Ein Blick auf die russische Gesellschaft

Krimi und Leben Auf arte, möglicherweise auch auf der ARD läuft gerade eine sehr spannende Krimiserie aus Russland, die auch ein Sittenbild bietet.

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Bei der russischen Serie Eine ganz gewöhnliche Frau

geht es um Marina, die ein braves Blumengeschäft betreibt, das aber nur als Alibi für ihre Zuhälterinnendienste dient. Außerdem erwartet sie noch ein Kind, von dem sie nicht weiß, ob es gesund zur Welt kommt, aber das sie behalten will. Sie hat noch zwei Töchter und einen Mann, der gerade ein Verhältnis mit einer Krankenschwester hat. Nichts Besonderes also außer dem Zuhälterinnenjob von Marina, der mehr und mehr Ärger macht und sie in makabre Situationen bringt. Auch das organisierte Verbrechen kreuzt ihren Weg und stellt ihr ein Bein.

Die Serie ist einerseits unterhaltsam und - wenn man all die Krimi- und Spannungsanteile beiseitelässt - ein Bild der gegenwärtigen russischen Gesellschaft in den Städten.

Kalina Krasnaja - ein realistischer Film der Vergangenheit

Und das ist schon sehr lebensgetreu geschildert. Ich war vor Jahrzehnten in Moskau und weiß aus Gesprächen, dass das organisierte Verbrechen schon damals durchaus zugange war und dass es auch Verflechtungen zwischen ganz legalen Wirtschaftslenkern z. B. Betriebsdirektoren und kriminellen Leuten gab. Die kleinen Gauner waren damals schon ein Problem. Der Film des Regisseurs und Autors Wassili Schukschin, Kalina Krasnaja erzählt davon.

Westlich - neoliberal

Was nun die Serie so spannend macht, ist die Vermittlung eines Lebensgefühls, das in Moskau ganz sicherlich besonders zugespitzt ist. Es ist absolut westlich-neoliberal, lebt von der Smartphone-Communication und zeigt, dass das Streben nach dem eigenen Vorteil und dem Entkommen aus kriminellen oder allgemeinen Abhängigkeiten, die Menschen unendlich hart macht.

"Hart wie eine Sowjetmutter" mit Handy

Und da ist dann Marina, die mich ein bisschen an unseren leicht ironischen Spruch von einst "Hart wie eine Sowjetmutter" erinnert. Eine herrliche Szene ist, wie sie - nach kurzem Studium eines entsprechenden Tutorials auf Youtube - beginnt, einen Bagger zu bewegen. Da wird sie heraufbeschworen, die sowjetische Alleskönnerin. Marina ist die entwickelte Variante davon. Sie spinnt viele Fäden, wagt viel, ist höchst einfallsreich und nimmt es - listig und klug - mit dem organisierten Verbrechen auf. Die Liebe gehört ihrem - ungetreuen - Mann, den sie aus einer Intrige befreit, ihren Kindern, der Familie, aber sie lebt und liebt fast ausschließlich mit dem Handy in der Hand, entweder von unterwegs nach Hause oder von zu Hause in Richtung ihrer Gehilfinnen und Klienten oder Klientinnen. Die Darstellerin der Marina, Anna Mihalkova, ist dafür auch mit einem Preis bedacht worden. Sie verkörpert Weiblichkeit, Härte und List nuancenreich und überzeugend.

Keine Figur ohne Beschädigung

Auffällig ist allerdings auch, dass kaum eine Figur in diesem Film ohne eine persönliche Beschädigung, Alkoholismus, allgemeine Niedertracht, Brutalität davonkommt. Die Polizei ist entweder korrupt oder agiert gemeinsam mit den kriminellen Organisationen der Stadt. Das ist einfach zu viel, aber sagt schon etwas aus über die Sicht der Serienmacher auf das russische Leben. War vor vielen Jahrzehnten in der Sowjetunion der Umgang mit Sexualität total verklemmt, ist heute die sexuelle Freiheit grenzenlos und ihr Marktwert hoch, was ja auch Marina nutzt.

Es ist - bei allen Übertreibungen und Krimi-Bestandteilen - ein höchst empfehlenswerter Blick auf eine Welt, die ein orthodoxer Kirchenfürst als sittenlos verdammt, ein religiös verbrämter Regierungschef ebenso, wenn er über Gay Paraden und „Gender wettert“, sie als westlich verkommen beschreibt und zurück zu Traditionen will, wie er in einer seiner Waldai-Rede erklärt.

Wohin will Putin zurück?

In welche Traditionen er zurück will, ist nicht ganz klar, aber es scheint, dass der russische Lebensstil sich schon sehr nach Westen gewandelt hat. Er erscheint bei allen Brüchen und Gefährlichkeiten, erstrebenswert. Wobei es dabei nicht um Geld allein geht, das war früher schon ein Schmierstoff dieser Gesellschaft und dies weit offener als es der Westen zeigt. In der Gegenwart scheint es die Furcht, ohne Geld nicht mehr mithalten zu können, die es früher in dem Maße wohl nicht gegeben hat.

Die Unruhe der Herrschenden

Es stellt sich die Frage, ob dieses "Go West-Empfinden" nicht einer der Gründe ist für die Unruhe der Herrschenden in Russland. Die Suche nach etwas, das die Gesellschaft zusammenhält, das war früher die Beschwörung des gemeinsamen Kampfes um den Sieg des Kommunismus nicht nur in der Sowjetunion, sondern weltweit. Es war ein Glaubenskitt, der alles enthielt was auch andere Religionen enthalten. Vor allem aber waren öffentliche Zweifel daran verboten. Jetzt aber, in dieser neoliberalen Welt - woran halten sich die Menschen? An ein gutes Leben, an Geld, das ihnen das ermöglicht, aber mehr auch nicht. Was wird, wenn diese Gesellschaft sich weiter spaltet? Wenn nicht mehr die Befreiung der Welt als gemeinsames Ziel dient, sondern einfach nur die Behauptung Russlands in dieser Welt der geopolitischen Interessen, der reine Machtkampf. Es ist die außenpolitische Variante dessen, was auch im Lande geschieht: Mithalten wollen. Nicht absteigen.

Die Militarisierung Russlands, der Rückblick auf die Befreiungsideen vergangener Zeiten, das scheint als eine Art Verbindungsmörtel der Gesellschaft dienen zu sollen. Das hat keineswegs mit dem Einmarsch in die Ukraine begonnen, das ist eine Entwicklung, die mit Putin begann.

Die Verdammung des Westens wird - wie es scheint - innenpolitisch genau so gebraucht, wie außenpolitisch. Und sie ist außerdem eine grenzenlose Heuchelei, wie das Streben der Oligarchen und ihrer Kinder genau in diese Himmelsrichtung zeigt

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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