Weltgewinnung mit dem Fußball - Rezension

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Wenn Fußball hier eine Rolle spielt, dann fällt mir ein, dass ich vor Jahr und Tag mal eine kleine Rezension geschrieben habe für mein etwas verwaistes Blog und ein kleines Literaturportal über Klaus Theweleits "Tor zu Welt". Ich bin selbst gar nicht so sehr fußballinteressiert, aber Theweleit nimmt einen so interessant und klug mit in diese Welt, dass ich mir das mal angetan habe.

Klaus Theweleit: "Tor zur Welt"
Fußball als Realitätsmodell

Wer würde bestreiten, dass Fußball wie das Leben ist.
Das allein ist erstens noch nicht richtig originell, aber der Soziologe und Schriftsteller Klaus Theweleit belegt diese Tatsache auf so originelle Weise und betreibt im besten Sinne "Weltgewinnung" mittels des Fußballspiels, dass man höchst unterhaltsame Belehrung, Information und literarisch-ästhetische Freude dadurch davonträgt.
Es beginnt - wie immer bei Männern und Fußball - mit Erinnerungen an die Kindheit. In des Autors Fall eine Vertriebenenkindheit im Norden der Bundesrepublik. Eine Kindheit im Schatten erlebter Schrecken und verleugneter Schuld. Und dann das Wunder von Bern, dem Trost- und Zusammengehörigkeitsereignis Westdeutschlands.
Klar, das kennt man inzwischen auch aus anderen literarischen Werken.
Nach den Kindheitsreminiszenzen folgen vom Soziologen und Schriftsteller und - natürlich - Fußballexperten Klaus Theweleit Annäherungen an das Spiel aus höchst unterschiedlichen Richtungen mit erstaunlichen Einsichten, die aber niemals im Abseits landen. Hingegen macht er am Ende des Buches einige Vorschläge für die Änderung der Abseitsregel, denn er sieht ihn ihr ein unproduktives Hindernis für ein modernes Fußballspiel.


Gibt es ein "denkendes Knie?"
Was Fußball sein kann und welche Einflüsse vom Zeitgeist auf den Fußball und von diesem wieder auf den Zeitgeist ausgehen, wie sich das Fußballspiel in die Körper der Agierenden einschreibt und ob es nicht doch ein "denkendes Knie" gibt, das untersucht er ausführlich und vor allem außerordentlich anregend
Er sieht bei der Entwicklung des Fußballs wenn nicht Prozesse der Aufklärung, dann doch zumindest aufgeklärtere Spielweisen, die das kriegerische Geholze von einst ablösten oder wenigstens kreativ abwandeln. Was sich also auf dem Felde tat - der Wandel vom kämpferischen, brachial-leistungsbetonten zu ersten modernisierten spielerischen, ja künstlerischen Arten des Fußballs - das vollzieht sich meist auch in der Gesellschaft.

Als Schriftsteller erliegt Theweleit der Versuchung, auch das Ringen um das Wort mit fußballerischen Mitteln zu erläutern. So kommt es zu folgender schönen "Ball"-Passage: "Und :- ich weiß nicht, ob das schon mal jemand angemerkt hat - das Blatt Papier hat genau das Format des Spielfeldes. man füllt es mit Schriftzügen. Bis die Wörter stimmen und der Satz drin ist. Nicht jedes gefüllte Blatt ist ein gewonnenes Spiel, aber einige kommen zusammen. Wenn es genug sind, wird es ein Buch - im Format eines Fußballfelds. Platz und Blatt vor dem Spiel sind leer. Und schön."

Bundeskanzler - Trainertypen
Herrlich, wie Theweleit den jeweiligen Bundeskanzlern die entsprechenden Trainertypen beigesellt.
"Der Alte" Konrad Adenauer und "der Chef" Sepp Herberger
Der moderate Helmut Schön und Willy Brandt
Der späte Helmut Kohl mit dem kongenial ewig beleidigten Berti Vogts zusammen
Das leuchtet ein und sagt was über den Zeitgeist, der sich hier in der Paarbildung manifestiert.
Aber diese Paartheorie hat ihre Grenzen, meint er, denn
"So gut wie Völler als Fußballer ist Schröder nie irgendwo gewesen. Und einen "Vizeweltmeister" kann ich in der Schröderhaut auch nicht entdecken".

Sternstunden werden lebendig
Einzelne Ausflüge von literarischer Güte unternimmt Theweleit wenn er vergangene Spielsituationen noch einmal aufruft und sie - wie in Stefan Zweigs "Sternstunden" - literarisch beschreibt.
So zum Beispiel aus dem Jahre 1961 das Europacup-Spiel HSV-FC Barcelona im Volksparkstadion Hamburg.
Wo bei 2:0 - Führung durch den HSV in der letzten Minute der Anschlusstreffer fällt, womit Punktegleichheit erreicht war und damit der HSV aus dem Rennen, weil sie vorher 0:1 gegen Barcelona verloren hatten. Und dies nur, weil ein Spieler noch ein kleines Dribbling wagen, gewissermaßen den Ball in den Schlusspfiff tragen wollte, bei dem der große Jubel ausbrechen sollte. "Einer dieser wahnsinnigen Exil-Ungarn, es war Kubala, flitzt mit dem Ball am Fuß die rechte Seitenlinie runter, überrennt alles, was noch herumsteht, flankt, Kopfball Koscis, der Ball ist drin und Schlusspfiff.......Der Schlag saß so tief, dass sich nicht einmal Kritik erhob am Spieler, der den Ball verloren hatte. Man war einfach geschlagen. Vereint in Trauer. Es dauerte ewig, bis Bewegung in die Geschlagenen kam. Die Masse war gestorben. Schweigend schleppte sich das Stadion leer."
Na, wer da nicht mitfühlen kann, auch wenn er kein glühender Fußballfan ist, der hat kein Herz im Leibe.

Öde Debatte um Spielergehälter
Energisch zu Felde zieht der Autor gegen die von den Medien immer wieder aufgebrachten Diskussionen um die Spielergehälter. Für ihn ist das - wie nebenher auch bei den Politikern - ein billiger Populismus, der überhaupt keinen Einfluss auf die Qualität des nächsten Spiels hat. Und da hat er Recht. Auch die Debatten um Politikergelder lenken erfolgreich von einer Debatte über die Qualität politischer Entscheidungen und vor allem von politischen Zusammenhängen ab.
Hin und wieder aber scheint es bei der Lektüre, als sei Fußball überhaupt die Endlagerstätte für Reste politischen Denkens.

Dass die Digitalisierung der Welt auch den Stil des Fußballs verändert, belegt Theweleit umfangreich und mit vielen Beispielen, aber das soll hier nicht Gegenstand der kleinen Rezension sein. Ist aber hochinteressant.
Sehr schön fand ich, wie eindeutig er die fernsehbekannte Kontroverse zwischen Rudi Völler und Günter Netzer bewertet und für Völler Partei ergreift: "Völlers Wort ‚Scheißdreck' für die Totalchefsprache dieses anmaßenden Fernseh-Oberherrn, der selbstverständlich davon ausgeht, dass Spiele einer deutschen Mannschaft speziell dazu da sind, seine eigenen Herrschaftsbedürfnisse zu befriedigen, war nicht ‚Fäkalsprache', wie eine ‚betroffene' Sportpresse ungenau mäkelte, es war nichts weniger als exakt. Man könnte höchstens noch ein Adjektiv hinzufügen: ‚totalitärer Scheißdreck'." Und er sieht in der Dominanzhaltung der Moderatoren Delling und Netzer eine Entsprechung in den politischen Sparten der Medien , bei Sabine Christiansen oder Maybritt Illner, die sich auch über den Akteuren - in diesem Falle der Politik - installieren.

Es gäbe für Theweleit zwei Punkte, die ihn dazu bringen könnten, sein Fan-Tum einzustellen. Das seien gezielt agierende Klopper und die prinzipielle Möglichkeit schiedsrichterlicher Selbstherrlichkeit.
Nach den Schiedsrichterskandalen der letzten Jahre wäre es eigentlich so weit. Aber ich glaube das nicht, ich hoffe es auch nicht, denn zu interessant und bildend ist seine Sicht auf das Massenphänomen, das ja - neben der Boulevardisierung - zunehmend Gegenstand der Wissenschaften unterschiedlichster Sparten wird.

Theweleits Essay, der also die Entwicklung der Bundesrepublik vom Spielfeld aus und vice versa erklärt, ist ein wirkliches Vergnügen, bei dem man sich amüsieren, aber auch viel lernen kann über Fußball und das Leben, ein Text erster Güte.

Klaus Theweleit, geboren 1942 in Ostpeußen, ist Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Freiburg und Schriftsteller. Sehr bekannt wurde er durch seine zweibändigen "Männerphantasien".


"Tor zur Welt" Fußball als Realitätsmodell
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2004
ISBN-10 346203393X
ISBN-13 9783462033939
Taschenbuch, 233 Seiten, 8,90 EUR

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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