Geschichte, ganz groß

Medienkompetenz Derzeit fällt das Wochenmagazin der SPIEGEL eher mit internen Querelen auf. Aber plötzlich ist da online ein Hingucker

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ist man bei „Weltgeschichte in 291 Sekunden“ erst am üblichen wie faden Anreißer (Bild, Teaser) vorbei, geht die Post ab. Was da zu einem der bekannteren Songs von Billy Joel abgeliefert wird, ist Journalismus auf der Höhe der Zeit.

Weil darin eine Geschichte erzählt wird. Weil die Geschichte von Anfang bis Ende unendlich viele Facetten hat, die die Leser auf eigene Reisen schicken. Und weil zu diesen Reisen auch noch kleine Vademecums angeboten werden, die unaufdringlich, verschiebbar, spielbar sind. Die Personen und Handlungen, die Joel in seinem Song „We didn’t start the Fire wie Salven auf die Hörer abfeuert, erhalten in Inserts ihre bewegliche Abbildung und einen kleinen Begleittext. Da ist nicht nur das wortgewordene Stakkato im Rhythmus von Joel, das die Leser in Form und Inhalt vorantreibt, sondern eine Präsentation, die fast den Atem nimmt: Der Rhythmus selbst wird wie auf einem Notenblatt aufgefächert – in Bild und Text.

Der Artikel ist Anschauungsmaterial dafür, was Print nicht leistet, weil es diese Ausdrucksformen so nicht hat und nicht haben kann. Auf einer gedruckten Seite kann der Leser keine Bausteine verschieben, erst recht nicht um sich ein eigenes Narrativ zusammen zu stellen. Es ist Hypertext im eigentlichen Sinn des Wortes, eine Nichtlinearität, die nur noch von der Haupterzählung der Autorin wie ein Rückgrat vertikal zusammengehalten wird.

Und es ist spannend. Die Bleiwüsten von Kommemorationen geschichtlicher Ereignisse werden aufgelöst im Bewusstwerden, dass Geschichtsschreibung eine sehr subjektive Seite hat. Das nach Gusto Arrangierbare, wie es Billy Joel im Song schlagwortartig vertextet, bleibt allenfalls noch in der Abfolge der Jahre so etwas wie eine Sequenz. Die Bedeutung der einen oder anderen Episode hingegen gewinnt an eigener Bedeutung und selbständigem Gewicht. Sie sind nicht mehr nur Fußnoten, sondern widerlegen die Linearität von Geschichte selbst.

Nur zwei Elemente stören den Gesamteindruck: Der eingangs erwähnte Teaser, der noch dazu grell daher kommt und gedeckte, beinahe monochrome Gesamtanmutung des Stückes mit Füssen tritt. Bekanntlich sind solche Dinge das Werk von Schlussredaktionen, deren fehlende Feinfühligkeit schon so manchen Autor an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt hat. Und da ist die lieblose Allerweltseinbindung der YouTube-Version des originalen Clips. Weniger, etwa als Linktipp, wäre mehr gewesen.

Ich gestehe – vielleicht wäre mein Blick auf das Stück weniger enthusiastisch, wenn ich die Musik und die Lyrics von Billy Joel nicht mögen würde. Aber auch hier kommt das eine zum anderen. Dieser unglaublich talentierte Musiker und Songwriter, dessen Anschlag Chopin in der verrauchtesten Bar zur Geltung brächte, trifft auf eine ganz wunderbare Stückeschreiberin, die das Cross-Over beherrscht und virtuos dem Publikum öffnet. Die bis in die Details gehende Liebe zu ihrem Werk ist so unverkennbar wie die des Piano-Man zu seinem Metier.

In einer ihrer Selbstbeschreibungen führt Solveig Grothe an, sie sei auch Ghostwriterin. Dieser Geist söhnt mit dem immer platter werdenden online-Angebot großer Verlagshäuser aus. Dafür der Dank eines Lesers, der Feuer gefangen hat. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden