Woke Philosophien

Buch Dafür oder dagegen? An der Identitätspolitik scheiden sich die Geister. Die beiden Publizist(innen) Helen Pluckrose und James Lindsay unterfüttern die Debatte mit einer kritischen Historie der dahintersteckenden Denkschulen.

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Über einen Aspekt »woker« Gesinnungen werden sich sicherlich sowohl Gegner als auch Anhänger schnell einig werden: der Thematik ist mittlerweile nur noch schwer zu entkommen. Ob mit einschlägigen Themensettings bestückte und auch im entsprechenden »Style« gehaltene Ö/R-Jugendformate, gendergerecht auf ein neues Unverständlichkeits-Level angehobene Behördentexte oder nach »Diversity«-Kriterien anstatt Inhalten zusammengestellte Filmcastings: Die Einschläge kommen – um es in standesgemäßer Angry White Man-Wortwahl auszudrücken – immer näher. Für einschlägige Aufreger im aktuellen Jahr sorgten unter anderem: Rastalocken auf zu hellen Köpfen, ein auf Woken-Bashing angelegter Partyschlager und schließlich der Apachenhäuptling Winnetou. Mit dem unterstellten Generalverdacht »Cancel Culture« hat all das zwar – mehr oder weniger – zu tun. Im Detail allerdings sind die Denkschulen, deren Auswirkungen immer unübersehbarer in unserer Kultur und Gesellschaft Einzug halten, ein höchst aufgefächertes Bundle weitläufig miteinander verwandter Ideologien.

Kritik an den unterschiedlichen Wokeness-Erscheinungsformen ist zwischenzeitlich in recht unterschiedlichen Geschmacksrichtungen zu haben. Der Kulturkampf ist längst im Gange. Und wie es sich für einen zünftigen Kulturkampf gehört, sind auch die Kritiker:innen bemerkenswert divers aufgestellt: Konservative und Rechte sind unter ihnen ebenso zu finden wie Linke, Liberale und zwischenzeitlich sogar Feminist(inn)en. Den »identitätskritischen« Bedenken im linken Milieu hat vor allem Sahra Wagenknecht Ausdruck verliehen. Ob die Kritik am – meist bürgerlich-gutsituierten – Milieu, welchem das Gros der woken Aktivist(inn)en entstammt, für eine Auseinandersetzung reicht, ist allerdings fraglich. In diese Lücke stößt ein neues Buch, dass in Sommer im C.H.Beck-Verlag erschienen ist und bereits im Titel mit Klartext-Ansage nicht spart: Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt.

Beginnen wir mit den weniger Massenpublikums-verdächtigen Aspekten dieses fast 400 Seiten starken Werks. Der rennomierte, vor allem auf ambitionierte Sachbuch-Publikationen versierte Verlag ist nicht unbedingt dafür bekannt, populäre, leicht in einem Rutsch durchlesbare Schmöker auf den Markt zu werfen. Stärker indess wiegt der Umstand, dass die beiden Autor(inn)en – die Britin Helen Pluckrose und der US-Amerikaner James Lindsay – vorwiegend die angelsächsische Szenerie durchleuchten. Die deutsche Debatte mit ihren im Monatsturnus durchlaufenden Aufregern wird entsprechend wenig bis gar nicht aufgegriffen. Wirklich schlimm ist das allerdings nicht. Denn: Wie das Autorenduo anschaulich beschreibt, hat sich »woker« Aktivismus vor allem im angelsächsischen Raum einen nachgerade gesellschaftspägenden Platz geschaffen. Sehr europäisch sind allerdings seine philosophischen Wurzeln. Weswegen sich der kritische Blick im ersten Buchdrittel doch stark auf den alten Kontinent richtet – und hier auf Frankreich, das Geburtsland der postmodernen Theorien und ihres Hauptbegründers Michel Foucault.

Der historische rote Faden, entlang dem sich Pucklerose und Lindsay bis zu den aktuellen Erscheinungsformen der Identitätspolitik vorarbeiten, hat den Vorteil, dass die Leser(innen) en passant alles Wichtige über das postmoderne Ideen- und Philosophie-Patchwork erfahren. Die Wurzeln basieren auf zwei, drei von Foucault und Kollegen aufgestellten Grundbehauptungen. Die wichtigste: Während die damals (noch) einflussreiche (neo)marxistische Lehre auf Sein, Bewußtsein, Klassen und Ökonomie fokussierte, rückten Foucault, Jacques Derrida und andere »dekonstruktivistische« Denker die Fragen von Macht und Sprache in den Mittelpunkt. Ihre radikale Folgerung: traue keiner Sprache – und keiner Wirklichkeit. Jedenfalls nicht der einen, »objektiven«. Das Substitat dafür: eine subjektive Sichtweise, die potenziell unendlich viele Realitäten schafft.

Die – in insgesamt zehn Buchkapitel untergliederte – Tour de Force durch die Entwicklung der postmodernen Ideologiefragmente nähert sich ihrem Gegenstand von zwei Betrachtungspunkten: einem, der die einzelnen Sub-Ableger unter die Lupe nimmt, welche sich auf der Basis der postmodernen Lehren entwickelt haben, und einem, der die zeitliche Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Thematisch präsentieren sich identitätspolitisches Denken und entsprechende Praxis vor allem in drei Themenfeldern: Postkolonialismus, Rassismus sowie Gender & Queerfeminismus. Auf der zeitlichen Schiene machen Pluckrose und Lindsay drei Entwicklungsstadien aus: die postmodern-dekonstruktivistische Philosophie der Sechziger bis Achtziger, die daraus abgeleiteten Theoriegebäude in den drei genannten Themenfeldern (bis etwa 2000) und schließlich – als letztes und von circa 2000 bis heute zu veranschlagen – die Übertragung der aufgeführten Theorien in die derzeit bekannten Formen des sozialen Aktivismus.

Die kritische Auseinandersetzung mit den Ideengebäuden, den daraus gezogenen Schlüssen sowie der kontrovers diskutierten Praxis heutiger Aktivist(inn)en durchzieht das gesamte Werk. Da ist eine Menge dabei: Judith Butler etwa und die von ihr maßgeblich auf den Weg gebrachten Gender- und Queer-Theorien, neue antirassistische Begrifflichkeiten, das für Liberale eher gewöhnungsbedürftige Feinabstufen von Hauttönen bei den unter dem Kunstbegriff »People of Color« zusammengefassten Nichtweißen und schließlich akademische Reißbrettkonzepte wie etwa das der kulturellen Aneignung. Pucklerose und Lindsay begnügen sich dabei nicht, die dogmatischen Grundlagen der diversen identitätspolitischen Richtungen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem Absolutheitsanspruch, mit dem Teile der heutigen Aktivistenszene bedenkenlos herumhantieren.

Angesichts der Zielstrebigkeit, mit der sich besonders die radikaleren Teile dieser Bewegung zunehmend in den Untiefen der eigenen Lehre(n) verheddern oder sonstwie in bedenkliche Gefilde abgleiten, ist dieser Wahrheitsanspruch noch kritischer zu sehen. Zum Ende des Buchs hin sind so auch jene Tendenzen Thema, die selbst bei Wohlmeinenden in der jüngeren Vergangenheit Widerspruch hervorriefen: hingewiesen sei an der Stelle etwa auf die Auseinandersetzung zwischen sogenannten TERF-Feminist(inn)en und Aktivist(inn)en aus der LGBTQ-Community. Oder auch den Trend, vermittels »geschlechtsneutraler« Bezeichnungen Unterschiede unkenntlich zu machen. Auch in dieser Feinauseinandersetzung bleibt das Buch anschaulich-konkret und benennt – neben den theoretischen Verursacher(innen) – Fälle, Beispiele und entsprechend »Kollaterialschäden«, welche diese Form Aktivismus nach sich zog und zieht. Zwischenzeitlich, so ein Fazit des Buchs, sehen Pucklerose und Lindsay ein Level erreicht, dass nicht nur Meinungs- und Kunstfreiheit in Mitleidenschaft zu ziehen droht, sondern auch ergebnisoffene wissenschaftliche Forschung. Die zunehmend unter den Vorbehalt gerät, als Allererstes dem identitätspolitischen Kanon genügen zu müssen.

»Auf die Schnelle« ist Zynische Ideen sicher nicht zu konsumieren. Wer die auf der »klassenpolitischen« Ebene angesiedelten Vorbehalte der Marke Wagenknecht als ausreichend erachtet, um sich ein Bild zu machen, wird sich für die postmodernen Ideengerüste und ihre Entstehung eh nicht interessieren. Für diejenigen hingegen, die Bürgerrechte, ein liberales Meinungsklima sowie restriktionsarme gesellschaftliche Umgangsformen für wichtig erachten, ist Zynische Ideen sicher ein aufschlussreiches Buch – wobei eine gewisse Sperrigkeit, die sich im Rahmen einer solche Abhandlung kaum vermeiden lässt, aufgehoben wird durch einen klaren, zupackenden, nicht über Geführ komplizierten und teils sogar spannenden Stil.

Helen Pluckrose und James Lindsay : Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt. C.H.Beck 2022, 380 S., 22 €

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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