Chronist der Tristesse

CD-Kritik Als Troubadour im Country-and-Western-Genre steht Vincent Neil Emerson zwar erst am Anfang. Dafür jedoch hat er recht viel mitzuteilen – wie sein viertes, gerade erschienenes Album unter Beweis stellt.

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Musik hilft nicht in jeder Lebenslage. In Stephen Spielbergs Kriegsepos Der Soldat James Ryan gibt es eine Szene, in der sich der Trupp, welcher den verlorengeglaubten Ryan gerade gefunden hat und heimholen will, auf ein Gefecht mit den Deutschen vorbereitet. Ein altes Grammophon beschallt die Ruinenlandschaft, die früher mal ein Dorf war; das Lied heißt Tu es partout und wird gesungen von Edith Piaf. Kommentar eines der Soldaten, hier nur sinngemäß zitiert: »Wenn das noch eine Stunde länger läuft, brauchen die Krauts keine Kugel mehr für mich.«

Dass sich keinesfalls nur Franzosen auf Tiefschürfendes, auf herzzereißende Balladen verstehen, stellte zu jener Zeit bereits ein Klassiker des Country-and-Western-Metiers unter Beweis: Hank Williams. Doch sind derartige Vergleiche überhaupt angebracht bei einem, der gerade sein viertes Album veröffentlicht hat, und (bislang) nicht einmal über einen Wikipedia-Eintrag verfügt? Die Historie mit ins Spiel zu bringen, ist bei The Golden Crystal Kingdom gleich aus mehreren Gründen sinnvoll. Zum einen – auch die musikalische Geografie der USA ist hochdivers – der allgemeinen Genre-Parameter wegen: Vincent Neil Emerson kommt aus Ost-Texas – einer Region, die, nett formuliert, nicht gerade als Hort des Fortschritts verschrien ist. Im Klartext: Emersons Heimat hat mit dem tiefen Süden Marke Mississippi und Alabama mehr gemein als mit den Weiten der Prärie, die man gemeinhin mit dem Begriff »Texas« assoziiert. Trotz – oder gerade deswegen – lässt sich Emerson mühelos einordnen in die aufmüpfige, widerborstige Country-Tradition, welche gerade im Lone-Star-State so etwas wie ihr Refugium hat. Und die zum Gesamtgenre immerhin Namen beigesteuert hat wie etwa Willie Nelson, Steve Earle oder auch Townes van Zandt.

Townes van Zandt ist ein guter Bezugspunkt, um den musikalischen Spririt von Vincent Neil Emerson auf den Punkt zu bringen. Bereits auf den vergangenen Veröffentlichungen legte ein mit viel Spielfreude vorgetragener Akustikgitarrensound das musikalische Fundament. Auch auf dem vierten Album kommt die Instrumentierung der einzelnen Stücke recht naturbelassen rüber. Die Begleitung, wo in Aktion tretend, beschränkt sich weitestgehend auf Snare-Drums, Bass, Piano- sowie Steel-Guitar-Einsätze. Bei den Blues-Nummern darf es dann etwas härter – sprich: mit standesgemäßer Elektrikverstärkung – zur Sache gehen. Ein ähnlicher programmatischer Spagat wie etwa bei Steve Earle – der sich zwischen akustischen Soloauftritten und solchen mit seiner Begleitband, den Dukes, eine ähnliche musikalische Balance verpasst hat.

Musikalisch bietet Vincent Neil Emerson eine Form dezidiert Folk-geprägter Country Music. Dass dieses Subgenre stark vom Storytelling geprägt ist – also vom Inhalt der vorgetragenen Geschichten – ist für Amerikana- und Roots-Rock-Fans wahrscheinlich nicht mehr als eine Binse. Bereits der Opener-Song, Time of the Rambler (siehe Clip oben), steigt mit seinen Impressionen derart intensiv in historische Tiefen hinab, dass man unwillkürlich an Bob Dylan denken muß. Scharfsichtig und gespickt mit Einsichten, die buchstäblich auf die Pelle rücken, beschreibt Emerson den Blick der Outsider auf diejenigen, die drinnen sind: ihre falsche Durchhaltemoral, ihr leeres Leben und die Lügen, mit denen sie selbiges bewältigen. Kunstgriff dabei: der im Refrain hergestellte historische Bezug – zwischen der Gegenwartszeit, die keine Veränderungen mehr in Aussicht stellt, und dem (imaginären) Hobo-Paradies früherer Zeiten. Für die verwendete Metapher – The Big Rock Candy Mountain Days – gibt es gleich zwei historische Bezüge: einen gleichnamigen Hillbilly-Song, nach dem Krieg popularisiert von dem auf Western-Stücke versierten Sänger Burl Ives sowie einen Roman des frühen Umweltschützers Wallace Stegner. Beide thematisieren die Offenheit einer Gesellschaft – und die Vorstellungen von Angemessenheit und Fairness, welche das alte, gerade »unten« zeitlos populäre Bild einer »guten Regierung« mit ins Spiel bringen.

Man muß Time of the Rambler nicht überinterpretieren. Im Kern ist der Song einfach eine eingängige, zu Herzen gehende Ballade – eine der Sorte, die auch die Hirnzellen animiert und im besten Sinn Ohrwurm-Qualitäten hat. Nachdenkliches aus den weiten Kerngefilden Amerikas bieten auch die restlichen elf Songs. Das Titelstück offeriert gleichfalls scharfsichtige Impressionen – hier zur Szene der gutbetuchten Poser, die es in der Country-Szene ebenso gibt wie in anderen Musikszenen auch. Little Wolf’s Invincible Yellow Medicine Paint thematisiert, als Referenz auch auf die eigene Herkunft, die Weisheit US-amerikanischer Ureinwohner in Zeiten, in denen – so der Song – die Büffel nicht mehr umherziehen. Zusammen mit zwei weiteren Titeln – dem im Texas-Blues-Style vorgetragenen Hang Your Head Down Low und der Rockballade The Man from Uvalde – macht er die elektrisch verstärkte Sektion auf diesem Album aus.

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Erwähnenswert ist schließlich noch ein Titel, der auf Crystal Kingdom nicht präsent ist, allerdings grob zeitgleich als eigenständige Single veröffentlicht wurde. Son of a Bitch ist ein bitterer Rückblick auf das Ende einer Beziehung – ein Ende, dass der Ich-Erzähler sich selbst sowie seinem unsteten Leben »on the Road« aufs Kerbholz einschreibt. In der Summe typische Americana-Themen – oder Country Noir, wenn partout ein passender Stilbegriff her muß. Fazit: Die Gesellschaft ist nicht so, wie sie sein sollte, und auch das alltägliche Leben spart nicht mit Bissen. Als Troubadour in diesem klassischen Sinn ist Vincent Neil Emerson – siehe etwa seinen gleichfalls aus Osttexas stammenden Kollegen Hayes Carll – zwar nicht der einzige, der als musikalischer Chronist unterwegs ist. Als einer, der in seinen besten Momenten mühelos an die Aufrichtigkeit eines Steve Earle heranragt (ohne dessen in manchen Momenten etwas überstrapazierte Sozialkritik), ist er allerdings ein Zeitbegleiter, der auch für europäische Ohren das ein oder andere in petto haben könnte.

Last but not least ist auch die Qualität der Video-Clips positiv hervorzuheben. Bei der optischen In-Szene-Setzung setzen Vincent Neil Emerson und sein Team erkennbar auf zwei güldene Maßregeln: Weniger ist mehr und Form Follows Function. Der großen Tube sei Dank bietet die aktuelle Gesamtbranchen-Architektur die Möglichkeit, sich auch frühere Einspielungen von Emerson in Ton und Bild anzusehen: etwa das in stereofotografischer Schwarzweiß-Filmoptik inszenierte Texas Moon oder auch – bei Form & Function sind durchaus Ausnahmen erlaubt – die Kaleidoskop-Spielereien in Willie Nelson’s Wall.

Vincent Neil Emerson: The Golden Crystal Kingdom. November 2023, La Honda Records.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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