Zähne und große Geister

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(Alles Elend der Welt hat in einem Zahn Platz, aber nur, wenn der den Nerv noch hat)

Manchmal muss man Trost bei großen Geistern suchen, in dem man ihre Leiden teilt.Ich fühle mich im Moment Thomas Mann verwandt, dessen Tagebücher ich in nichtchronologischer Folge lese.

Vor einigen Wochen schon fand ich in den Tagebüchern von 1933 jenen Eintrag, der meinem eigenen Kummer ein künstlerischer Trost war: Schmerzen im Zahn an ungewohnter Stelle. Beunruhigung, weil das eine größere Sache werden könnte, die hier sehr kompliziert wäre. Das habe ich gleich verstanden. Aha, ein Zahn von tragender Bedeutung fängt an zu zicken. Gleich bin ich mit der Zunge an die Stelle, die bei mir solche eine tragende Bedeutung hat und stellte fest: Es ist soweit.

Mancher Zahn musste

gezogen werdem

Bei Thomas Mann ging es wohl noch eine Weile gut mit dem Zahn, aber er hat im Schweizer Exil manche schwere Sitzung beim Dentisten hinter sich gebracht, sehr beunruhigt und sehr Nerv getötet in jedem Sinne. Das war in den Jahren 1933/34, eine Zeit, in der sich Thomas Mann auch den Zahn der Hoffnung auf eine eventuelle Rückkehr nach Deutschland ziehen lassen musste. Die Zeit in der Schweiz und zwischendurch im französischen Sanary-sur-Mer – sie blieb ein Provisorium, um in der Sprache zu bleiben. Festere Wurzeln schlug Thomas Mann erst wieder in den USA.

Was zuvor geschah...

Was ihm „zahnmäßig“ in noch jüngeren Jahren geschah, las ich dieser Tage – betroffen von verwandten Nöten – mit Interesse und Anteilnahme.

Sonntag, den 8. XII. 1918: „Müde, bedrückt. Wurzelhautentzündung an einem Vorderzahn. Werde die langwierige u. widrige Prozedur beim Zahnarzt nun beginnen müssen.“

Wie Recht er hat, stellt sich gleich am nächsten Tag heraus.

Montag, den 9. XII. 1918 „In der Nacht Aspirin. Zahnschmerzen“.

Mittwoch, den 11. XII. 1918 „Mittags zu Gosch, der neue Arsen-Einlage machte und Abdrücke nahm als Einleitung zu der bevorstehenden Prozedur. Die Entfernung der Wurzeln der beiden oberen Schneidezähne auf Dienstag früh angesetzt.“

Der Dienstag, der 17. XII ist heran. „7 ¼ Uhr auf und nach dem Frühstück zu Gosch. Fast zweistündige Sitzung, sehr aufregend und angreifend. Es wurde eine Krone entfernt, dann mit Injektionen die beiden vorderen Wurzeln gezogen endlich noch Gips und Wachsabdrücke gemacht.( ...) Die Verholzung des Kiefers, sehr sonderbare und unheimliche Empfindung. Breite Lücke jetzt. Die Empfindung hat sich ziemlich wieder hergestellt, der Kiefer schmerzt von den Stichen. – Ging zu Fuß nach Haus bei feuchtem Wetter. Frühstückte etwas und sah rauchend die Post durch.“. Rauchen soll man nach solchen Prozeduren nicht, aber das hat den Thomas Mann nicht geschert, weil das für ihn literarisch bewältigt war.

Immerhin hat er den Senator Thomas Buddenbrook an einem Zahn sterben lassen. Was sollte ihm da noch passieren?

Abdrücke und Abgründe

Mein eigenes Zahnschicksal wird sich erfüllt haben, wenn ich die Abdrücke hinter mir habe. So was dauerte einst, so Thomas Mann in einem anderen Eintrag, eine geschlagene halbe Stunde oder gar noch länger. Das schafft neben den Abdrücken auch existenzielle Abgründe. So lange das Maul gestopft zu kriegen ist für einen verbal orientierten Menschen absolut traumatisierend.

Heute - das ist der Segen der modernen Techniken – dauert das nur zwischen zwei und drei Minuten. Welche eine Beruhigung. Der Rest ist „Zähne zusammenbeißen“ bei offenem Mund.

So berechtigt die Mahnung eines ostdeutschen Entertainers ist, dass man das Brücken bauen nicht nur den Zahnärzten überlassen sollte, ich empfinde die zahnärztliche Versorgung hierzulande als eine freundliche Gabe, die ich – immer wenn ich entsprechend gespart habe – gern in Anspruch nehme. Wer weiß, wie lange einem noch der Arzt den Mund verbietet, indem er gebietet: „Jetzt machen wir den Mund schön weit auf“.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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