Die russische Karte

Griechenland Alexis Tsipras sucht den Ausbruch: Treffen mit Putin, Teilnahme an der Parade zum 8. Mai. Die »russische Karte« ist folgerichtig – und erhöht die Kriegsgefahr weiter.

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Wird impertinent und spielt die »Russische Karte«: Alexis Tsipras. Foto: FrangiscoDer. Quelle: Wikipedia / Wikimedia Commons. Lizenz: Creative Commons »Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert«

Alexis Tsipras ist ein mächtiger Mann. Nicht nur als Regierungschef des Linksbündisses Syriza und neue Hassgestalt für die politischen Eliten in Brüssel und Berlin. Die wahre Macht von Tsipras, seiner Regierung, ihrer Unterstützer, Anhänger und Wähler liegt möglicherweise darin begründet, dass die real existierende Welt längst nicht so marktradikal ist, wie es die Apologeten des neuen Worldwide Models »marktkonforme Demokratie« gerne hätten. Jüngster Faux pas der Griechen: Anstatt zu Kreuze zu kriechen und das Land zum Wohl der hiesigen Anleger, Banken und Heuschreckenfonds weiter kaputt zu sparen, bändeln die Syriza-Leute nunmehr mit Russland an.

Logisch? Nicht für jeden. Wie zu erwarten, läuft das Medienkartell des »Geberlands« Deutschland zu neuerlicher Empörungs-Hochform auf. Spiegel Online: »Russland-Reise: EU-Parlamentspräsident warnt Tsipras«. Die Welt: »Schuldenkrise: Tsipras sucht jetzt neue Freunde in Moskau«. Die Zeit: »Griechenland: Tsipras spielt die russische Karte«. Die ARD-Nachrichten geben sich ebenfalls besorgt: »Vor Tsipras-Reise nach Moskau: Zwischen Gelassenheit und Sorge«. Wie üblich bringt BILD die neuen Feindbilder am saftigsten auf den Punkt. Headline am Ostersamstag: »Treffen Tsipras-Putin vorgezogen: Kommt die neue Achse Moskau-Athen?«

Die Gnadenlosigkeit der Auster

»Achse« – das klingt so, wie es vermutlich gemeint ist – nach Chamberlain, München und »Sudetenkrise«. Indess: Was die in den Diensten leidlich begüterter Medienmagnaten stehende Lohnschreiberzunft nicht verstehen will (sie bringt es nicht einmal fertig, ihren Lesern die Doppelbedeutung der angeblichen Kompromiss-Sprachregelung »Institutionen« zu erklären – die es historisch schon einmal gab im Kontext der Inquisition), hat durchaus seine Logik. Nach zehn Wochen im Amt ist auch dem merkeltreuesten deutschen Staatsbürger klar, dass der griechischen Regierung eigentlich nur zwei Alternativen verbleiben: a) den von Brüssel/Berlin diktierten Sparkurs ohne Wenn und Aber zu akzeptieren, b) den Befreiungsschlag zu wagen – notfalls mit unkonventionellen Mitteln.

Das griechische Drama, dass sich vor unseren Augen vollzieht, hat einen materiellen und einen psychologischen Aspekt. Der materielle ist so simpel wie brachial: Die griechische Bevölkerung ist an der Grenze ihrer Leidensfähigkeit angelangt. Auf neudeutsch formuliert: Krebskranke Kinder erst im Endstadium behandeln geht überhaupt nicht. Der gemeinsame Nenner des psychologischen sind zwei ebenso einfach zu verstehende Gefühle: zunehmende Wut und zunehmende Erbitterung – zusätzlich befeuert durch die historische Erfahrung mit der Nazi-Wehrmacht und neuem deutschen Reparationen-Herumgetrickse.

Eigentlich müßte sich jeder intelligente Mensch die Frage stellen: Warum wundern sich die Deutschen eigentlich darüber, dass aus dem Wald nunmehr ähnliche Töne herauskommen wie die, die man jahrelang hereingerufen hat? Die Frage ist allerdings müßig. Deutschland – und mit ihm der vom lokalen Hegemon angeführte EU-Block sowie die führende Freihandels-Imperialmacht USA – sind zwischenzeitlich in den Vorkriegsmodus geswitcht. In dem siegen bekanntlich nicht die besseren Argumente, sondern die Power der Feindbilder. Spätestens seit der Ukraine-Krise und dem eskalierenden Syrien-Krieg servieren auch die deutschen Propagandakompanien die Feindbilder im Zwölfstundentakt. Deren Inhalte sind nicht mehr putzig wie im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends (inkompetente Sozis wie Beck & Ypsilanti, die Linkspartei oder ein dem bürgerlichen Easy Going zu sehr zugetaner Bundespräsident). Sie sind von der Sorte, die richtig Angst machen. Und solche verbreiten. Vor Russland. Vor Putin. Der IS. Und seit Februar: den insubordinenten Griechen.

Call of Duty oder: »The Great Game«

Die Welt befindet sich im Vorweltkriegs-Modus. Wann die finale Eskalation ausbrechen wird, weiß gegenwärtig niemand. Ebenso, wie sie verlaufen wird. Wird sich das Freihandels-Imperium aus USA, EU und Bundesgenossen als siegreich erweisen? Oder steuern wir unentrinnbar auf den finalen Zivilisationscrash zu? Sind wir vielleicht schon mittendrin, wie einige meinen? Auslegungssache. Sicher – es flackert und brennt an zunehmend mehr Ecken auf der Welt. So brutal diese lokalen Kriege allerdings auch sein mögen und so abscheulich einzelne ihrer Aspekte: Im Großen und Ganzen gleicht die Situation nach wie vor eher einer Vorkriegssituation als der Realität eines entgrenzten Weltkriegs. Im Detail verändern sich allerdings die Parameter. Die Krisenherde verdichten sich: ein brandneuer Krieg im Jemen, Terror in Kenia, ein Amokflug, der das Land beschäftigt. Woher kommt die Gewalt, die Erbitterung? Auch die Übereinkunft im Atomstreit mit dem Iran kann bei alldem nicht recht froh stimmen. Zu sehr steht den US-Vertretern die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Kurz gesagt: das Bild einer Vorkriegszeit verdichtet sich ähnlich wie ein Puzzlebild, bei dem ein Puzzleteil zum nächsten hinzukommt.

Vielleicht bleibt uns eine kleine Gnadenfrist gewährt – ein paar Jahre, fünf oder gar zehn. Die finale Auseinandersetzung jedoch scheint unentrinnbar näher zu rücken. Sicher: Noch geraten die Schurken (in den Augen des westlichen Imperiums) eher vereinzelt als gebündelt ins Visier des Freihandelsblocks – als (selbst hochgepäppelte, später jedoch aus dem Ruder gelaufene) Terrormiliz, als mit Wirtschaftssanktionen oder Bürgerkrieg überzogener Schurkenstaat oder eben als säumiges Schuldnerland. Mit Russland und den BRICS-Staaten gewinnt die neue Weltkonstellation allerdings zunehmend einen Konterpart auf Augenhöhe. Ein weltpolitischer Fakt, der einiges ändert.

Dass die Russische Förderation zunehmend zum neuen »Reich des Bösen« avanciert, hat im Rahmen dieser Logik nur seine Logik. Putins Russland bietet dem Westen nicht nur machtpolitisch die Stirn. Das dazugehörige Staatsmodell, die »gelenkte Demokratie«, bietet auch wirtschaftspolitisch durchaus Alternativen zum marktradikalen Katastrophen- und Verarmungskapitalismus. Markenzeichen: Während der Westen seine Institutionen zunehmend unter dem Aspekt der »Marktkonformität« abklopft, verschmäht man zwar auch im Osten keinesfalls die Auster. Allerdings gibt es Spielregeln: Bereicherung, Kapitalismus, Oligarchen – Ja. Letztliche Entscheidungsinstanz bleibt jedoch der Staat. Er fungiert – notfalls mit autoritären Mitteln – als Obwalter der normalen Bürger und Bürgerinnen, als Institution für Interessenausgleiche und – in dem Punkt haben die westlichen Kritiker einfach Recht – das Gedeihen des Staates selbst.

Für den neuen Staatsenthusiasmus der russischen Bevölkerung gibt es durchaus gewichtige Gründe. Ein wesentlicher Mitgrund für Putins Popularität ist die neuere historische Erinnerung. Konkret: die Erinnerung an die schlimmen Jelzin-Jahre, als Oligarchen und Unterwelt-Gruppen sich hemmungslos bereicherten, das volkseigene Vermögen an ausländische Investoren verscherbelt wurde und viele normale Russen im Winter nicht mehr heizen konnten. Präsident damals: jener Jelzin, der 1993 das Parlament auflöste und das Militär gegen die demokratisch gewählten Institutionen aufmarschieren ließ, und im Westen dafür als Musterdemokrat und Russlands Liberalisierer gefeiert wurde.

Eine logische Liebe

Diese Zeiten sind nun vorbei. Die Russische Förderation erfreut sich zwischenzeitlich nicht nur eines bemerkenswerten Wohlstandes (wenn auch zum guten Teil auf der Basis fossiler, das heißt: endlicher Energien). Mit der BRICS-Staatengruppe sowie der Eurasischen Wirtschaftsunion entfaltet dieses Modell staatsgelenkten Kapitalismus auch weltweit zunehmende Ausstrahlungskraft. Attraktiv sind die Wirtschaftsaufsteiger Russland, China, Brasilien und Indien vor allem für jene Länder, die sich entweder chronisch vom Westen bedrängt sehen (Iran, Syrien, Kuba, Venezuela, Equador) oder aber in die Freihandels- oder Schuldenfalle geraten wie Griechenland, das Gros der Balkanländer und demnächst vielleicht die Türkei.

Freunde gewinnen könnte die (de facto) keynesianische, staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik von Russen und Chinesen auch in den gebeutelten Wirtschaften der EU-Südländer. Dass die EU in einem prekären Zustand ist und möglicherweise auf eine Spaltung oder gar Auflösung zudriftet, pfeifen mittlerweile die Spatzen von den Dächern. Zwar sitzen in Spanien, Italien, Portugal und Frankreich (noch) mehr oder weniger in der Spur laufende Erfüllungsgehilfen der Finanzeliten an den Schalthebeln der Macht. Das könnte sich allerdings schnell ändern. In Spanien steht eine weitere linke Alternative in den Startlöchern. In Frankreich und Italien wird das Unbehagen zwar (noch) von Rechtspopulisten (FN) sowie einer politisch diffusen Bewegung (Movimento Cinque Stelle) aufgefangen. Die durch die Austeritätspolitik fortschreitende Verelendung dürfte allerdings auch dort für stärkere Sozialproteste (und eventuell ein Comeback der Linken) sorgen. Das finale Ende der EU, wie wir sie kennen, dürfte spätestens 2017 im Raum stehen – dann, wenn die Briten über den weiteren Verbleib in der Union abstimmen. Was bleibt dann übrig? Möglicherweise das austerisierte Kerndeutschland, ein paar prekäre Gebilde westlich davon sowie ein paar neoliberalisierte Staaten in Ostmitteleuropa – wie bislang wohl lavierend zwischen dem starken Nachbarn im Westen und der militärisch potenten Supermacht USA.

Fazit

Möglich, dass der Flirt der neuen griechischen Regierung mit Russland die beschriebenen Auflösungsprozesse beschleunigt. Soll man deswegen vor einem »balkanischen Venzuela« warnen – wie es ein aktueller Leitkommentar im Print-Freitag tut? Hat das »balkanische Venezuela« nicht eine gewisse Zwangsläufigkeit – unabhängig davon, ob Syriza oder die griechische Normalbevölkerung den Bruch mit der EU will? Umgekehrt gefragt: Ist es nicht clever, die »Russische Karte« zu spielen – um aus der Strangulierung seitens Merkel-Deutschland und der von den »Institutionen« vertretenen Gläubigerbanken herauszukommen? Noch pointierter gefragt: Haben die Griechen nicht das Recht, sich da hin zu wenden, wo – möglicherweise – Hilfe zu besseren (und: nicht so erniedrigenden) Konditionen lockt?

Realpolitisch gedacht hat es fast eine Zwangsläufigkeit, dass die zu Underdogs und Bittstellern gemachten Staaten mehr und mehr zusammenfinden. Wie es letztlich funktioniert, ist dabei weniger die Frage. Erst einmal erhält der Westen – insbesondere dabei auch Deutschland mit seinem in Sinn der eigenen Eliten durchgezogenen Spardiktat – die Quittung, die er durch seine überzogene, maßlose und vom Auftreten her selbstgerechte und heuchlerische Politik provoziert hat. Vielleicht sogar einen Schuß vor den Bug der vor Selbstbewußtsein überschäumenden Marktideologie. Ob auch die Groupies von Hayek und Friedman lernfähig sind? Man darf skeptisch sein. Wer dies glaubt, unterstellt nämlich immer noch, der Neoliberalismus sei ein nach vernünftigen Maßstäben funktionierendes Modell – und nicht nichts weiter als institutionalisierte Gier und ideologisch verbrämter Bereicherungswille nach dem (bei der Popgruppe Abba geklauten) Motto The Winner Takes It All.

Die politische Haben-Seite dieser Austeritätspolitik: Die Kriegsgefahr war seit 1945 noch nie so hoch. Ob Militärputsche in Szene gesetzt werden, neue Bürgerkriege ausbrechen oder ob zwei, drei Entscheidungsträger die Nerven verlieren und in einem Anfall von Siegeszuversicht den Weltenbrand entfachen: Wie die Weltlage derzeit erscheint dreht sich die Frage derzeit nicht das Ob«, sondern lediglich um das »Wann«.

Auch der Erste Weltkrieg endete im Sinn derjenigen, die ihn vom Zaun brachen, bekanntlich ziemlich suboptimal. Was weder Zar noch Kaiser davon abhielt, das große Spiel zu wagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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