Lassen Sie einwandern!

Weg aus Deutschland Gesellschaft gespalten; dazu ein Staat, der zunehmend an Orwell erinnert. Das einzige, was da noch bleibt: Auswandern. Frage: Wer schützt vor den deutschen Verfolgern?

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Ihre Freitag-Redaktion

Sehr geehrter Monsieur Hollande, sehr geehrter Signor Letta, sehr geehrter Senor Rajoy, sehr geehrter Herr Rutte, sehr geehrter Herr Maurer, sehr geehrte Frau Thorning-Schmidt, sehr geehrter Herr Tusk,

Die Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Oktober dieses Jahres Wahlen anstehen, ist ihnen sicher geläufig. Für Sie als amtierende Regierungschefs – in Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, der Schweiz, Dänemark und Polen – wird sich durch den Wahlausgang voraussichtlich wenig ändern. Auch die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Ihrem und unserem Land wird das Ergebnis – so ist jedenfalls zu hoffen – wenig beeinträchtigen. Wenig Veränderung wird es auch in Deutschland selbst geben – und das unabhängig von der Tatsache, welche Parteienkonstellation nach der Wahl die Regierungsgeschäfte übernimmt.

Exportnation Deutschland: Koloss auf tönernen Füßen

Der Grund für diese persönliche Ansprache ist der, dass auch in Deutschland die Anzahl der Menschen wächst, welche die deutsche Innen- und Außenpolitik mit wachsender Sorge betrachten. Dies betrifft sowohl die innereuropäische Politik der Regierung Merkel als auch die gesellschaftliche Polarisierung, welche sich in Deutschland seit längerer Zeit verfestigt. Auf der einen Seite ist der Staat, in dem ich lebe, führende Exportnation der EU. Darüber hinaus auch politisch stark tonangebende Kraft. Die Bevölkerung in diesem Land – jedenfalls der Teil, der nicht auf der Sonnenseite aufgewachsen ist – erlebt allerdings nahezu täglich, welche gesellschaftlichen Probleme, Langzeitschäden und Deformationen die Politik in unserem Land nach sich zieht.

Die wichtigsten Punkte kurz skizziert: Das Exportvolumen der deutschen Industrie (vor allem Automobil- und Hochtechnologie) erscheint von außen gesehen zwar beeindruckend. Gesamtgesellschaftlich steht der „deutsche Koloss“ allerdings auf tönernen Füßen. Der High-Tech-Sektor ist schlecht unterfüttert. Einem personell schrumpfenden, auf High-Tech-Industrie beruhenden Kernsektor steht ein stetig weiter ausmäandernder staatlicher Bürokratiesektor gegenüber. Der große Rest – abseits des großen Geldes und irgendwo dazwischen – ist zwar irgendwo existent. Allerdings bekommt er auf vielfältigste Weise die Botschaft vermittelt, dass er auf hinteren, nachrangigen Plätzen rangiert. Ergebnis: Die deutsche Gesellschaft ist zwar nach wie vor reich. Ebenso auch, wie die in Ihrem Land, vielfältig und ausdifferenziert. Die Disparitäten in vielen Bereichen steigen allerdings deutlich. Eine wesentliche Auswirkung ist eine stetig anwachsende soziale Spaltung und Ausgrenzung – nach Meinung vieler Kritiker politisch gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen. Von seinen Hightech-Maschinen abgesehen, ist Deutschland erstaunlich wenig exportfähig. „Exportierfähig“, notfalls über Brüssel hinaus, wären allenfalls seine Verwaltungskorps. Vielleicht noch seine zahlreichen Juristen, Unternehmensberater und PR-Agenten. Aber von denen haben Sie sicher selbst genug. Darüber hinaus ist es ein Allgemeinplatz, dass Rechts- und Unternehmensdienstleistungen allein keine Volkswirtschaft tragen. Von einer lebenswerten, prosperierenden Gesellschaft erst gar nicht zu reden.

Betrachtungen anzustellen über die Ursachen der sozialen Schere in Deutschland (und die neoliberale Politik, die meines Erachtens dazu geführt hat) würde an dieser Stelle zu weit führen. Folge ist allerdings, dass wachsende Teile der Bevölkerung beruflich und sozial gedeckelt, gesellschaftlich an den Rand gedrängt und mit administrativen, repressiven, zum Teil existenzvernichtenden Maßnahmen überzogen werden. Auch dort, wo die Zustände nicht so dramatisch sind, kann man sagen, dass Deutschland sein kreatives Potenzial eher brachliegen lässt oder behindert, als es zu nutzen. Das katastrophale Abschneiden unseres Bildungssystems bei den PISA-Studien ist Ihnen sicher bekannt. Auch was die Einhaltung mitunterzeichneter Bürger- und Menschenrechtsstandards anbelangt, berichten deutsche Medien zwar über die regelmäßigen Rügen seitens internationaler Institutionen wie zum Beispiel der UNO – allerdings vergleichsweise selten über eine Wende zum Besseren. Ein Beispiel, welches auch in Ihrer Presse Furore machte, ist leider symtomatisch für die derzeitigen Zustände in Deutschland: die Verwicklungen staatlicher Geheimdienste in die Verbrechen der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU).

Warum sich Einwandererkontingente für Sie lohnen

Fazit: Deutschland hat sich, zumindest mittelfristig, für ein System der politisch gewollten Ausgrenzung und Bürgerrechts-Deckelung entschieden – für die Erfolgsformel „High-Tech plus Bürokratie plus EU-Führungsrolle“. Einfacher ausgedrückt: für die Durchhalteparole „Augen zu und durch“. Sicher sind die Verhältnisse in unserem Land vielerorts vergleichsweise kommod. Nichtsdestotrotz macht sich bei Millionen existenzielle Unzufriedenheit breit. Hunderttausende sitzen mittlerweile vermutlich auf ihren Koffern, sehen sich um, wägen bereits Optionen ab. Daher mein praktischer Vorschlag: Schaffen Sie in Ihren Ländern Einwanderungskontingente für auswanderungswillige Deutsche! Eine weitere Bitte: Eruieren Sie, ob die Klauseln Ihrer Asylgesetzgebung nicht erlauben, Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland Asyl zu gewähren!

Sicher lässt sich einwenden: Die vereinbarte Wohnort-Freizügigkeit ermöglicht auswanderungswilligen Bürgern auch so, sich in EU-Ländern bzw. der Schweiz niederzulassen und beruflich dort tätig zu werden. Das ist richtig. Aus der Sicht derjenigen, die solche Optionen abwägen, sind die bestehenden Regelungen allerdings unbefriedigend. Der erste Grund wird ihnen als Regierungschef Ihres Landes sicher nicht unbekannt sein: die „typisch deutsche“ und in den Folgen leider sehr gründliche Verfolgungswut unserer Sozialbürokratien. Folge: Deutsche Versicherungsträger, Fiskalbehörden sowie andere Ämter stellen Rentnern in Thailand mittlerweile ebenso nach wie Auswanderern, die sich – beispielsweise auf Gomera – als Existenzgründer ein neues Leben aufgebaut haben. Gründe für den langen Arm des deutschen Gesetzes: in aller Regel Lappalien, Formalien und Bagatelldelikte – für deutsche Staatsdiener jedoch Anlass, bisweilen eine Verfolgung um die halbe Welt in Gang zu setzen (und Ärgernis in der halben Welt, diesen Ansinnen jeweils nachkommen zu müssen).

Last Exit „Hugenottenkontingente“?

Was den Verfügungsanspruch über die eigenen Bürger anbelangt, gibt es durchaus Gründe für die Ansicht, dass derjenige der Bundesrepublik Deutschland sich mehr und mehr an denjenigen der ehemaligen DDR „heranarbeitet“. Allerdings gibt es genügend positive Gründe, deutsche Einwanderer gezielt in Ihr Land zu laden. Deutsche, die mit der Option spielen, (für immer) wegzugehen, sind ideale Kandidaten: integrationswillig, in der Regel kosmopolitisch und tolerant eingestellt, gut ausgebildet, mit Improvisationsgabe gesegnet und von daher sicher eine Bereicherung für Ihre Länder. Ein weiterer Vorteil: Diese Menschen würden zu Ihnen als Staatsbürger kommen. Als Menschen, die einen Neuanfang wagen, wären sie sicher motiviert, mit Ihnen zusammen dazu beizutragen, die Vielfalt und Bürgerschaftlichkeit Ihrer Nationen zu erhalten und sie nach Kräften zu verbessern.

Was fehlt, ist ein Signal, eine freundliche Einladung. Warum Ihr Land? Frankreich, um mit der „Grande Nation“ anzufangen, hat eine reiche, stolze Erfahrung als Staatsbürgernation. Für die Vielfalt seiner Lebensentwürfe ist es weltweit bekannt. Ebenso die Bürgerschaftlichkeit der Niederlande sowie die sprichwörtliche Toleranz seiner Bürger und Bürgerinnen. Ähnliches gilt für die Schweiz – ein Land, das weitaus mehr aufweist als lediglich dubiose Bankkonten und Berge (wobei letztere allerdings wirklich phänomenal sind). An unserem kleinen Nachbarn Dänemark schätzen wir vor allem die unaufgeregte, freundliche Art seiner Bürger. Italia, Signor Letta: Ihr Land ist für viele von uns nicht nur die Wiege der Zivilisation (und, darüber hinaus, von guter Pasta). Die Improvisationskraft, Lebensfreude sowie der vielgerühmte familiäre Zusammenhalt seiner Einwohner sind Vorbilder, von der wir uns in unseren gemäßigten Breiten ruhig die ein oder andere Scheibe abschneiden könnten. Spanien hat einen beeindruckenden Weg hinter sich: von den bleiernen Jahren der Franco-Diktatur hin zu einem interessant-innovativen Land mit Menschen, die nicht nur für ihr sprichwörtliches Temperament, sondern auch für ihre Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit berühmt sind. Mit Polen schließlich ist uns ein moderner Nachbar an unserer östlichen Grenze erwachsen. Beeindruckend finde ich nicht nur die Improvisationsgabe seiner Menschen, sondern auch ihren Humor sowie ihre wundersame Kraft, sich selbst in widrigsten Verhältnissen zurechtzufinden.

Aber: Nehmen die potenziellen Einwanderer Ihren Bürgern nicht die (sowieso knappen) Jobs weg? Die ehrliche Antwort: Jein. Im ein oder anderen Fall, konkret vor Ort, mag das sicher der Fall sein. Mittelfristig jedoch wird das Gros der von mir anskizzierten Personengruppe die Realwirtschaft ihres Landes weiter unterfüttern – etwa als Kneipier auf Fuerteventura, als Software-Spezialistin in Warschau, als Eventmanagerin in Amsterdam, als Krankenpfleger in Zürich, als Motorradladenbetreiber in Kopenhagen, als Bio-Landschaftsgärtnerin in Umbrien oder als Fliessenleger in Aix-en-Provence. Deutschland tut zwar so als ob. Die traurige Wahrheit ist allerdings, das Deutschland diese Menschen nur noch zu Abschreckungszwecken benötigt. Genauer: um die große Masse der Bevölkerung auf Linie und in stetiger Angst zu halten. Und – tun sie uns allen einen Gefallen. Gemessen am Perfektionswahn deutscher Behörden sind die Biografien einiger Einwanderer vielleicht beanstandenswert. Rat daher, und durchaus auch aus politischen Gründen: Wagen Sie den Konflikt! Kündigen Sie die Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen mit Deutschland auf – oder beschränken Sie die Liste zumindest auf stichhaltig nachgewiesene Kapitaldelikte! In 99,9 Prozent aller Rechtshilfeersuchen geht es um Bagatellen, um Akten in Deutschland und Bürokraten, die ihren Mitmenschen das Leben vermiesen möchten. Falls Ihre Länder doch noch in größere Turbulenzen mit der neuen EU-Supermacht geraten sollten: Viele derjenigen, die in ihrem Land eine neue, dauerhafte Heimat gefunden haben, wären notfalls sicher bereit, zusammen mit ihren neuen neuen MitbürgerInnen ihren staatsbürgerlichen Beitrag gegen drohende „Kavallerieattacken aus Fort Yuma“ zu leisten.

Vor 300 Jahren wurden überall in Europa Hugenotten verfolgt. Einer der ersten Staaten, der Hugenottten gezielt Zuflucht bot, war das kommod-absolutistische Preußen. Herkunftsländer der Flüchtlinge: das absolutistische Frankreich sowie die ebenfalls absolutistische Erbmonarchie Habsburg-Österreich. Die Hugenotten in Preußen haben sich bekanntlich zu einer prosperierenden, sehr innovativen Bevölkerungsgruppe entwickelt; Preußen hat erwiesenermaßen von ihnen profitiert. Einer ihrer vielen Nachkommen ist übrigens der derzeitige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Wie Sie sehen, haben sich Konflikte in Europa manchmal durchaus gelohnt. Also: Öffnen Sie die Tore für die reale deutsche Dienstleistungs-, Bildungs- und Arbeitsgesellschaft! Schaffen Sie Kontingente, und bieten Sie sie offensiv an. Und: Schützen Sie Ihre Neubürger und -bürgerinnen vor den Zugriffen deutscher Behörden. Wie das gute Beispiel des deutschen Verteidigungsministers zeigt, kann sich eine solche Innovation durchaus lohnen.

mit herzlichen Grüssen Richard Zietz

Richard Zietz bloggt bei freitag.de. Darüber hinaus betätigt er sich als kritischer Autor bei dem Online-Portal Wikipedia.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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