Wir mussten alle ein bisschen warten, weil die Spielstätte- eine kleine verkramte Seitengalerie im Berliner Ballhaus Ost - noch gar nicht frei war. Dann aber saß man dort absolut gemütlich.
Und war sich ohnehin in vielem einig. „Man dachte, jetzt geht es los und dann liefern die gar nicht“, meinte Jakob Augstein zu schwarz-gelb, die Wende sei verschlafen. Ist ja auch so, dass die neue bürgerliche Republik ihren Start verpatzt hat, musste man nicht vertiefen.
In den ersten Statements warf Katja Kipping (Die Linke) den Begriff des Leistungschauvinismus in die Runde, der soziale Leistungen in den Status von Wohltätigkeiten erhebe, die man sich verdienen müsse, Ulf Poschardt (Die Welt) meinte, die Linke müsse erkennen, dass die Verteidigung des Umverteilungssozialismus kein innovatives und mitreißendes politisches Projekt sei. Gegen diese Vereinfachung setzte Kipping ihre Vorstellung vom Sozialstaat als Grundrecht auf Teilhabe und einen emanzipatorischen Ansatz von demokratischem Sozialismus.
Der Junge Liberale Johannes Vogel verteidigte einen Neoliberalismus, der immer nur als Kampfbegriff herumgeistere, den niemand wirklich verstehe und der deshalb noch des Beweises seiner Effizienz und Tauglichkeit harre. Ich persönlich fand es reichlich unklug, einen nun schon mit Bedeutungen so eindeutig aufgeladenen Begriff zu verteidigen. Aber im Prinzip wollte das bürgerliche Lager dieses Abends immer nur unterstreichen, dass man so böse, so neoliberal, so sozialdarwinistisch gar nicht sei, achwo, ach überhaupt gar nicht. ..
Poschardt versuchte - immer ein bisschen gebremst von Jakob Augstein - das System Merkel zu erklären und zu interpretieren. Sie habe wesentliches zur Modernisierung der Partei beigetragen. Sie habe - natürlich immer unter machtpolitischem Gespür - das aufgegriffen, was politisch umsetzbar schien . Überhaupt sei sie ein Beispiel für eine Politikerin der Postmoderne, pragmatisch und unideologisch.
Das alles wurde - übergreifend - zusammengehalten von dem Begriff "Freiheit", bei dem wohl jeder was anderes meint.
Sowohl Poschardt als auch Vogel bemühten sich,wenigstens verbal so etwas wie Aufbruchstimmung in das ganze schwarz-gelbe Unternehmen zu interpretieren.
Poschardt der Ästhet und Schöngeist hatte allerlei hübsche Wendungen parat, vom Scheitern als Chance, von Niederlagen, die wesentlich bedeutsamer sind als das Bewahren von Projekten. Aber das Theater um die Rettung von Opel und die Verabschiedung von Wachstumsbeschleunigungsgesetzen – das ist eben kein Aufbruch und kein grundlegender Wandel. Mir verhalf Poschardt zu der Einsicht, dass es offensichtlich so etwas wie kapitalistische Romantiker gibt. In der Realität manchmal gefährlich.
Augstein drückte noch einmal sein Erstaunen darüber aus, dass es nach einem Beinahe Crash in der Finanzwelt so einfach wieder zur Tagesordnung gehe. Man behandelte am Rande einige Fragen zur Kontrolle der Finanzmärkte, auch verschiedene Steuerfragen, zum Beispiel die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Poschardt als reine linkeSymbolpolitik einordnete.
Die SPD kam in der ganzen Debatte kaum vor, es war sicherlich mit gutem Grunde niemand geladen, denn in der Tat spielt die CDU unter Merkel virtuos auf der SPD-Klaviatur weiter, was niemand so erwartet hatte.
Dann ging Katja Kipping, weil ihr Freund Geburtstag hat und sie versprochen hatte, bis 22 Uhr bei dessen Feier einzutreffen. Das war sympathisch und schuf Raum für allerlei freundschaftliches Geplänkel zwischen den beiden Journalistenkollegen Augstein und Poschardt, Vogel von der FDP hatte es da ein bisschen schwer.
So, das war das und wir kommen nunmehr: zu den Gesellschaftsnachrichten.
Ich muss sagen, ich war hochneugierig, als ich gestern dort ankam, richtig ein bisschen aufgeregt. Allerdings hatte das weniger mit dem Thema des Abends zu tun, als mit meinem Switch-Gefühl. So aus dem virtuellen Leben ins reale.
Ich war wild entschlossen, mich allerlei Leuten in den Weg zu werfen, was mir auch restlos gelungen ist. Ich muss – obwohl ich ein kommunikativer Mensch bin – in mir auch immer eine Barriere überwinden, aber dann habe ich mich umgetan und wurde belohnt.
Und darf sagen: Die Leute, die ich als Bloggerin kenne, sind auch im realen Leben so, wie ich’s mir dachte. Der seelsorgerisch-zugewandte ChristianBerlin und ich – wirschwatzten intensiv über das Chorprojekt und das Leben als solches. Dann kam ein junger Mann dazu, der ruhig zuhörte, manchmal was einwarf und erst durch Nachfragen wurde deutlich, dass es MH war. Ich habe ihn gezwungen, mir ein Bier auszugeben. Mehr sage ich über ihn nicht, weil ich finde, es gehört zu seinem Image, all zu dicht auffahrendem Geplauder aus dem Weg zu gehen. Lange mit Tessa geschwatzt, ein bisschen über Software-Probleme und überhaupt die Arbeit. Jan Jasper – ein humorvoller Mensch.
Jakob Augstein ist ein guter Zuhörer, allerdings blieb ihm am Tresen keine andere Wahl. Ich war ein bisschen aufgedreht, habe versucht, ihm die Bloggerszene noch ein bisschen näher zu bringen.Ich habe viel geredet, er wird es wohl einordnen. Es ging auch um einige durchaus ernste Sachen.
Und – zu fortgeschrittener Stunde: Erschien....der archinaut. Und auch das war ein guter und spannender Gedankenaustausch über Architektur und ...das Leben.
Also weiter „um unser Leben“ schreiben.
Wann waren wir denn fertig? Ich glaube so nach ein Uhr war es schon. Ich habe mich ins nächste Taxi geworfen und bin nach Hause. Sehr angeregt und vergnügt ins Bett. Und nun sitze ich hier mit der Hoffnung dass die nähere Bekanntschaft mit mir für die anderen Blogger und Freitagsgäste auch eine gute Erfahrung war.
Kommentare 24
Vielen Dank, liebe Magda! Nun ist's, als wär' ich dabeigewesen. Was dann aber auch mal sein sollte. Gibt es schon einen neuen Termin?
Herzlich
kk
Auch vielen Dank für den Bericht vom Freitag Salon von mir. Hört sich interessant an und dass Du viel Spaß hattest!
por
Applaudierender Anschluss von meiner Seite.
...oder kann man das so nicht schreiben?
Liebe Magda, vielen Dank für den Bericht. Ich habe ihn nach vorne auf die Startseite genommen. JK
Hallo kay, also das wäre klasse, wenn Du dabei gewesen wärst. Es hätte Dir bestimmt gefallen. Gab auch ein schönes Bierchen.
Ich denke, der nächste Salon soll wohl im Januar sein. Aber genaues Datum, weiß ich noch nicht.
Gruß an Dich
@ hallo poor, ja, ich hatte viel Spaß. Das ist das Gute, wenn man "vor Ort" ist, Ein Glücksfall.
Gruß nach Essen
Das ist schön, ich finde auch, er gibt doch allerlei wieder. U
Gruß
Applaudierender Anschluss ist doch durchaus der Bedeutung meiner schriftlichen Hervorbringung angemessen.
Danke Dir
Gruß
Magda, komm ins Facebooknerdnetzwerk, da erfährt man es immer sehr früh und bekommt eine EIGENE Einladung.
Hallo Magda,
beim Lesen hat man das Gefühl neben Dir zu sitzen :-)
Schön fand ich auch den respektvollen Umgang mit MHs Image.
Dank Dir mein Herz,
glaube mir, ich habe lange an dem Satz gegrübelt.
Aber einer musste sein.
Gruß
Liebe Magda,
vielen Dank für den schönen, ausführlichen Bericht, ich habe übrigens während der Veranstaltung schon den fleißigen Bleistift im Notizbuch bewundert, ich saß ja nebenan auf der andern Seite des Gangs, aber die rote Jacke habe ich bald ausgezogen, es war ja mollig warm diesmal.
Von den Gästen fand ich Katja Kipping am überzeugendsten, außerdem hat sie natürlich ihren Abgang klug gesetzt. Ulf Poschardt fand ich sehr raumgreifend, gelegentlich übergriffig, das machte seine Argumente nicht überzeugender.
Bis heute scheinen Ulf Poschardt die bösen, unionsfeindlichen Geister seiner Jugendjahre zu quälen... „Die Linken haben immer die Mädchen gekriegt..“ so ähnlich äußerte er sich... na ja, an meiner Schule war Giovanni di Lorenzo der große Frauenschwarm, natürlich links (damals!), aber das war bestimmt nicht der einzige Grund.......
Etwas lästig fand ich bei Herrn Poschardt die Anmerkungen zu den Spitzensteuerzahlern, die keinen Spaß haben, weil das ihnen entsteuerte Geld keine Veränderungsleistungen bei den Empfängern dieser Umverteilungen bewirken...... immerhin sitzt Poschardt da ja am richtigen Hebel zur Bewusstseinsveränderung der Massen via Springer-Medien :-)
Nun zum après:
Da ich mit einem Freund verabredet war, haben wir uns dann länger abseits des Tresens unterhalten - aber auch an den letzten Teil des Abends habe ich jetzt sehr fröhliche Erinnerungen, liebe Magda!
Als wär' ich dabei gewesen.
;)
Danke für die Ergänzung. Stimmt Poschardt ist schon ein bisschen verschärft, aber ich hatte immer das Gefühl, dafür ist er auch engagiert worden.
Und ich ergänze noch ein Detail : Die Beleuchtung war meiner Altersklasse auch sehr freundlich gesinnt.
Schade, dass Du gerade draußen warst, als ich meine kleine Bombe bezündet habe, die dann noch mal Sprengstoff in die gerade eröffnete Diskussion brachte. Ich weiß nämlich nicht mehr genau, was ich gesagt und wie ich das gemacht hatte, nur dass es noch mal kurz hoch her ging und die angeblich geklärte Systemfrage für einige Momente neu im Raum stand. Wobei JA, umringt von zwei bürgerlichen Intellektuellen noch mal richtig in Kämpferlaune kam, wie immer als Advocatus Diaboli, jedoch mit umgekehrter Stoßrichtung, als wir es hier gelegentlich hatten. Da wäre es beinah, nach so viel Einigkeit über die postmoderne Kanzlerin ihren kaum unterscheidbaren schwarz-roten oder schwarz-gelben Pragmatismus, noch mal richtig spannend geworden. Schade nur, dass man solche Fragen heute nicht mehr ernsthaft so auszudiskutieren versucht wie noch vor 30 oder 40 Jahren. Dabei gäbe es eine Fülle neuer Fakten und Erfahrungen...
Dafür war der gesellige Teil um so euphorischer. Standen beim letzten Mal noch MH und ich allein mit JA und den beiden männlichen Referenten des ersten Freitag-Salons am Thresen und nur eine Gruppe um den Religionskritiker am gegenüberliegenden Ende, war diesmal der Raum gleich voll geblieben und die Gesprächspartner wechselten in üblicher Smalltalk-Manier sich ab - wobei die Gesprächsinhalte allerdings alles andere als nur "small" waren. Vom Freitag über das Bloggen hin zum Persönlichen, Menschlichen und zurück zum Gesellschaftlichen oder Politischen - diese Kreisbewegung scheint mit mehrfach an mehreren Stellen durchschritten worden zu sein.
Außerdem fiel mir diesmal auf, dass auffallend viele auffallend gut aussehende Frauen im Raum waren - um noch einmal auf das heimliche "Hauptthema" der Diskussion meines Berichtes über den ersten Salon zurückzukommen - von denen mich immerhin eine sogar herzlich zum Abschied umarmt hat.
In Summa wuchs bei mir, nach dem verhaltenen Fehlstart wieder die Hoffnung, der Freitag-Salon könnte sich zu "dem" Berliner gesellschaftlichen Ereignis entwickeln, wo sich die richtigen Leute treffen und zu Hause fühlen und wo sogar irgendwann wieder das ungefilterte Gespräch über in Wahrheit unbeantwortete politische und gesellschaftliche Grundfragen wieder einen Platz im RL haben kann.
War auch sehr schön, sonst hätte ich mich heute früh nicht aufgerafft. :_))
Danke Magda, für diesen Bericht.
Ganz ausgewogen zur Sache und zum Gesellschaftsklatsch. Wie schon vile andee hier geschrieben haben: als wäre man dabeigesesen.
So muß das sein!
Es war wirklich sehr schön. Seit dem ich Magda getroffen habe, freue ich mich aufs Alter :)
Ich habe schon sehr viele Leute, die ich vorher nur "digital" kannte, irgendwann "in echt" getroffen, z.B. von der Mädchenmannschaft und andere Blogger_innen - Ich kann es uneingeschränkt empfehlen. Wir sind vermutlich so weit, dass sich online beschnuppern und mögen ein gutes Vorzeichen für alles Weitere ist.
Liebe Tessa,
das war sehr lieb von Dir. Und ich dachte immer, ich gehe allen unglaublich auf den Senkel.
Außerdem muss ich mich ChristianBerlin anschließen. Die Damen des Abends speziell die von "der Freitag" waren tatsächlich eine Zierde für Augen und Geist.
Schönen Sonntag
"Die Leute, die ich als Bloggerin kenne, sind auch im realen Leben so, wie ich’s mir dachte."
Besser geht es nicht. - Danke auf diesem Weg für Deinen netten Kommentar. - Für mich ist sowas wie Salon noch sehr neu. Vielleicht können wir uns nächstes Jahr mal knuddeln.
"Vielleicht können wir uns nächstes Jahr mal knuddeln."
Gerne aber bring Joseph mit. :-))
Liebe Magda,
herzlichen Dank für deinen Erlebnisbericht. Ein feines journalistisches Stückchen. Ich wäre sehr gern dabei gewesen, vor allem nach dieser Lektüre.
Auch an archinaut und ChristianBerlin ein Dank für ihre Ergänzungen.
Liebe Grüße
weinsztein
"Jan Jasper – ein humorvoller Mensch."
Schamesröte liegt ja in der Familie. Vielen Dank für die Blumen, die ich umgehend zurückgeben möchte. Es war mir eine helle Freude, wenn auch eine kurze.
wie ich jetzt erst lese, kann es in der hauptstadt zuweilen ganz erträglich sein. hätte ich nicht gedacht. danke, magda, für das (welt)anschaulich und konkret gut nachvollziehbare journal.