Therapeutische Bücher IV

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(Wish I could find a good book to live in)

Im Dezember1988 notiert der Schriftsteller und Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008) in sein Tagebuch TABU I: „Das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, Zur Hälfte bereits abgestorbenes Zeug, das man mit sich herumschleppt. Erledigte Stoffe. Hadesgepäck. Und kein tröstliches Buch, in dem man rückstandlos verschwinden kann.“

Bisher hatte ich in dieser Reihe vorgestellt:

Gabriele Wohmann Frühherbst in Badenweiler

Carolina Maria de Jesus Tagebuch der Armut

Glück für Jim war die letzte Lesefrucht

www.freitag.de/community/blogs/magda/therapeutische-buecher-iii---glueck-fuer-jim/?searchterm=Therapeutische+B%C3%BCcher

Ein weiteres „therapeutisches“ Buch will ich nun vorstellen und stelle voran, dass die Autorin dieses Buches selbst ein so spannendendes und faszinierendes Leben geführt hat, dass sie extra gewürdigt werden muss.

Irmgard Keun: "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften".

Irmgard Keuns amüsantes Buch ist als Jugendbuch deklariert ist, aber es macht auch Erwachsenen sehr viel Freude, weil sie den trickreichen Einsatz der Kindersprache für höhere Wahrheiten noch besser würdigen können. Heutzutage gibt es viele Nachahmer und Nachahmerinnen dieser Technik, aber sie ist der Prototyp.

Das Buch handelt von einem sehr widerspenstigen Mädchen, das im Köln zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lebt und seinen Eltern andauernd die irrsinnigsten Überraschungen beschert.

Das herrliche Schreckengeschöpf legt sich mit streberhaften Musterkindern an, zum Beispiel mit dem dicken Trudchen Meiser, dem es eine Tüte Waschblau auf den liebevoll aufgedrehten Haarschopf schüttet, es schwänzt pausenlos die Schule (auch darum liebe ich das Buch, ich war auch eine Schulschwänzerin). Es schreibt mit seinen Freunden einen Brief an den Kaiser und rät ihm freundschaftlich abzudanken, etwas das den Eltern reichlich Ärger bereitet. Es besucht einen stadtbekannten Heldentenor und gerät in schrecklichen Ruf, dessen "frühreifes Liebchen" zu sein, was aber alles gelogen ist. Außerdem bringt es eine einwohnende Tante um deren Heiratschancen. Ein wunderbares Kind, ich habe es ins Herz geschlossen. Das Beeindruckende ist, wie schon geschrieben diese halb naive und dann wieder altkluge Kindersprache, die ihre Umwelt entlarvt, aber nicht menschenfeindlich oder zynisch ist.

„Ich will nicht weinen. Die Erwachsenen lachen, wenn ich weine. Und wenn ich lache, ist es ihnen auch nicht recht, weil ich dann was getan habe, was ihnen nicht passt. Ich soll nämlich den Ernst des Lebens begreifen lernen. Was ist das?“ - Eine Frage, die mir persönlich auch als Erwachsene heute öfter noch in den Sinn kommt und zwar mit zunehmendem Alter in zunehmendem Maße.

Das Buch hat mir eine Freundin geschenkt, als ich schon ein Teenie war und deshalb legte ich es erst einmal empört beiseite. Aber dann las ich es und las es immer wieder. Es ist sehr amüsant, sehr tröstlich und mir einleuchtender als dieses allseits bewunderte Pipi Langstrumpf-Gör. Bei einem Umzug habe ich das alte Exemplar verloren und freute mich, als ich vor einigen Jahren ein Mängelexemplar bei „Joker“ fand.

Und nun das Leben der Autorin

Irmgard Keun, Tochter wohlhabender, liberal gesinnter Eltern verbrachte ihre Kindheit in Berlin und Köln. Nach einer kurzen Laufbahn als Schauspielerin wurde Keun fast über Nacht bekannt durch ihren ersten Roman Gilgi, eine von uns (1931), der in einem Jahr eine Auflage von 30 000 erreichte. Gilgi handelt von einer jungen Frau, die sich über ihre kleinbürgerlichen Ursprünge hinaussehnt, sich im Geiste der Neuen Frau behaupten und unabhängig leben will, obgleich das, gerade in der späten Weimarer Zeit, als durchaus schwierig und problematisch geschildert wird.

Drei Jahre nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, ging sie nach Ostende ins Exil.

Johannes Tralow, ihr 27 Jahre älterer Gatte, blieb in Deutschland zurück, während ihr Geliebter, der jüdische Arzt Arnold Strauss, in Amerika auf sie wartete. Eineinhalb Jahre war Keun die Gefährtin des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth, mit dem sie quer durch Europa reiste. Nach der Trennung von Roth verschlug sie das Leben nach Amsterdam, wo sie, als 1940 die Deutschen einmarschierten, ohne Geld und Pass lebte. Sie konnte einen SS-Offizier überreden,ihr einen falschen Pass zu besorgen, mit dem sie wieder nach Deutschland reiste, wo sie illegal und anonym das Ende des Krieges abwartete.

Nach dem Krieg versuchte Keun, mit Feuilletons und einem Roman wieder Fuß zu fassen. Aber nur das 1936 im Ausland erschienenes Buch„Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durfte“fand in der Radio-Bearbeitung großen Widerhall.Sonst aber gelang Keun in der konservativen Nachkriegsära Westdeutschlands kein Come-back nicht, und allmählich verstummte sie. Sie hatte massive Alkoholprobleme und lebte sechs Jahre in einer Anstalt bis sie 1972 starb.

Erst in den späten 70er Jahren wurde sie wiederentdeckt, ihre Werke wurden neu aufgelegt, und sie erhielt, ein Jahr vor ihrem Tod, den ersten Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda