Der Sechste Weltkrieg

Zukunft Der vorletzte Weltkrieg der Menschheit überhaupt – wie es dazu kam. Erster Beitrag aus dem Sapiens-Transcriptum der Aliens.

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Der Junge steht in der Wüste, blinzelt neugierig in die erbarmungslose Sonne. Es wird bald mittag. Seine Mutter hat ihm aufgetragen, zur Zeit der großen Gluthitze wieder zuhause zu sein. Der Junge kann sich nicht so recht entscheiden. Dreißig Meilen westwärts liegt Tripolis, einst die mächtige Hauptstadt eines ölfördernden Staates. Zur Zeit sollen dort Menschen leben. Eine kleine Stadt sogar, hat ihm sein Vater gesagt. Eine kleine Kolonie, die die Erdölförderung wieder in Angriff nehmen will. Der Junge wirft beiläufig-desinteressiert einen Blick auf die Staße. Von Sandüberhäufungen verweht, darunter brüchiger Asphalt. Die Straße ist aus grobem, improvisierten Material gebaut, aber gut. Sie funktioniert. Sein Vater und einige andere Leute aus dem Dorf beabsichtigen sogar, sich zu den Siedlern aufzumachen, der Kolonie mit dem vielversprechenden Namen Neotripolitana.

Dann plötzlich – ein Blitz. Fern am Horizont. Unwirklich, hell, immer heller. Der Junge schaut ungläubig. Unwillig-fasziniert, wie festgehalten starrt er gen Westen, auf den langsam aufsteigenden Ballon. Mit einem Mal weiß er, was die Stunde geschlagen hat. Hastig-panisch wirft er sich auf den Boden, verdeckt sein Gesicht. –

So könnte er begonnen haben – der Fünfte Weltkrieg im Jahr 2194. Die Zeitrechnung, die wir hier führen, ist die der Menschen – der Bewohner des Planeten Erde, den die IV. Alien-Förderation im Punkt X.134.1024.BX04 laut Alien-Zeitrechnung entdeckt hat. Der Fünfte Weltkrieg (wie ihn die Menschen nannten) war ein »kleiner« Weltkrieg. Er dauerte nur wenige Monate. Nach Aufzeichnung der Menschheit hat er zwischen 50 und 100 Millionen Menschenleben gekostet. In diesem Transkriptum wird er nur als Vorspiel geführt. Das Transkriptum bedient sich menschlicher Sprache (bzw. »Schrift«). Es ist weder für die Alien-Nation von Interesse (die andere, bessere Kommunikationsformen hat) noch als Log für die Raumflotten unserer IV. Sektion. Commander Ria Ahmudi als Fremdintelligenz-Beauftragte sowie Zuständige für die Konservierung fremder Zeugnisse, hat das Projekt in Auftrag gegeben, um den in unseren Visuatorien aufbewahrten letzten Expemplaren der Erdegattung Mensch ein Zeugnis zu geben über das Ende ihrer Art – und die Übernahme der Erde durch unsere Alien-Nation.

Die Konstellation am Vorabend des Sechsten Weltkrieges

Anmerkung: Wir wissen nicht, ob der Junge aus Lybien, der den Ausbruch des Fünften Weltkrieges miterlebte, überlebt hat. Auch nicht das Mädchen aus seinem Dorf, auf das er in Wohlgefallen vielleicht ein Auge geworfen hatte. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Wir wissen nicht einmal, ob es jenen Jungen gegeben hat. Jedenfalls: Sollte es ihn gegeben haben, standen seine Überlebenschancen nicht gänzlich schlecht. Der Sapiens-Weltkrieg Nummer fünf kostete lediglich jeden Hundersten das Leben (manche halten die Zahl für zu hoch gegriffen und meinen: jeder hundertfünfzigste oder zweihundertste). Was wir wissen ist, dass es nach diesem Krieg eine lange Friedensperiode gab – jedenfalls relativ. Leider hat die Menschheit ihre Chance nicht genutzt. –

Konfliktoren: Der Fünfte Weltkrieg – also der Vorläuferkrieg zu dem Krieg, den wir hier behandeln –begann nach einer nur kurzen Zwischenkriegsära. Der Weltkrieg zuvor – der vierte – hatte die klassischen, noch aus dem 20. Jahrhundert stammenden Groß- und Supermächte entgültig zerfetzt. Demütig-schuldbewußt traten sie in die zweite Reihe. Die vormaligen USA hatten sich in mehrere separate Gebiete aufgeteilt. Die Ostküste hatte mit Ost-Kanada fusioniert und versuchte, als Regionalgroßmacht wieder Einfluss zu gewinnen. Die Russische Förderation war aufgrund des massiven Interkontinentalraketenbeschusses weitgehend zu einer radioaktiv verseuchten Wüste geworden. Übrigens auch die Ukrainische Republik – seit Beginn des 21. Jahrhunderts ein verelendetes Hinterhof-Protektorat, dessen Verwaltung (und Ausbeutung) sich zuvor westliche Usurpatoren, Militärdienststellen, internationale Konzerne und lokale Oligarchenfamilien geteilt hatten. Zwischenzeitlich hatten sich neue Mächte gebildet. Wieder einmal waren die Landkarten umgezeichnet worden. In der Mitte von Europa: Deutschland, dass mit den prosperierenden Mächten in Südasien und Lateinamerika konkurrierte.

Global gesehen war »Sechs«-Vorläufer »Fünf« ein Schlagabtausch – ein zeitweilig mit ABC-Waffen geführtes Ping-Pong zwischen den alten und den neu entstandenen Großmächten. »Global« war dieser Konflikt lediglich deswegen, weil er zwischen Staaten und staatsähnlichen Gebilden auf vier Kontinenten ausgefochten wurde. Die Folgen waren zwar gravierend. Allerdings: Da die technische Infrastruktur nicht total in Mitleidenschaft gezogen worden war, währte der Wiederaufbau lediglich einige Jahrzehnte. Die Länder prosperierten – wenn auch von diesem Aufschwung nur einige wenige Staaten wirklich profitierten (und die eingangs als Fiktion beschriebene Situation mit der lybischen Wüstenkolonie sicher ein nicht untypischer Durchschnitt war). Wie auch immer – es ging weiter: achtzig Jahre, unterbrochen lediglich durch einige größere Terrorattacken subnationaler Gebilde. Die Erde hätte sich erholen, alles wieder gut werden können. –

Die gute Frage, warum man den Sechsten Weltkrieg nicht vermeiden konnte, wurde auch von den Zeitgenossen bereits gestellt. An neuen Arbeiterkämpfen, an teils heftig ausgefochtenen sozialen Auseinandersetzungen hat es nicht gemangelt. Die Linke war bereits in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts wieder in die Offensive gegangen. Doch es kam anders. Die neuen Imperien waren schneller. Ein Aufstand nach dem anderen wurde von Militär massakriert, von Special Forces aus der Luft niederkartätscht, von Geheimagenten infiltriert oder durch gezielten Ressourcenentzug mürbe gemacht. Allein die Wasserkriege in Nordafrika und im westlichen Asien kosteten x-Millionen Menschen das Leben. Im 22. Jahrhundert verlegte sich die verbliebene Linke zunehmend auf blanquistische Techniken. Staatsstreich plus Volksfront-Bewegungen plus kleine, klandestine Zellen – das war die neue, zeitgemäße Kampfesform in den immer mehr zusammenwachsenden metropolitanen Zentren.

Doch es nutzte nichts. Die Volksfront-Regierungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden alle zerrieben. Die Option einer einheitlichen Weltregierung rückte wieder in weite Ferne. Nach einem kurzen, von den Transatlantischen Staaten von Großbritannien und Großamerika bestimmten Superimperium sortierte sich die Landkarte wieder in kleinere Einheiten auf. Auf der einen Seite standen Euro-Deutschland, die in der USAGB zusammengeschlossenen Entitäten der ehemaligen angelsächsischen Ära, der Südafrikanische Bund und die Großarabische Liga. Auf der anderen eine Konförderation mittelgroßer Länder und Bündnisse. Zu denen auch Lybien gehörte.

Auslöser des Sechsten Weltkriegs war eine diplomatische Verwicklung, eine Banalität. Zwar hatten die beiden Bündnisse schon zuvor um Rohstoffe konkurriert. Darüber hinaus stand mehr und mehr die Kontrolle des Weltnetzes im Mittelpunkt der jeweiligen Agenda – implementierte Chips, elektronische Fußfesseln und Überwachungsequipment in Bezug auf die eigenen Bürger, aber auch die immer weiter expandierende E-Unterhaltungsindustrie sowie Biotech-Patente, das neue Gold der internationalen Konzerne. Es war eine Ära der Prosperität, des Friedens und der gefühlten Sicherheit. Genauer: Aufgrund der vorhergegangenen Abrüstungsrunden glaubte niemand mehr, dass es zu einem weiteren Globalkrieg kommen würde.

Wie konnte es trotzdem zu einem weiteren Weltenbrand kommen? Wo doch schon lange Special Units die moderne Kriegsführung bestimmten, großangelegte Cyber-Attacken oder auch Manipulationen moderner DNA-Techniken? War nicht alles befriedet, Krieg lediglich eine lokale Erscheinungsform – ausgefochten einerseits von auf dem illegalen Billigmarkt aufmunitionierten Steinzeitkriegern und Metro-Terroristen, andererseits von spezialisierten, hochtechnisierten Elite-Kampfrobotern? Es begann mit den üblichen Differenzen – jener Sorte Händel, welche die Menschheit bereits von Anbeginn an begleitet. Ausgangssituation waren auch diesmal scharfe Töne, konkret: vermehrte Drohungen der lateinamerikanischen Länder gegenüber Europa, die Lizenzbestimmungen für die Herstellung fortentwickelter Mais-Präparate zu verschärfen. Zusätzlich drohte im Nahen Osten ein weiterer Wasserkrieg.

Um den eigentlichen Kriegsauslöser richtig zu verstehen, muß man wissen, dass Jopp Klaassen, der Kanzler der Europäisch-Deutschen Förderation stark dem Alkohol zugetan war (Anm.: einem »Getränk«, dem die Sapiens-Gattung wohl allgemein sehr zusprach – obwohl es zu jener Zeit wohl nur noch den begüterten Schichten der Bevölkerung zugänglich war). Als der lybische Botschafter Klaassens Ultimatum (bezüglich der Assoziation der Nordafrikaner mit der lateinamerikanischen Förderation) mit dem Satz »Von einem vollalkoholisierten holländischen Kantinekäsebrötchen wie dir lass ich mir nix sagen! So wie beim letzten Mal macht ihr das nicht mehr mit uns!« beantwortete, soll Klaassen – so die Überlieferung in den Geschichtsbüchern der Sapiens-Spezies – sich in volltrunkenem Zustand in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und von dort aus den Beschuss Nordafrikas mit den ersten Atomarsprengsätzen angeordnet haben.

Der Verlauf des Sechsten Weltkrieges

(Um diese einführende Abhandlung für »lesende« Exemplare der von der Förderation noch vorrätig gehaltenen Gattung Sapiens nicht unnötig kompliziert zu machen, wollen wir uns auf die wesentlichen Stationen beschränken. Darüber hinaus geben wir den Verlauf in der Sprache wieder, wie wir sie aus erhaltenen Aufzeichnungen damaliger Politiker entnommen haben. -- beauftragt und abgezeichnet: Ria Amuhi, Kulturbeauftragte der Förderation)

Erst brannte Klaassen den unbotmäßigen Lybiern schwer eins auf den Pelz. Diesmal besser als beim letzten Mal, als man lediglich die Siedlungen rund um die ehemalige Hauptstadt ins Visier nahm. Ganz Nordafrika wurde mit Interkonti-Raketen plattgemacht. Dann traten wieder mal die Snobs auf den Plan, die sich nie raushalten können. Die Briten sabotierten das europäische Netz. Die noch verbliebenen Entitäten in Mittelost- und Osteuropa hatten offensichtlich noch ein paar Karten in der Hinterhand. Deutschland bekam ebenfalls ein paar Raketen ab. Berlin wurde ausgelöscht. Köln wurde ausgelöscht. Deutschland löschte dafür London aus. Die Amerikaner (Puritanische Union) landeten Truppen in Frankreich an. Deutschland stabilisierte die Front südlich von Paris, wurde jedoch von Osten aus nunmehr bedrängt. Die Amerikaner (Western State) besetzten Australien. China beschoss Kanada, Truppen der Sibirischen Förderation marschierten in Nordwest-China ein. Japan blieb neutral. Die Schweiz wurde im Zug der Westkämpfe präventiv besetzt und ebenfalls ausgelöscht.

In der zweiten Phase wurden erneut unterschiedliche Staffeln von Atomsprengsätzen abgeschossen. Glücklicherweise währte sie allerdings nur kurz. Als ein Sprengsatz den Atombunker von Deutscheuropa-Union-Kanzler Klaassen final atomisierte, gab es nur noch Geplänkel. Verhandlungen wurden eingeleitet. Wie, entzieht sich unseren Kenntnissen. Die Roten Telefone, die in den Jahrhunderten zuvor noch eine wichtige Rolle gespielt hatten beim Einhegen von Konflikten, gab es nicht mehr. Unsere Experten vermuten, dass die ersten Gespräche mit Hilfe sogenannter SmartPhones wieder aufgenommen werden konnten.

Kriegsfolgen

Insgesamt dauerte der Sechste Weltkrieg nur wenig länger als der Fünfte – ein paar Monate. Die Folgen waren allerdings verheerend. Diesmal hatte rund eine Milliarde Menschen den Krieg nicht überlebt. Die Hälfte davon starb allerdings nicht aufgrund der unmittelbaren Kriegshandlungen, sondern infolge der Kriegsfolgen.

Nach dem Sechsten Weltkrieg waren die Erdressourcen auf das Allerschlimmste erschöpft. Zwar gelang es den Regierungen, binnen vier, fünf Jahre wieder eine halbwegs funktionierende (wenn auch quantitativ unzulängliche) landwirtschaftliche Versorgung sicherzustellen. Die Cyber-Attacken, Verwüstungen, Krankheiten und Post-Kriege demoralisierten die Menschheit jedoch über Jahrzehnte. Hinzu kamen kleinere Kriege, die infolge des Großen ausbrachen. Ein Zeitgenosse verglich den Lebensstandard nach dem »Großen Krieg«, wie er genannt wurde, mit dem des 17. Jahrhunderts: »Man sieht allerorten Not und bitterste Armut. Die Menschen haben nicht das Notwendigste. Andererseits sieht man ambitionierteste Technik – Retundanten, das neueste Modell intelligenter Roboter. Allerdings: Auch die politisch Verantwortlichen geben zu, dass die Roboter das Problem des Wiederaufbaus und der Versorgung mit dem Nötigsten nicht lösen können.«

Wie schlimm der sechste Weltkrieg der Menschheit war, wird man vielleicht daran ermessen können, dass es von seinem Ende aus fast 100 Jahre dauerte, bis die Sapiens-Gattung schließlich den letzten, finalen dieser Art führte: den Siebten Weltkrieg.

*

In der nächsten Folge: als Einschub und Auflockerung ein ganz anderes Thema. Ria Ahmudi verrät im Interview, warum die Aliens acht Geschlechter haben, wie das Sex sehr vielfältig macht, und welche Pläne die IV. Alien-Förderation in Bezug auf die letzten Exemplare der Menschheit hat.

Das bislang als verschollen geltende Sapiens-Transkriptum von Ria Ahmudi, Sonderbeauftragte der IV. Alien-Flotte, bescheibt, wie es zur Vernichtung der Menschheit gekommen ist. Hier: Teil 1 zu Vorgeschichte und Verlauf des Sechsten Weltkriegs.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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