Putins Macht und Seipels Buch

Lektüre Das Buch von Hubert Seipel ("Putins Macht), dem ein vermutlich russischer Sponsor vorgeworfen wird, habe ich mir besorgt. Vieles ist nicht neu, aber manches doch - im Licht des Angriffes auf die Ukraine - interessant.

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Eigentlich wäre so manches bedenkenswert, hätte Russland nicht die Ukraine überfallen. Seipel würdigt z. B. Merkels Widerstand gegen das Anti-Nord Stream2 -Diktat der USA und ihr Verhandlungskonzept, das er im Jahr 2020 als "Rückkehr zum Realismus" beschreibt, nachdem er die Kanzleraussagen aus dem Mai 2015 kritisch in Erinnerung ruft. Damals hatte sie die Annexion der Krim als Verbrechen bezeichnet. Im Jahr 2020 aber habe es einen Schulterschluss zwischen Deutschland gegeben, eine Realpolitik, die weniger von persönlicher Zuneigung, sondern von politischer Notwendigkeit diktiert wurde. Damals sei es um Verhandlungen mit dem Iran gegangen, wofür Merkel sich einsetzte und dafür Russland brauchte. Es ging auch um Donald Trumps Verhältnis zu Deutschland, das dieser komplett als von Russland kontrolliert beschrieb, das Verhältnis zur EU und - besonders - zu Nord Stream 2.

Es waren hochkomplizierte internationale Gemengelagen, in denen die Tendenz zu wachsen schien, Russland und Deutschland in einem sehr Miteinander als politische Kraft zu etablieren. Aber dem war halt nicht so. So kann man Seipel auch lesen.

Jetzt ist natürlich alles anders. Merkel ist schuld, die NATO sowieso und die EU auch. Vor allen anderen die USA. Im Text zur Taschenbuchausgabe, in die der 24. Februar 2022 "reingeplatzt" ist, wird das Buch als "Chronik einer zunehmenden Eskalation" bewertet. Das erscheint schon als ganz "pfiffig", weil das Buch selbst natürlich - vor dem russischen Angriff auf die Ukraine - erst einmal alle westlichen Sündenfälle und Fehlhandlungen aufzählt, bevor es überhaupt um Putins Entscheidungen geht.

Muss Putin immer nur reagieren?

Immer wieder setzt sich da eine Sichtweise durch, die sagen will: Putin musste immer nur reagieren, was überhaupt so nicht ganz stimmt und auch Putin - objektiv gesehen - kein gutes Zeugnis ausstellt. Putins innenpolitische Manöver, um seine Präsidentschaft weiter zu sichern, beleuchtet der Autor auch, aber ziemlich halbherzig.

Desillusionierung in osteuropäischen Ländern

Die "zunehmende Eskalation", die Seipel beschreibt, hat auch mit einer Entwicklung zu tun, die Seipel als Resultat einer zunehmenden Ernüchterung über den Liberalismus in den osteuropäischen Ländern anmerkt. Seipel benennt dafür besonders das Buch des bulgarischen Politikwissenschaftlers Ivan Krastev und des Rechtswissenschaftlers Stephen Holmes "Das Licht, das erlosch", das die Resultate neoliberaler Politik in diesen Ländern beleuchtet.

Versuche zur Kooperation mit Russland

Wie auch immer, Seipel ruft einige politische Aktivitäten Deutschlands in der Merkel-Zeit in Erinnerung, die sich mit Putin kurzschloss, um - hinter den Kulissen - eine Lösung sowohl für die Ukraine als auch für Syrien zu finden. Eine fruchtbare Konkurrenz schien damals Emanuel Macron zu sein, der sich ebenfalls von den USA abwandte, für eine eigenständige Politik plädierte und erklärte: "Die Vereinigten Staaten von Amerika befinden sich im westlichen Lager, fühlen sich aber nicht dem gleichen Humanismus verpflichtet. Wir teilen nicht die gleiche Auffassung bei Fragen zum Klima, zur Gleichstellung und zu sozialen Gleichgewichten. Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland. Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegende unproduktive Spannung fortbestehen".

Ich als Leserin frage mich da. Warum konnte Putin an solchen politischen Statements und Haltungen eigentlich nicht anknüpfen? Es erscheint doch eher so, als sei ihm "der Westen" - ob unter US-Dominanz oder nicht – insgesamt ein Kampfgebiet und das hat offensichtlich mit dem eigenen Konzept des Wiedererstarkens russischen Dominanzstrebens zu tun.

Was Syrien betrifft, so hält sich Seipel an eine Diagnose Putins, der meint, der Syrienkrieg sei durch den Irak-Krieg von 2003 gegen Saddam Hussein ausgelöst worden. Der Irak Krieg kommt nicht weg ohne noch einmal Merkels damalige Zustimmung zu diesem Krieg zu thematisieren, die sie aber nie als Regierungschefin abgegeben hat, sondern in einer Zeitung und dies auch noch in Wahlkampfzeiten. Immerhin merkt er an, dass sich Merkel niemals mehr öffentlich in solch einer Weise geäußert habe.

Assads Politik war voller Gewalt und spaltete die Palästinenser

Der Teil über Syrien ist recht umfangreich, weil Seipel auch den Beginn des Aufstandes 2011, die Hintergründe und die etablierten Erzählungen - eine davon stammt von einem gewissen Relotius - darüber thematisiert. Das ist alles ziemlich strittig und eine Frage der Interpretation. Vor allem geht es darum, wie tief in die Vergangenheit seine Analyse reicht. Denn niemals wird erwähnt, dass Assads Regime - wie schon das seines Vaters - blutig, autoritär und voller Gewalt war und auch Verrat übte - z. B. gegenüber den Palästinensern. Natürlich erwähnt er die russische Unterstützung, aber auch, dass sich Russland und die USA wechselseitig bei Kampfaktionen informierten oder Überflugrechte einräumten.

Sie schienen fast wie Partner. Immerhin aber bringt Putins Einsatz die Wende in Syrien und Russlands internationale Präsenz verstärkt sich, worum es ja u. a. auch ging. Seipel erwähnt Putins Argument; dass in den Reihen des IS tausende russische Islamisten aus Dagestan und Tschetschenien kämpften, die auch für Russland eine Gefahr seien. Ob das nachprüfbar ist, kann ich nicht sagen.

Ein wenig Fairness für Selenskyj

Dann wendet sich der Autor dem Ukrainekonflikt zu und entwickelt das gängige Bild. Der Maidan war ein Putsch, die Krim-Annexion und die russische Einmischung bei der Bildung der Separatisten-Republiken aber lässt er ohne Wertung. Auffällig ist u. a., dass er Selenskyj gegenüber mehr Fairness walten lässt. Die Affäre Hunter-Biden – momentan auch wieder in den Medien- also Trumps Wunsch an Selenskyj, sie aufzudecken, kommt zwar auch noch vor, aber das sind Anmerkungen am Rande. Dann wird der Informationskrieg USA-Russland um den russischen Wahleinfluss auf die Wahl Donald Trumps noch einmal beleuchtet, aber auch das ist eigentlich auch Schnee von gestern und - aus meiner Sicht - viel zu breit behandelt.

Trump verhängte mehr Sanktionen als seine Vorgänger

Aber so manches wird deutlich, z. B. dass die Hoffnung auf Trumps Sieg im nächsten Wahljahr für Russland nicht zu optimistisch sein sollte. Trump hat in seiner Amtszeit mehr Sanktionen gegen Russland verhängt als seine Vorgänger.

Auch der damaligen Datendeal zwischen den USA und Deutschland, den Edward Snowden aufdeckte, spielt eine Rolle in dem Buch.

Lang und breit behandelt wird der Absturz der russischen Maschine auf dem Weg nach Katyn in Smolensk, bei der einer der Kaczynski Brüder ums Leben kam. Das ist in Polen nicht vergessen und der Präsident Kaczynski lebte lange vom Mythos, dass dieser Absturz ein russischer Angriff gewesen sei.

Wer ist Schuld am 2. Weltkrieg – Polens verhängnisvoller Einfluss auf die Geschichtsschreibung

Alles schon fast vorbei. Oder doch nicht? Der unheilvolle Einfluss Polens auf die Geschichtsschreibung, auf den Seipel verweist. Und das ist wirklich empörend.

Auf Antrag von achtzehn polnischen und einem lettischen Abgeordneten legte das EU-Parlament 2019 den Hitler-Stalin-Pakt als Ursache des Zweiten Weltkrieges aus und schiebt Russland - als dem Nachfolgestaat der Sowjetunion - einmal mehr die Schuld am Ausbruch des Krieges zu, schreibt Seipel. Diese EU Resolution wurde auch in Deutschland scharf kritisiert. Z. B. in der Süddeutschen Zeitung.

Scharfe Kritik auch von deutschen Medien

Seipel führt aus, dass der Wortlaut dieser Resolution den russischen Präsidenten massiv gekränkt habe, worüber er auch mit ihm gesprochen habe. Er zitiert einen russischen Historiker, der meint, "Es darf bezweifelt werden, ob wir durch den Erinnerungskrieg einer ganzheitlichen Wahrheit näherkommen, die sowohl das berücksichtigt, auf das wir gerne stolz sind, als auch das, wofür wir uns schämen sollten."

Putins scharfe Abkehr von der Russischen Revolution

In dem längeren Gespräch mit Putin wird deutlich, wie scharf und eindeutig die Abkehr des russischen Präsidenten von der Russischen Revolution ist. Er sieht in Revolution und Bürgerkrieg "eine der Quellen für die offenen Wunden der russischen Gesellschaft" . Seipel meint, die Befürchtung, dass die Geschichte Russlands eine Folge radikaler Brüche mit blutigen Konsequenzen war, habe Putin zu einer "homöopathischen Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit" bewogen. Putins Entscheidung macht allerdings auch deutlich, dass die "Macht darüber, wer die Vergangenheit aufarbeitet und definiert für sich beansprucht. Dass er sie verwehren kann macht z. B. das Verbot von „Memorial“ deutlich.

Merkels Endspiel

So nennt sich ein Kapitel über die Politik der Bundeskanzlerin und Deutschlands generell. Er wertete die Versuche, z. B. den Gasstreit Türkei-Griechenland zu schlichten unter diesem Label. Merkels Entscheidung, den an einem Gift erkrankten Nawalny zur Behandlung nach Deutschland zu holen sieht Seipel höchst dramatisch als "Sturz in den kalten Krieg". Seltsam ist das schon, denn er selbst bewertet die Herkunft des tödlichen Giftes auch neutral, denkt z. B. darüber nach, welche Feinde sich Nawalny in Russland wohl gemacht hat.

Dann spannt Seipel den Bogen vom Giftanschlag auf Nawalny bis zur politischen Forderung besonders von CDU und Grünen, die Arbeit an Nord Stream 2 zu stoppen. Das ist ein harter Kampf und da ist wenig von kaltem Krieg zu erkennen, sondern eher Merkels Versuch, von diesen Forderungen abzulenken, indem sie Nawalny aufnehmen lässt, aber die Leitungen zwischen Putin und Merkel sind eine Weile gekappt.

Dann greift Seipel noch einmal die sich immer weiter verschlechternden Beziehungen zu den USA auf. Die Aufkündigung des INF-Vertrages, die verstärkten Sanktionen, die nicht erfolgte Verlängerung des New Start-Abkommens und auch noch - in der Regierungszeit von Trump: Der Ausstieg aus dem "Open Skies-Abkommen. Dass unter Joe Biden die Außenpolitik als Fortsetzung der amerikanischen Innenpolitik zu verstehen ist, ist eine Binsenweisheit von Seipel, denn das gilt in vielem auch für Russland, wird allerdings viel weniger thematisiert.

Dann folgt - mit allerlei Rückblick und Abschweifung - noch einmal eine Sicht auf Selenskyjs Politik und seine Zwänge. Er habe - gegen den Willen Deutschlands, Frankreichs und Russlands - die USA beim Normandie-Prozess mit in die Runde nehmen wollen. Dann noch einmal einen Blick auf die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine, auf Konkurrenz und Rivalitäten zwischen verschiedenen politischen Institutionen und vieles andere mehr. Das sprengt hier den Rahmen und hat mit dem Titel "Putins Macht" nur bedingt zu tun.

Wie am Anfang angemerkt: Das Buch ist diskussionswürdig, aber Seipel hält sich eigentlich wenig mit der Frage auf, woher Putins Macht kommt und wie er sie sich sichert, sondern mit dem Thema, wer Putin die Macht streitig macht. Da ist zu viel Zurückhaltung.

Ich denke, Putin hat Merkel und viele andere Politiker, die vor dem Einfall Russlands in die Ukraine im Kreml waren, vorgeführt und in die Irre geführt. Die Würfel waren schon länger gefallen. Seipel hat für die meisten Politiker auf „westlicher Seite“ die üblichen spöttischen Beimengungen, aber über Putins Parlaments – und Ämteraustauschtricks kein kritisches Worte. Auch über die massive Militarisierung des Landes – schon seit Jahrzehnten – kein Wort. Das ist das Manko an diesem Buch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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