Was fürs Herz: Sonnenuntergang

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So musst Du es machen. Denk’ nicht, weil viele so fühlen, sei Dein Fühlen nichts wert. Denk' nicht, Du könntest Gefühle verlernen, nur aus Trotz, weil Du sie vielleicht mit denen teilst, die Dir als Zeitgenossen nicht lieb sind.

Denk' nicht, es sei vergebens, noch einmal davon zu erzählen, weil alles schon beschrieben, gemalt, fotografiert und gefilmt ist.

Was hat das mit Dir zu tun? Was kümmert das die Gestirne?

Du musst nur auf einen Tag im November warten. Wenn Du Glück hast, ist auch der frühe Dezember noch gut.

Wenn morgens schon Winterkälte zu spüren und der Himmel blaßblau ist und wie unter einem frostigen Schleier erscheint, dann mach Dich auf den Weg. Du mußt nach Osten, damit Du am Abend einen langen Weg nach Westen hast. Zum Beispiel nach Potsdam. Dort gibt es allerlei zu tun und der Tag ist nicht in reinem Warten vergeudet. Er vergeht Dir in der Hoffnung, dass der Himmel klar bleiben möge. Bist Du unterwegs, blickst Du immer wieder mit besorgtem Gesicht in die blaue Blässe über Dir. Es ist gut, Du kannst weiter tun, was zu tun ist. Aber gegen fünf Uhr wirst Du wieder unruhig. Du muß Dich beeilen und den Zug nach Berlin nehmen. Er hält nicht an den S-Bahn-Stationen. So kannst Du die Illusion nähren, Du kämest von weither und fährst in eine Landschaft, die den besten Trost gegen die beginnende kalte Jahreszeit, vor Dir liegende lange dunkle Tage und über das mit eintönigen Pflichten vergeudete Jahr schenkt.

Es ist so gegen sechs, wenn der Zug von Potsdam nach Berlin fährt. Zuerst verliert der Himmel seine Blässe und erscheint in blauer kalter Klarheit, dann wird er rötlich, kleine rosa Wolken überziehen ihn, dann wird er kupferrot. Und dann spiegelt sich dieses goldene kupferrot in den kleinen Wellen der Spree, im Glas der Reichstagskuppel und in reiner Farbe förmlich explodierend im kupfernen Dach der Synagoge. Getaucht ist alles in ein Licht, das zu den Kostbarkeiten der Herbst- und frühen Wintertage gehört. Das alles kannst Du im Zug von Potsdam nach Berlin erleben. Du mußt aber Glück haben und Geduld und warten können.

Bald wird die alltägliche, normale Dämmerung einsetzen, die Welt wird grau wie immer, wenn das Licht verschwindet. Aber wenn Du es aufschreibst, wenn Du den Glauben hast, dass dies Dein Sonnenuntergang ist, dann kannst Du ihn mit anderen teilen, dann hast Du den grauen Winter besiegt – den Winter in der Welt und den, der Dir das Herz erkältete.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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