Mare Liberum

Menschenrechte Viel ist vom Mittelmeer als der „tödlichsten Grenze der Welt“ die Rede. Wie aber funktioniert eine „Grenze“ auf dem freien Meer?

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Ein kurzes Blog von Niels Frenzen bei Migrants at Sea machte auf die Wendemarke in Europa aufmerksam. Der Rechtsprofessor von der University of Southern California am 11. Mai 2017: „Libyan Coastguard Vessel – in Coordination with Italian SAR Authority – Intercepts Migrant Boat in International Waters and Returns 500 Migrants to Libya; de facto Push-Back“.

Der eindeutige Bezug zum Maritime Rescue Coordination Center (Mrcc) in Rom als der maßgeblichen Search-and-Rescue-Autorität wurde vor einigen Tagen noch einmal besonders deutlich.

Bei ihrem Einsatz am 23. November in internationalen Gewässern wurde die Crew der „Aquarius“ vom Mrcc angewiesen, jede Hilfeleistung zu unterlassen. Nicola Stalla, Notfallkoordinator der Organisation SOS Méditerranée an Bord des Rettungssschiffes: „Wir erspähten ein Schlauchboot, dass aufgrund des Wetters und dem schlechten Zustand des Boots jeden Moment auseinanderzubrechen drohte. Während der vier Stunden, die wir auf Standby verbringen mussten, verschlechterte sich das Wetter und das Risiko für ein Schiffsunglück stieg mit jeder Minute. Unsere Crew musste mit ansehen, wie die libysche Küstenwache sie zurückschleppte.

Seit dem Massaker vom 11. Oktober 2013 ist die römische Rettungsleitstelle schweren Vorwürfen ausgesetzt. Auch damals war der Rettungseinsatz stundenlang verzögert worden. Mehr noch: Das Patrouillenschiff „Libra“ der italienischen Marine, das sich zwar außer Sichtweite, aber doch so nah am späteren Unglücksort befand, dass ein Eingreifen jederzeit möglich gewesen wäre, bevor der Kahn der Flüchtlinge kenterte, wurde angewiesen, fern zu bleiben.

Bei dem „Schiffbruch der Kinder“, wie Fabrizio Gatti es später nannte, ertranken 268 syrische Flüchtlinge, darunter etwa 60 Kinder; 212 Personen überlebten. Es ist der Hartnäckigkeit des Journalisten und Autors zu verdanken, dass die Öffentlichkeit von dem gravierenden Fehlverhalten des Mrcc erfuhr. Schon unmittelbar nach dem Ereignis waren ihm die Unterschiede zwischen den offiziellen Verlautbarungen und den Aussagen der Überlebenden aufgefallen.

Im Frühjahr 2017 konnte Gatti dazu auch den Funk- und Gesprächsverkehr vorlegen. Die Originalmitschnitte und ihre Transkripte (‘Stiamo morendo, per favore‘: le telefonate del naufragio dei bambini, l’Espresso, 9.5.2017; dt. Übersetzung) legen nahe: Die Entscheidungen der Rettungsleitstelle waren ganz erheblich von den Weisungen von dem operativen Zentrum des italienischen Marinegeneralstabs (Cincnav) abhängig.

Risse im heroischen Bild von „Mare Nostrum“

Dementsprechend verlaufen derzeit die strafrechtlichen Ermittlungen. Sie gehen heute nicht mehr nur von unterlassener Hilfeleitung aus, sondern vom Verdacht mehrfachen, vorsätzlichen Totschlags durch Unterlassen. Sie konzentrieren sich auf die damaligen Leiter von Cincnav, Luca Licciardi, und den der Operationszentrale der italienischen Küstenwache, Leopoldo Manna. Einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Einstellung des Verfahrens hat Ermittlungsrichter Giovanni Giorgani in Rom Mitte November zurückgewiesen.

Für besonderes Aufsehen sorgen aber die Ermittlungen gegen Catia Pellegrino. Sie war zum Zeitpunkt des Massakers der befehlshabende Offizier der „Libra“. Und sie wird bis heute als Heldin gefeiert, als Imageträgerin zur Marineoperation „Mare Nostrum“. Gestartet unter dem Eindruck der Toten vom 11. und vom 3. Oktober 2013 vor Lampedusa, war die Marine plötzlich wie ausdrücklich zur Retterin in höchster Not bestimmt worden. 2015 wurde Pellgrino von Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella mit einem Verdienstorden ausgezeichnet: Für die, so die Laudatio, „bei der Koordinierung zahlreicher, dramatischer Rettungseinsätze auf Hoher See im Rahmen der Operation ‚Mare Nostrum‘ gezeigte Kompetenz und Sensibilität“. Und „weil Sie die erste weibliche Kommandeurin eines Kriegsschiffes ist“.

Die Ermittlungen könnten auch ein Schlaglicht auf die Frage werfen, in welchem Maß die Rettungsleitstelle in Rom politischen Einflussnahmen ausgesetzt war und ist.

Die Aufgabenstellung ist ohnehin nicht einfach. Bereits die eigene Küstenlinie ist mit rund 7.600 Kilometern die Längste im Mittelmeerraum. Bei Search-and-Rescue-Operationen muss Rom aber auch immer ein Auge auf die SAR-Zone von Malta werfen, die für die Kapazitäten des kleinen Inselstaates zu groß geraten ist.

Besonders brisant aber ist die Lage in den Gewässern vor Libyen. Denn das nordafrikanische Land hat, wie auch Tunesien oder Ägypten, nie eine eigene Rettungszone eingerichtet. Noch im März 2017 referierte Konteradmiral Nicola Carlone von der italienischen Küstenwache bei einer internationalen Begegnung, dass Italien de facto das ganze Seegebiet vor Libyen und Tunesien überwache.

Die zentrale Frage nach einem "Place of Safety"

Daran hat die einseitige Ausrufung einer eigenen SAR-Zone durch die sogenannte Regierung der nationalen Einheit in Tripolis vergangenen August nichts geändert. Libyen hat zwar die Internationale Schifffahrtsorganisation IMO als Sachwalter des SAR-Abkommens über seine Absichten informiert. Einem Medienbericht zufolge wurde das Ansinnen jedoch „aus technischen und redaktionellen Gründen“ zurückgewiesen. Begründung: Tripolis verfügt über kein eigenes Mrcc, das im SAR-Abkommen zwingend vorgeschrieben ist. Das wurde von der IOM auf einer Tagung vom 30. Oktober indirekt noch einmal bestätigt: „The possibility of a Libyan MRCC is a concern.

Selbst wenn Libyen, etwa mit italienischer Hilfe, eine eigene Rettungsleitstelle einrichten würde, bliebe dennoch das zentrale Problem des „sicheren Ortes“ (place of safety). In den Richtlinien der IMO zur Behandlung von aus Seenot geretteten Personen von 2004 ist das „der Ort, wo das Leben der Überlebenden nicht mehr bedroht ist und ihren grundlegenden Bedürfnissen (wie Nahrung, Schutz und medizinische Versorgung) entsprochen werden kann. „Regierungen“, so der Text weiter, „sollen dabei zusammenarbeiten, geeignete sichere Orte für Überlebende zu schaffen“. Und es „sollen Ausschiffungen in Gebieten vermieden werden, in denen das Leben und die Freiheit derer bedroht werden, die eine begründete Frucht vor Verfolgung behaupten“. Was davon trifft auf das heutige Libyen zu?

Schließlich ist da noch das grundsätzliche Missverständnis: Die Einrichtung einer SAR-Zone gewährt kaum hoheitliche Befugnisse, erst recht keines auf Beschränkung freier Fahrt auf freiem Meer. Der Ausschluss ziviler Seenotrettung, teils unter Anwendung unmittelbarer Gewalt seitens der libyschen Soldateska, ist nicht nur seerechtswidrig: Er ist, denkt man sich die Hoheitszeichen an deren Seefahrzeugen weg, vielmehr ein Akt der Piraterie. Dagegen legen die Suche und Rettung dem Anrainerstaat eine ganze Reihe von vor allem humanitärem Pflichten auf. Ihnen haben sich neben Libyen auch Tunesien und Ägypten bislang erfolgreich entzogen.

Das freie Meer wird mit einer Grenze durchzogen

Niemand wird behaupten können, das alles nicht zu wissen: Weder in Rom noch in den Staatskanzleien, die mit der gemeinsamen Militäroperation EUNAVFOR Med/Sophia ebenfalls die See vor der libyschen Küste abdecken. Im Gegenteil: Die zahlreichen Berichte sowohl von staatlichen, supranationalen wie nichtstaatlichen Stellen haben belegt, dass die Verhältnisse in dem nordafrikanischen Land selbst hinreichende Fluchtgründe sind.

Das Mrcc in Rom spielt darin eine höchst ambivalente Rolle: Unter dem Vorzeichen der Rettung zur See die vor Vergewaltigung, Folter, Mord und Versklavung zu hintertreiben. So aber wird die Grenze auf Hoher und seit Menschengedenken Freier See erst geschaffen, von der derzeit gesagt wird, sie sei die tödlichste der Welt.

Literaturhinweis: Tanja E. Aalberts / Thomas Gammeltoft-Hansen, „Sovereignty at Sea: The law and politics of saving lives in the Mare Liberum“, Journal of International Relations and Development 17, 439-468 (October 2014), doi:10.1057/jird.2014.12

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

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