Einmal im Monat gehe ich singen mit ungefähr 20 älteren Damen. Wir sind eine Art versprengter Haufen, der von einem anderen Projekt in ein anderes gezogen ist.Dies aber nicht wegen unserer Singeneigung, sondern weil die Projekte immer eingehen aus Geldmangel. Jetzt singen wir allmonatlich in Lichtenberg:Trotzig, schön und meist auch ganz schön laut.
Ich kann das nur empfehlen. Im Monat November sind immer revolutionäre Lieder dran.
Und das war auch gut so, denn was zum Beispiel hätte ich mit all den unverdauten Mauer-Stacheldraht- Stasi-Unrecht-DDR-Kindergarten-Zwangsregime-Resten gemacht, wenn ich sie nicht auf einen RItt heute hätte wieder froh heraussingen können.
Reichlich Entgiftungsmelodien standen auf der Agenda:
Vor allen anderen kommt da.
Partisanen vom Amur.
Das klingt - auch von älteren Damen gesungen - richtig gut. Man braucht sich nur ein paar diktatorische Volkskommissarinnen vorzustellen, dann kriegt man einen Eindruck. Wie sie da alle so revolutionär-wachsam in die Runde gucken. Meist auf die Nachbarin, die schon wieder den meisten Kaffee getrunken hat...na ja.
www.youtube.com/watch?v=3xNMDqlYz80
Wir haben sogar den Effekt mit dem leisen Anfang und dem anschwellenden Toneingeübt, der in vielen sowjetischen Marschliedern vorkommt,
Neben mir saß so eine originale Altlast mit einem Ehemann, der mal im FDJ-Zentralratwar. Die fragte mich – typisch SED – woher ich als christliche Blockflöte diese kämpferischen Lieder kenne. Wenn ich ehrlich wäre, müsste ich sagen, dass ich die zu DDR-Zeiten selten bis gar nicht gesungen habe.
Aber jetzt: Man muss ja schließlich was tun!!!!!!!!!
Dann spendierte ich noch eine zusätzliche Strophe, die im Textbuch nicht verzeichnet war.
Klingt es auch wie eine Sage
kann es doch kein Märchen sein
Wolotschajewska genommen
Rotarmisten zogen ein.
Und dann: Gib ihm volle Pulle –
Und so jagten wir zum Teufel
General und Ataman
unser Feldzug fand sein Ende
erst am Stillen Ozean
Uff, genauso. Weg mit diesem weißen Offizierspack, den Denikins und Koltschaks – na, ist doch wahr...
Die Einheitsfront haben wir – mal wieder vergeblich -beschworen: mit links zwei drei. Zu Recht hat heute mein Mann sich beschwert, dass diese Lieder alle ziemlich schwierige Melodien haben. Ganz militaristisch, aber heilsam, weil aus einem herausschießt, was raus muss, ist die Anwendung der
Matrosen von Kronstadt
www.youtube.com/watch?v=KYD_9d-H8dY
Fassung mit Ernst Busch
Refrain:
Voran an Geschütze und Gewehre
auf Schiffen und Fabriken und im Schacht
Tragt über den Erdball tragt über die Meere
Die Fahne der Arbeitermacht
Au Mann, das war gut.
Und dann haben wir uns wieder abgeregt und das allseits bekannte „Vetschernij swon“
Oh Abendklang
angestimmt.
Das kann ich nicht singen, ohne an den herrlichen Romananfang bei Wassilij Schukschins „Kalina Krasnaja“ zu denken . Der spielt im Gefängnis und geht ungefähr so: Der Chor der Rückfalltäter übt das alte russische Volkslied „Oh Abendklang“. Jene, die bald entlassen werden, dürfen das lange dunkle „Boooommmm, booooooommm“ singen, das diese Melodie so seelentief und traurig macht.
www.youtube.com/watch?v=-G-CwVsRujA&;feature=related
So was bewahre ich immer in meinem Herzen, wo die Sachen zum Weinen und Lachen ihr Zuhause haben.
Das sind alles sehr schöne Lieder, natürlich sentimental, rückwärtsgewandt und totalitär und diktaturbeschönigend. Aber, wenn man es recht bedenkt: Beethovens Schlachtensinfonie ist auch ziemlich triumphal und voll militärischen Brimboriums und rückwärtsgewandt auch, denn Wellingtons Sieg bei Vittoria gegen die napoleonischen Truppen war auch schon eine Weile vorbei. Habe ich gerade heute – aus anderem Anlass – gelernt.
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