So gegenwärtig wie noch nie

Stalinismus Aufarbeitung Eine Debatte über russische Geschichtspolitik und die Wiederkehr stalinistischer Muster im Russland Putins.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„70 Jahre nach seinem Tod ist Stalin in Russland wieder präsent wie lange nicht.“ Wladislaw Hedeler , der seit Jahrzehntem zum Thema forscht und publiziert, traf diese Einschätzung auf einer Veranstaltung der Rosa – Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit „Helle Panke“ Berlin. Drei Wissenschaftlerinnen, die auf die Osteuropa-Forschung mit Blick auf die Geschichte der UdSSR und besonders Russlands nach 1989 spezialisiert sind, diskutierten das Thema.

Irina Scherbakova – Germanistin und Kulturwissenschaftlerin, Gründungsmitglied von „Memorial“ und gegenwärtig in Deutschland im Exil.

Prof. Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen

Katja Makhotina, die osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn lehrt.

Was jetzt so brachial mit dem Krieg gegen die Ukraine deutlicher wird, hat eine lange Vorgeschichte in der russischen Innenpolitik. Nicht erst seit Putins Machtantritt, sondern schon vorher wurde deutlich, dass der Umgang mit der stalinistisch-sowjetischen Vergangenheit in der Russischen Föderation ambivalent war. Waren zu Beginn der 1990er Jahre noch die Archive breit zugänglich, verengten sich diese Möglichkeiten mehr und mehr. Es wurden durchaus die Opfer beklagt und es gab ein Rehabilitierungsgesetz, aber Täter wurden nicht benannt. Noch weniger wurde ein System dingfest und verantwortlich gemacht.

Geschichtspolitik und Wissenschaftsverachtung

Dass Organisationen, die sich weiter mit diesem Thema befassten, zunehmend eingeschränkt und – wie „Memorial“ – seit geraumer Zeit verboten wurden, gehört zum Instrumentarium einer Politik, die die Wissenschaften verachtet und seinerseits eine Geschichtspolitik pflegt, die ein eklektizistisches Konstrukt darstellt, aus dem sich Wladimir Putin, aber auch andere Politiker beliebig bedienen.

Dafür gibt es viele Beispiele. Natürlich hat Putin auch zu Beginn seiner Herrschaft die Opfer des Stalinismus beklagt, aber dieser allgemeinen Formel ist nie eine wirkliche Aufarbeitung des Systems gefolgt.

Deutlich wurde das als Putin im Jahr 2009 das Grab des weißgardistischen Generals Denikin im Donskoi – Kloster besuchte, der dort seine letzte Ruhestätte gefunden hatte und besonders auf dessen Tagebücher verwies, in denen der General erklärt hatte, dass die Ukraine – als Kleinrussland – unauflöslich zu Großrussland gehöre. Dass Denikins Truppen Massaker unter den Juden zu verantworten hatten, dass der General die gesamte russische Revolution als Werk der Juden ansah, übersah er, weil es nichts ins Bild passt.

Schließung des Sacharow-Zentrums

Dieser Tage wurde auch das Moskauer Sacharow-Zentrum geschlossen. Die Worte Jelena Bonners, der Ehefrau Sacharows „Die Menschen wissen alles, aber sie wollen es nicht wissen“ steht für die Haltung der nachsowjetischen Gesellschaft. Sie lebt zwischen neuer Anpassung und dem Einrichten in einem starken Staat mit einem mächtigen Mann an der Spitze, der einstige Größe wiederherstellen will. Und dafür steht kein anderer als Josef Wissarionowitsch Stalin. Niemand will die „Jeschowtschina“, die Zeit der großen Säuberungen der 1930er Jahre , wieder haben, auch wenn Haftstrafen wie 25 Jahre Lagerhaft gegen den Kreml- und Kriegsgegner Kara-Mursa schon wieder an Säuberungszeiten erinnern. Aber niemand will auch ein Russland, das sich als „von außen“ angeklagt fühlt. Und deshalb verstummen die Kritiken, werden alte Muster wieder lebendig und „militärische Maßnahmen“ kaum hinterfragt.

Vereinfachungen und schwarz-weiß Denken auch bei der Aufarbeitung

Die Wissenschaftlerinnen beklagen, dass dramatische Zeiten immer von großen Vereinfachungen und schwarz-weiß Sichten dominiert werden. Die Aufarbeitung der Stalinzeit – und darüber hinaus der gesamten sowjetischen Geschichte - mündet in den Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten, in eine Haltung, die alle Verantwortung auf „die russische Zentralmacht“ verschiebt, so als habe es in den baltischen Staaten z. B. keine willigen Funktionäre gegeben. Ähnliches gilt auch für die Ukraine. Irina Scherbakowa kritisierte die These vom „Holodomor“, der Hungerpolitik z. B. als zu einseitig. Die stalinsche Politik jener Zeit habe sich nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern viele andere Regionen ins Elend gestürzt.

Dass der Stalinismus nicht nur in der Sowjetunion geherrscht hat, wurde in der anschließenden Diskussion noch einmal besprochen: Die sowjetische Hegemonie mit einem kolonialistischen Muster zu erklären, gehört ebenfalls zu den Thesen, die von Historiker:innen sehr kritisch und kontrovers betrachtet werden.

Es gibt keine wirkliche Opposition

Und noch ein Aspekt muss gesehen werden: Es gibt keine wirklich grundlegende Opposition in der Sowjetunion. Die ehemalige kommunistische Partei ist ins nationalistische abgetrieben. Und „Kremlgegner“ sind nicht immer die besseren Demokraten, es gibt auch eine Gegnerschaft, die weit rechts von Putin einzuordnen wäre. Russland ist ohne wirkliche Zukunftsperspektive im eigenen Land. Umso stärker agiert es imperial, geostrategisch international, wie zu beobachten ist. Wenig Hoffnung für das Land und darüber hinaus, wie alle sorgenvoll beobachten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden