Reguläre Regelabweichung

VW-Affäre Auf Regelbrüche in der Wirtschaft folgen ausgiebige Skandaldebatten. Schuld wird personalisiert, Strukturprobleme werden ignoriert. Das greift zu kurz, ist aber bequem

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Heuchelei ist Konzernen inhärent
Heuchelei ist Konzernen inhärent

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Die Manipulationen bei Volkswagen haben in den vergangenen Wochen für reichlich Spekulationen gesorgt. Eine Erklärung wollen viele aber jetzt schon gefunden haben: Autoritäre Führung sei die eigentliche Ursache der Affäre. Nur, die Charakteristik eines typischen Großkonzerns bleibt dabei auf der Strecke. Denn jenseits moralischer Urteilsfindung gehören Regelverstöße für Unternehmenstanker regelrecht zur betrieblichen Übung. Normen dezent zu umgehen ist ausgesprochen praktisch.

Nils Brunsson, Ökonom an der Universität Uppsala, sieht dahinter – frei von Anklage – Heuchelei. Heuchelei ist Konzernen inhärent, die unter dem Druck gegensätzlicher sozialer Ansprüche ihr Sagen und Tun voneinander trennen. Nur selten können Organisationen das sein, was von ihnen notorisch gefordert wird: transparent. Vollständige Transparenz bleibt Fiktion. In einer Gesellschaft voller Zielkonflikte werden Unternehmen regelrecht dazu gezwungen, auf soziale Erwartungen flexibel zu reagieren.

Ideale Bedingungen für Heuchelei

Weil man von Automobilbauern ein öko-sensibles Image erwartet, wird für Heuchelei der ideale Nährboden bereitet. Autokonzerne positionieren sich seit Jahren als die Vordenker in Sachen Umweltschutz. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Doch müssen sie auch die Wachstumsziele ihrer Investoren erfüllen. Ganz nebenbei sollen – zwecks Statusanzeige in besseren Wohnvierteln – viele imposante und schwergewichtige Karosserien vom Band gehen; zu einem Preis, der möglichst vielen Konsumenten rund um den Erdball Partizipation am Individualverkehr gestattet.

Nach dieser Logik hat VW fast alles richtig gemacht: nämlich sich für das relevante Klientel passend aufgehübscht. Nicht das schädigt den Konzern, sondern sein Unvermögen, Praktiken „brauchbarer Illegalität“ – wie es einst Niklas Luhmann nannte – vor den gestrengen Augen einer anspruchsvollen und doppelmoralischen Öffentlichkeit fernzuhalten. Ist es nicht gleichermaßen naiv, ausgerechnet exklusiv in VW die gute Seele der Autobauer zu wähnen, wie dem Unternehmen jetzt diskrete Abläufe anzulasten, die in anderen Großbetrieben, wenn auch zumeist in anderen Dimensionen, ebenso anzutreffen sind?

Unklare Entscheidungsketten

Völlig fehlgedeutet bleibt weithin die Entstehung von Regelbrüchen. Nicht große heimliche Ansagen, nicht starke kriminelle Energie führen zum Verstoß, sondern schleichende Prozesse, im Laufe derer der eine dies, der andere jenes tut, um am Ende Folgen herbeizuführen, die erst im Gesamtbild das Ausmaß der Devianz, wie Organisationssoziologen die Abweichung von Firmenstrukturen und Regelwerken beschreiben, deutlich machen. Wie die eine Entscheidung zur anderen und dann zur nächsten führte, darüber wird am Ende nicht einfach geschwiegen; es lässt sich oftmals schlicht nicht mehr nachvollziehen. Weil man sich nicht permanent gegenseitig kontrollieren kann, weil man Glauben schenken muss, weil Lücken der Dokumentation entstehen, die man für normal hält, die unscheinbar wirken. Alles wird schon seine Gründe haben, denken sich viele Beschäftigte in Großkonzernen, die ihnen ohnehin alle Tage wieder wie ein diffuses, undurchschaubares Universum erscheinen.

Entgegen der öffentlichen Inszenierung des typischen Berufsalltags erfolgreicher, stets verfügbarer, schlafloser und doch permanent hochdynamischer Manager, haben auch die Spitzenkräfte der Konzernbürokratien weder Nerven, noch Interesse, noch die geistigen Kapazitäten ihre Abteilungen vollkommen im Blick zu behalten. Sie müssen delegieren, was erst einmal attraktiv erscheint, aber zu unerwünschten Effekten hinsichtlich der Informationsflüsse und der Zuschreibung von Verantwortung führen kann. Wenn irgendwann das Ungemach deutlich wird, beginnt das Kaschieren, das Kleinhalten, das Aufräumen im Stillen. Schadensbegrenzung ist dann angesagt, wenn es praktisch zu spät ist. Alles bleibt diskret und in der Organisation; solang keine Ermittler und Staatsanwälte vor der Türe stehen. Jedes Ungemach kann die Organisation in den eigenen Reihen behalten und irgendwie verwischen. Erst wenn der Rechtsapparat Wind bekommt, erst dann wird der Regelverstoß in die Öffentlichkeit getragen und womöglich zum mittelschweren Desaster.

Auch wird vergessen, dass VW nicht das erste Mal mit personellen Störfällen zu kämpfen hat. Wirklich interessant ist aber: Während man sich etwa mit den Folgen eines inkriminierten Bankensystems faktisch abgefunden hat, werden Regelverstöße in der Industrie oder im Kommerzfußball mit höchster Erregung registriert. Die Macht der Aufmerksamkeitsökonomie und die eigenen Urteilspräferenzen sorgen dafür, dass das eine verdrängt, das andere zur großen Nummer aufgebauscht wird.

Schicke Schlagwortkonzepte bringen wenig

Angesichts eines prestigeträchtigen Individualverkehrs ist es doch ziemlich zynisch, Moralgericht über VW zu halten. Tausende Tote, direkt und indirekt, sind zweifelsfrei das Resultat des Automobilverkehrs. Längst hat man sich damit abgefunden. Solang punktuelles Echauffieren mit der üblichen Portion Hybris veranstaltet wird, solang werden Befindlichkeiten jedes Hinterfragen festgefahrener Mobilitätsstrukturen verhindern. Und mit schicken Schlagwortkonzepten à la „neue Führungskultur“, „dezentrales Entscheiden“, „flache Hierarchien“ oder „Vertrauensmanagement“ wird einmal wieder von wirklich unangenehmen Einsichten abgelenkt: Politik und Autowirtschaft gestalten aufs Engste ihre Kooperation im Dienste so behaupteter Arbeitsplatzsicherung. Davon will niemand wirklich abrücken. Eingedenk ökonomischer Abhängigkeiten ist die Gefahr der öffentlichen Gegenrede zu groß. Gerade die starke Fokussierung auf das VW-Konzernmanagement hemmt den nüchternen Blick auf die hintergründige wirtschaftspolitische Problemkonstellation, an der man absehbar offenkundig wenig zu ändern vermag.

Doch abseits dieser alternativlos beschworenen Netzwerkpflege wäre es insgesamt gesellschaftlich nützlich, den Weg in eine umweltschonende Mobilität zu finden. Allerdings: Eine nicht gerade unwichtige, heikle Frage bleibt dann aber immer noch weitgehend unbeantwortet: Wenn schon angesichts eines skandalgetriebenen Erregungswettbewerbs die Gesellschaft kurzfristig hochtrabende Integritätserwartungen an die Automobilindustrie stellt, welchen Preis will und kann sie dann eigentlich selbst zahlen? Die altbekannten Zielkonflikte lassen grüßen.

Marcel Schütz ist Doktorand der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Fach Organisationssoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Literatur: Nils Brunsson (1989): The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions, and Actions in Organizations. Chichester.

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Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

Marcel Schütz

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