Bitte durchlüften

Repräsentative Demokratie Post-Jamaika ist Ergebnis und Prüfstand des deutschen Konservatismus. Dafür sollte er geradestehen

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Die gescheiterten Sondierungsgespräche zeigen es allzu deutlich: Bei den Konservativen muss dringend gelüftet werden
Die gescheiterten Sondierungsgespräche zeigen es allzu deutlich: Bei den Konservativen muss dringend gelüftet werden

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Der Spin war schon Montagmorgen zu lesen. Da wurde das alte Motto der SPD ausgegraben „Erst das Land, dann die Partei“. An gleicher Stelle („Die Lage“, SPON) schrieb Christiane Hoffmann gestern in der Früh abermals im Indikativ, dass die SPD „sich doch auf eine Große Koalition einlassen muss“. Kein Wunder, dass Wolfgang Kubicki für die Verhandlungsabbrecherin FDP völlig ungeniert damit schwadronieren konnte: „Wenn es zu Neuwahlen kommt, sind Sozialdemokraten daran Schuld“. Oder n-tv etwas von „Staatsräson und Verantwortungsbewusstsein“ schwafelte, denen sich die SPD entziehen würde.

Größter Verlierer dieser Wahlen und damit verantwortlich für die Situation ist aber der deutsche sog. Konservatismus. Mindestens fünf Mal hat Angela Merkel mit Regierungsbeschlüssen sogenannte klassische Positionen der Unionsparteien abgeräumt: Atomausstieg (nach Fukushima), Ende der Wehrpflicht, Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem, Frauenquote in den Aufsichtsräten börsennotierter Großunternehmen, Ehe für alle. Viele, die heute den rechten Rand in der Republik besiedeln oder ihn wählen, sprechen von einem Verlust des Markenkerns und dass sie sich deswegen von der CDU abgewandt hätten.

Der geringste Luftzug versetzt die Union in Schnappatmung

Die Entscheidungen von Merkel waren keineswegs revolutionäre Schnitte. Sie waren die spätest möglichen Konzessionen an eine sich sozial, technisch und politisch wandelnde Welt. Nur in einem nicht etwa wertkonservativ Bewahrenden, sondern in der bestenfalls verwahrenden Konserve ist man für diese Entwicklungen blind und taub. Die Vorsitzende hat im CDU-Museum zwecks Sauerstoffzufuhr lediglich Fensterchen in Nebenräumen gekippt. Das hat gereicht, die Union in Schnappatmung zu versetzen.

Besonders sichtbar geworden ist das fast auf den Tag genau vor zwei Jahren bei der kleinen Schwester CSU. Der Eklat, Merkel auf offener Bühne wie ein Schulmädchen abzukanzeln, war das degoutante Imponiergehabe eines sich als Alphamännchen gerierenden Horst Seehofer.

Und doch war es nur ein Auftakt. Denn die Juniorin in der Union drohte außer mit Familienstreit gleichsam mit der Auflösung im Bestand der deutschen Republik. Die von Seehofer angedrohte Verfassungsklage nebst Rechtsgutachten in Fragen der Grenzverwaltung (verfassungsblog.de: „Dem Freistaat zum Gefallen“) zielte mit dem Argument der Bundestreue direkt auf das föderale System und damit den Kern des deutschen Staatsaufbaus. Selbst Seehofer mag in der Zwischenzeit aufgegangen sein, dass er damit zu weit gegangen ist.

Das Aberwitzige daran ist jedoch geblieben: Aus dem Appell an Solidarität, Zuversicht und Mut in „Wir schaffen das“ angesichts der drohenden humanitären Katastrophen an europäischen Grenzen wurde ein politisch-landsmannschaftliches Credo eines schwiemeligen „Wir“: Die christsoziale Version des „We first“. Schon andere Regionen und Länder haben gezeigt, dass das weder der Selbstverwirklichung dient, noch identitätsstiftend ist. „Wir zuerst“ ist vielmehr die kongeniale Andockstation für egozentrische Allüren bis hin zum völkischen Revival. Das ist keine Abgrenzung zum rechten Rand, sondern dessen kalkulierte Einladung.

27 Jahre Durchregieren von CDU/CSU

In 27 der vergangenen 35 Jahre haben die Unionsparteien den politischen Werdegang in Deutschland mit Kanzlerschaft, als Senior der jeweiligen Regierungen und in den sog. Kanzlermehrheiten im Parlament maßgeblich geprägt. Sie haben dabei das System des Durchregierens etabliert und verfeinert. Netzwerke und informale Ebenen[1] sind so zum eigentlich bestimmenden Instrumentarium ausgebaut worden: Koalitionsrunden, Treffen der Parteivorsitzenden, Verhandlungsgruppen oder Arbeitskreise haben in der jüngeren Vergangenheit Entscheidungen bei konfliktträchtigen Themen faktisch verbindlich festgelegt[2] - nicht im Parlament, nicht vor der Öffentlichkeit, sondern hinter verschlossenen und manchmal auch sehr privaten Türen.

Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist enorm. Er besteht im Vertrauens- und Ansehensverlust von Parlament und seinen Abgeordneten in den Augen der BürgerInnen. Ohnehin eine volatile Währung, wird fehlendes Vertrauen zum systemischen Problem, wenn es die Kernfunktionen des Parlaments betrifft: Forum des Souveräns zu sein und die Regierung zu kontrollieren.

Trotz faktischen Machtzuwachses und Ausweitung der Kompetenzen genießt etwa das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten ein gleichbleibend hohes Vertrauen von über 70 Prozent der Bevölkerung. Es erscheint vielen als letztes Bollwerk sowohl bei der Lösung politischer Probleme als auch hinsichtlich der gouvernementalen Kontrolle.

Der Bundestag dagegen kann sich glücklich schätzen, wenn er an guten Tagen nach Erlass eines populären Gesetzes auf Zustimmungswerte knapp über 50 Prozent kommt. In den vergangenen Tagen lief es für das Parlament in den Medien so: „Jamaika-Sondierungen: Großkampftage für Lobbyisten“. Und in den Social-Media so: „Im Bundestag gibt es 865 Lobbyisten mit Hausausweis bei 709 Abgeordneten. Das ist kein Parlament, das ist ein Bazar […]“.

Eine Vorstellung von Politik ist an ihre Grenzen gestoßen

Das System, antiquierte Inhalte vermittels der informellsten aller Plattformen festzumachen, ist mit den Sondierungen an seine Grenzen geraten. Mag das Ende-Jamaika in Teilen auch Parteitaktik geschuldet gewesen sein: Der mit der FDP wieder im Parlament angesiedelte, explizite und gänzlich ungenierte Raubtierkapitalismus lässt sich an keinem Ende mit Fortschritt verbinden außer im Kampf jeder gegen jeden. Auch nicht beim Tête-à-Tête in wechselnder Besetzung, auch nicht unter der Regie von Deutschlands bester Moderatorin. Ganz folgerichtig hat die Partei die Reißleine gezogen.

Schon früh und in einem einzigen Satz hat Thorsten Schäfer-Gümbel das Ansinnen in Richtung seiner Partei zutreffend zusammengefasst: „Die SPD ist allerdings nicht das Ersatzrad für den schleudernden Wagen von Frau Merkel“. Tatsächlich klingen die eingangs erwähnten, vordergründig patriotischen Appelle so falsch wie das Zitat nach Horaz, dass es süß und ehrenhaft sei, sich für das Vaterland zu opfern. Europa und die Welt kommen ohne Deutschland nicht aus? Wer an diesem Wesen genesen will, ist selber schuld. Die Wirtschaft braucht stabile Verhältnisse? Man lese nach bei Joe Kaeser und wie er noch vor zwei Jahren Witzchen über die Energiewende riss. Heute weinen darüber die Siemens-ArbeiterInnen in Görlitz und Mühlheim.

Der Gedanke an eine Unions-Minderheitsregierung geht um. Marc Beise hat heute Vormittag in der Süddeutschen die Vorteile vorgestellt. Ich teile seine Ansicht, dass damit das Parlament aufgewertet würde. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Programm abgespult wird oder eines erst im Werden ist, an dem ständig gewirkt werden muss.

Die Unionsparteien allerdings sperren sich dagegen. Das ist eine Frage der Persönlichkeiten. Wer mit dem System zur mächtigsten Frau der Welt (Forbes-Magazin) gekürt worden ist, dürfte sich kaum in die Niederung täglicher Mehrheitsfindungen begeben wollen. Wohl an der Prestigefrage scheiterte vergangenes Wochenende die Anwesenheit Deutschlands beim EU-Sozialgipfel in Göteborg. Obwohl Angela Merkel wegen der Sondierung in Berlin gebunden war, untersagte sie der geschäftsführenden Arbeitsministerin Katarina Barley die Reise.

Die Verweigerungshaltung ist aber vor allem die Fortsetzung des Denkens in besonders alten Konserven. Die CDU des Konrad Adenauer gab den prägenden Slogan aus: „Keine Experimente“. Die Antwort einer jungen, außerparlamentarischen Generation folgte vor genau 50 Jahren: „Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren“.

Heute bedarf es keiner Andeutung auf ein „1000jähriges Reich“. Es reicht der Mief, der sich unter dem einen Tailleur oder dem anderen Zweireiher in den letzten 35 Jahren angesammelt hat. Dazu gehört auch das Ansinnen, so lange wählen zu lassen, bis das Ergebnis -hoffentlich- passt. Zeit zum Durchlüften.

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[1] Deren Bedeutung hat Klaus von Beyme in Der Gesetzgeber: Der Bundestag als Entscheidungszentrum (1997) hinsichtlich der legislativen Funktion des Bundestages systematisch hervorgehoben
[2] Vgl. Manfred Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung : Strukturen und Prozesse informalen Einflusses im Deutschen Bundestag, 2001, S. 40; Schwarzmeier untersucht die informellen Ebenen der Parlamentsarbeit unter dem Blickwinkel ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

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