und viel Feuer auf sich gezogen, ohne es auszuhalten. Wäre daraufhin ein Rückzug fällig, würden die inneren Zerreißproben alles übertreffen, was es bis dahin gegeben hat. Denkbar, dass Scholz die Reihen von oben schließen will, bevor sie von unten her auseinander brechen. Doch was ihm vorschwebt, kommt zu spät und ist nun nicht mehr situationsgerecht. Die EU hätte von ihren Strukturen und Entscheidungsmechanismen her absolut krisenfest sein müssen, bevor sie sich in eine Gefahr begibt, der sie nicht gewachsen ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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