Musik-Sixpack zur Wahlnacht

Popmusik Alle starren gebannt auf die Wahlausgänge in Bayern und Hessen. Für verhaltenes Feiern ebenso wie den Absturz nach zehn Uhr – ein Sixpack mit geeignetem musikalischem Background.

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Die Prognose: So wird wird es Sonntagabend auf keiner Wahlparty zugehen

Ich mache an der Stelle mal etwas absolut Unvernünftiges. Nicht nur, weil ich ein Musikblog verfasse, dass bereits am Montagmorgen vermutlich Makulatur ist. Sondern wegen der stolzen Ambition, die Wagner’sche Schicksalswahl in Bayern und den Hessischen Blauen Politbock mit einer popmusikalischen Hitauslese zu garnieren. Andererseits: Trost braucht in diesen Zeiten jeder. Warum also nicht das eine mit dem anderen kombinieren? Wo doch bereits Zarah Leander, wie wir wissen, stets die geeigneten Durchhalteparolen im Repertoire hatte.

Selbstverständlich ist spätestens an der Stelle ein geeigneter Disclaimer fällig. Vielleicht der Sorte: Popmusik geht immer – die Nebenwirkungen sind Ihnen schließlich bekannt? Ganz so einfach ist es nicht. Da die Rechten auch den Kulturkampf souverän zu führen verstehen, kann es gut sein, dass es für den ein oder anderen vorgestellten Act »danach« (noch) ein wenig schwerer wird. Das richtige, vernünftige, maßvolle und gleichzeitig auch dialektische Motto dürfte so eher lauten: Alles hängt mit allem zusammen. Bleiben wir dabei und stürzen uns – mit oder auch ohne Wahlergebnisse – ins musikalische Vergnügen.

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Slowdive klingen mit ihrem Gothic-Ambient zwar recht jung. In Wirklichkeit gehören sie allerdings zu den Altgedienten des britischen Rockmetiers. Ihre (erste) Hochzeit hatten sie zu Zeiten von The Cure und Siouxsie & The Banshees. Ohne großes Aufheben verschwanden sie 1994 von der Bühne. Dem Gott des Rock’n’Roll sei es gedankt: In den 2010er-Jahren hat es sich die Band nochmal überlegt und eine Reunion auf die Beine gestellt. Seither sind zwei neue Veröffentlichungen erschienen, und speziell die letzte – frisch erschienen im September unter dem Titel Everything is Alive – hat es wirklich in sich. Nicht, dass jeder Track auf der Platte der absolute Knaller wäre. Insgesamt ist das Ergebnis jedoch: bemerkenswert. Am ähnlichsten kommt der Slowdive-Sound den guten, alten Cure – ein pulsierender, treibender Gitarren-Soundteppich und in den restlichen Aussagen wohlmodulierter Weltschmerz. Herausragendes Stück ist Kisses – ein Stück, dass nicht nur musikalisch die frühen 1990er wieder aufleben lässt. Definitiv eines der besten Stücke 2023, und auch der Clip wartet mit einem vergleichsweise komplexen, optisch auf die 1990er verweisenden Storytelling auf. Wer das Ganze in der Live-Variante sehen will, soll ebenfalls nicht leer ausgehen. Das alte Dilemma: Gelungene Clips können zwar musikalisch-visuelle Wasserstoffbomben sein. Einen hautnahen Eindruck von Band X oder Künstler(in) Y vermittelt allerdings erst ein Live-Gig – oder eine Aufnahme davon.

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Gehen wir noch weiter zurück, in die späten 1970er. Ian Dury war einer derjenigen, der – neben Gestalten wie den Sex Pistols oder den Stranglers – die selbstgefällige Artrock-Szene im United Kingdom der Mitt-Siebziger mit Punk, Ska und Garagenrock aufmischte. Ian Dury liegt mittlerweile seit fast einem Vierteljahrhundert unter der Erde. Die gute Nachricht: Der Sohn, Baxter Dury, ist der Familientradition treu geblieben und hat im neuen Jahrtausend eine zwar nicht hochbeachtete, aber immerhin solide Musikkarriere hingelegt. Die Musik des jüngeren Dury geht – wobei der Apfel hier nicht weit vom Stamm fällt – in die Richtung eines gewissen Tom Waits. Also: gut abgehangenes Songwritertum irgendwo im Bermudadreieck zwischen Rock, Chanson und, das muß auch sein, einer Prise Hip Hop. Dem Clip zu Celebrate me hätte etwas weniger Schwüle gut getan. Der Sänger allerdings – Dury – spielt mit seinem Understatement die um ihn herum drapierte Atricen-Ansammlung mühelos in den Hintergrund. Zusatz-Erkenntnis des Ganzen: Auch Rocker können rappen.

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Was in die umgekehrte Richtung – selbstredend – ebenfalls funktioniert: Der im nordrhein-westfälischen Lemgo geborene Sänger Casper wird von nicht wenigen als die große neue Hoffnung des deutschen Hip Hop gehandelt. Wer Etiketten und Schubladen mag: hat eine gewisse Stringenz, von daher – Ja. Dass Musiker(innen) oft weniger stilfixiert sind als ihre Fans, führte im Fall Casper zu seinem heutigen Haupterkennungsdmerkmal: der extrem rauhen Stimme. Zugezogen hatte er sie sich beim Singen in Punk- und Metalbands – aufgrund der damit verbundenen Komplikationen nicht wirklich lustig, aber in der Summe eine jener Lebenserfahrungen, die seinen Texten eine hohe Authenzität verleihen. Umstrittenheit ebenso: In der Szene wird Casper, so Wikipedia, für seine emotionalen Texte kritisiert und abwertend als »Emo-Rapper« bezeichnet. Da die ein oder andere Emotion in unseren ansonsten herrlichen Zeiten mit Sicherheit willkommen wäre, an der Stelle ein Liebeslied. Wobei meiner persönlichen Meinung nach Emma (ebenso wie andere Songs von Casper) ebensogut als Deutschrock-Track durchgehen könnte.

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Von Indierock und Rap zum Pop: Wenig von einer AfD in Mitregierungsverantwortung hätte vermutlich Alli Neumann zu befürchten. Die in Solingen geborene Tochter eines deutschen Vaters und einer polnischen Mutter ist Teil jener deutschen Popmusik-Kohorte, die nach Bosse, Fishmob & Co. kam und sich gerade daranmacht, das Metier Anspruchs-Popmusik »made in Germany« in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren auszurichten. In Sachen rechter Wind im Land werden es Neumann und ihre Kohorte ruhiger angehen können – zumindest den größeren Acts wird die »Alternative« selbst im ungünstigsten Fall kaum den Gitarrenstecker abklemmen können. Allerdings: Trotz des Rampensau-Faktors, über den Alli Neumann zweifelsohne verfügt, dürfte das von ihr transportierte Lebensgefühl nicht mehr so ganz die große Konjunktur haben, sollten sich die Rechten in Regierungspositionen einklinken könnnen. Bis dahin erstmal: ungetrübte Spätsommerfreude mit dem frisch online gestellten Clip with the Song Blue.

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Die Singer und Songwriterinnen hatten es schon immer etwas schwer. Zu viel Anspruch, zu viel Eigenständigkeit – das war selbst in besseren Zeiten nie gut fürs Geschäft. Die Berlinerin Andrea Schroeder hat nicht nur einen überdurchschnittlich durchschnittlichen Namen. Dass es Bariton-Stimmen wie die ihre noch gibt, hätte man – nach zwanzig Jahren Wirken von Apple, Spotify & Co. mit den Myriaden seither produzierter weiblicher Piepsstimmen – nicht für möglich gehalten. In der Regel wird Andrea Schroeder mit Nico verglichen. Rein stimmlich und von der Art der Musik finde ich den Vergleich mit der Velvet-Unterground-Muse zwar gerechtfertigt. Persönlich erinnert mich diese Blaue Mauritius unter den weiblichen Basstimmen eher an die Kanadierin Michelle Gurevich – ebenfalls eine Exotin, die ein bißchen mehr an Aufmerksamheit unbedingt verdient. Schroeders letzte Aufnahmen datieren von Mitte der 2010er-Jahre. Als Clip hier Void – ein Sorte Musik, die Söder und seine noch weiter rechts stehenden Companeros ganz sicher als »verzichtbar« auf ihrem Zettel vermerkt haben. Zusatztipp: Schroeders Einspielung von Bowies Heroes – in ihrer Version, ganz deutsch, unter dem Titel Helden.

Six ist »six« – ein Sixpack enthält sechs Flaschen und keine sieben. Trotzdem, als Nummer fünfeinhalb«, an der Stelle die Kurzvorstellung der US-Amerikanerin Allison Russell und ihrer neuen Produktion Remember. Remember ist ein ambitioniertes Projekt, bei dessen Einspielung Russell von insgesamt siebzehn Musikerinnen begleitet wurde. RnB liegt bei einer farbigen US-Amerikanerin als Etikettenbezeichnung zwar nahe. Nicht nur von den aufgegriffenen Thematiken her, sondern auch musikalisch greifen Russells Roots jedoch eher zurück die Gospel-Tradition einer Mahalia Jackson denn auf aktuelle Sprechreim-Darbietungen. »Ambient« ist die Produktion natürlich ebenso – konkret: so mit Klangteppichen durchwirkt, dass nicht nur der Kopf, sondern auch die Ohren auf ihre Kosten kommen. Anspieltipp an der Stelle: Snakelife.

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Zu berücksichtigen ist bei einer gut durchwirkten Musik-Zusammenstellung für »Wahlausgang Whatever« auch jene Generation, die mit heutigem Pop, Rock & Hip Hop wenig anfangen kann. Wie wäre es mit gut abgehangenem Folk? Zu Gesicht oder Gehör bekommt man solchen eh nur noch in folgenden zwei Spezialfällen: a) man ist entschiedener Fan, b) man informiert sich via Spartenpublikationen wie dem mittlerweile ebenfalls mit Hauptwohnsitz Netz versehenenen Spartenmagazin »Folker«. Wie auch immer: Die Hamelner Band Tone Fish eine Retro-Band zu nennen, ist im konkreten Fall keine Beleidigung, sondern eher Anerkennung eines ebenso überdurchschnittlichen wie überdurchschnittlich kontinuierlichen Musikschaffens. Dass Tone Fish ihre Banjos, Gitarren und sonstigen Instrumente nah bei denen von Marc Knopfler und seiner Ex-Band Dire Straits abgestellt haben, wird bereits bei der Auswahl der eingespielten Titel deutlich. Will heißen: Bei der Clip-Auswahl kann man bei dieser Band wenig falsch machen. Wegen der besonders gut gelaunten Live-Einspielung an der Stelle: das Stück Over in Dover.

Bliebe abschließend die Frage zu beantworten, wieso man für einen Anlass, der voraussichtlich zu einem Mix aus Polit-Armageddon und Beerdigung gerät, einen Musik-Mix auf die Beine stellt. Nun ja – erstens wissen wir es Sonntagabend alle besser. Zum zweiten reichen sechs Titel natürlich weder zum Feiern noch zum finalen Sich-Abschießen. Aus dem Grund der letzte notdürftige Grund, der als Anlass für diesen Blog strapaziert werden soll: Die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sind müde, abgekämpft, durch. Wenigstens die sollten – nach all dem Aufwand – ein bißchen was zum Feiern haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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