Die sieben Tugenden: Liebe

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Liebe Community,

in dieser Woche möchte ich eine fluffigere Tugend als bisher ansprechen, nämlich die Liebe. Zumindest kann diese das Leben locker und leicht machen, ebenso gelingt es ihr aber auch, uns zu erdrücken. Sei es in Form von Liebe, die man nicht erwidert oder aber man empfindet sie selbst, jene Liebe, die nicht entgegenet wird und kann sie womöglich nicht einmal mehr loswerden.
Kaum ein Gefühl lässt sich so schlecht ignorieren und kontrollieren. Ist es intensiv, stülpt es sich über den Alltag, über fast jede Handlung, jedes Denken und macht das Leben entweder wunderschön oder unerträglich.

Dies ist freilich nur eine der Facetten. Es gibt beispielsweise ja auch die Liebe zu den Eltern, die Liebe zu Freunden, die Liebe zu Tieren, die Liebe zu irgendeiner Gottheit, die Liebe zu Dingen, die Liebe zu Handlungen und die Liebe zu sich selbst.

Bei den bisherigen Tugenden Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit war – zumindest für mich – eine rationale Herangehensweise in der Betrachtung wesentlich einfacher. Es ist zudem höchst schwierig, nicht abgedroschen zu klingen oder kitschig, wenn man über die Liebe schreibt. Möglicherweise gelingt dies so gut wie nie, aber vielleicht ist das ja auch gar nicht schlimm.

Bis zum Ende der kommenden Woche möchte ich nun also die Tugend Liebe zur Diskussion stellen. Ich freue mich wieder auf Kommentare oder auch Texte von Euch. Wichtig ist, dass Ihr Eure Beiträge in dieser Woche mit den Tags

sieben
tugenden
liebe

verseht, damit sie gebündelt werden können.

Danke und mit lieben Grüßen,
Maike

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Hier eine Aufzeichnung aus dem März dieses Jahres:

Nach beinahe dreißig Jahren war ich wieder an den Plätzen meiner ersten Lebensjahre und rückte Distanzen und Größen, die meiner Erinnerung geschuldet waren, zurecht. Ich stand vor meinem Kindergarten und auf dem Hof der Grundschule, wo wir uns nach der großen Pause händchenhaltend in Reihen aufstellen mussten, bevor wir klassenweise wieder zurück in das Gebäude gehen durften. Ich stand in der zweiten Etage vor den Vitrinen mit den ausgestopften Tieren, wo wir uns seinerzeit darüber stritten, wer beim Nachspielen von Tom Sawyer die Becky Thatcher sein durfte.

Ich stand vor dem Haus, in dem wir damals wohnten. Ich sah das Fenster meines Kinderzimmers, von dem aus ich sonntagmorgens auf die Straße blickte und Autos zählte und Nuss-Schokolade und Salzbrezeln aß, während ich meine Eltern ausschlafen ließ. Ich sah den Balkon, auf dem ich an Silvester stand und mich vor dem Feuerwerk fürchtete und von dem aus mich mein Vater im Sommer als Mutprobe über das Geländer hängen ließ, so dass ich mit meinen Füßen fast den Rasen im Erdgeschoss berührte. Ich sah das Dach, unter dem abends Autos parkten und ich tagsüber das Fahrradfahren übte. Ich sah die Mauer, auf der damals Hängepflanzen wuchsen, die wir lupften, um darunter befindliche Schnecken zu sammeln. Ich sah die kleine Straße, auf der wir Völkerball spielten und den Hang, auf dem ich im Winter Schlitten fuhr. Ich sah die Häuser, in denen meine Freunde wohnten und den Spielplatz, auf dem ich mit neun Jahren zum ersten Mal heimlich geraucht hatte und den Wald und die nahen Berge, den kleinen Bach, an dem ich Sumpfdotterblumen und die Wiese, auf der ich Kuckucksblumen pflückte.

Ich sah das Kurhaus, in dem ich an Fasching als Ballerina verkleidet auf dem Kinderball tanzte, die Orchestermuschel und die Quellen, aus denen ich fasziniert das seltsam schmeckende heiße Wasser trank. Ich sah die Allee, den kleinen Fluss, die Parkanlage, die Kieswege, die Prachtbauten und die Kugellampen und die Farbenuhr am Augustaplatz, die schon damals niemand zu lesen verstand.

Ich sah den ganzen Tag lang mich selbst als kleines Mädchen, das ich liebevoll umarmte, und zum ersten Mal sah ich einen Ort, an dem lebend ich mir mich als alte Dame vorstellen konnte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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