Vom Stereotyp zum Vorurteil

Barrieren Schmerzlich bewusst wird, wie nahe beieinander geographische Grenzen mit denen im Weltbild liegen, wenn Ressentiments übernehmen

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Den Beitrag in italienischer Sprache habe ich mit dem Satz eingeleitet: „Wie trostlos ist es, Alessandro Sallusti zu lesen“. Hier ergänze ich: und Jörg Bremer. Denn beide Journalisten, der eine Chefredakteur der in Mailand erscheinenden Tageszeitung Il Giornale, der andere Korrespondent für die FAZ als Korrespondent auf dem prestigeträchtigen Posten in Rom, haben zweierlei gemeinsam: Weil sie nur einen Teil des Geschehens abbilden, verzerren sie die Wirklichkeit, um darauf ihre Kommentare aufbauen zu können. Die Konsequenz ist mehr als ein Missverständnis, die gezielte Suche nach dem Konflikt.

Wiewohl beide Artikel 4U9525 und Andreas L. als äußeren Anlass nehmen, was zynisch genug wäre, ist es ein Spiel über Bande, das sich die tatsächlichen oder vermeintlichen fehlenden Sprachkenntnisse dies- und jenseits der Alpen zunutze macht.

Denn Sallusti nimmt in seinem Editorial „Schettinen“ unverhohlen Revanche an der „maßgeblichen deutschen Wochenzeitschrift SPIEGEL“ und dem darin veröffentlichten Artikel, der aus Anlass der Kenterung der Costa Concordia „die Italiener als ‘inferiore Rasse‘ angegriffen und beleidigt hat“. Dabei erwähnt er weder Jan Fleischhauer, noch die Eigenart dessen Kolumne „Schwarzer Kanal“, sondern übersetzt mehr schlecht als recht aus dem Beitrag „Italienische Fahrerflucht“ nur die ersten Zeilen. Die Schlussätze dagegen, obwohl sie der Schlüssel sind, lässt er außen vor: „Es dauert nur eben mitunter sehr lange, bis sich einige Klischees abnutzen. Manchmal braucht es dazu einige Generationen.

Spiegelbildlich unterlässt Bremer in „Häme für die Opfer“ jeden Hinweis darauf, wo dieses Narrativ bei Il Giornale seinen Anfang nimmt. Seine Maßgeblichkeit ist, dass das Blatt eine „rechtspopulistische Zeitung des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi“ ist. Im deutschen öffentlichen Duktus, das schon länger das Sekundäre entdeckt, aber nicht unbedingt als Tugend ans Revers geheftet hat, bedeutet das: des viermaligen Ministerpräsidenten und damit prägend für die italienische Mehrheitsgesellschaft. Was also will uns der Autor mitteilen?

Dass es, so die Wortwahl von Bremer: „Antideutsche“ gibt, steht nicht in Zweifel. Verstünde man es als kritische Distanz zu den eigenen Leuten und deren ausgemachten Eigenarten, würde uns sogar der eine oder andere Sektenbeauftragte hierzulande erspart bleiben. Geschrieben allerdings als tatsächliche oder vermeintliche Aggression von außen, aus der Fremde, dient es einem fragwürdigen Wir-Gefühl: Die Verhaftung im Nationalen, das sich vom Vorurteil geradezu ernährt. Gleiches gilt für Sallusti, der nicht veröffentlicht, wie sehr die eigenen Landsleute den italienischen Staat mit einem „Schiff auf Abdrift“ vergleichen“, ohne dass deswegen auch nur der Hauch des Rassismus sie berührte.

Beide Schreiber sind sich ihrer Bedeutung bewusst, denn sie haben die für ihre jeweiligen Leser kongeniale Form gewählt, um ihren Worten eine Aura zu verleihen: In Italien ist es die des Editorials, in Deutschland sind es die Seiten des Feuilletons. Beide gehen davon aus, dass nur wenige in der Lage sind, die Sprach- und Kulturräume so zu durchdringen, dass sie über die vordergründige Differenz die eigentliche Peinlichkeit der Gemeinsamkeiten erkennen, die sich von den gemeinsamen Bedürfnissen der Völker deutlich unterscheiden. Und demgemäß noch weniger die sind, die derlei zu Protokoll geben: Denn was wäre an diesem Epistelwechsel über Bande relevant, dass man darauf Kenntnis, Zeit und Arbeitsgerät verwendete, zumal bei diesem Anlass?!

Konflikte, werden sie international ausgetragen, gehen aber immer über Leichen. Der Tod ist der letzte große Gleichmacher, trotz des kalten und luziden Zynismus‘, der Grenzen errichtet, um sie dann wieder einzureißen. Es gibt immer genug Zeilenknechte, die das auch im Geschmack akzeptabel finden und „ihre“ Leute darauf einstimmen. MS

***

[nachfolgend die Übersetzung des italienischen Stückes:

„Kollision der Kulturen“

Wie trostlos ist es Sallusti zu lesen, der sich in einem Editorial für Il Giornale der Katastrophe von Flug 4U9525 annimmt. In „Schettinen“ vergleicht die Edelfeder den Offizier von GermanWings mit dem Kapitän der CostaConcordia, der kürzlich in erster Instanz wegen vielfacher fahrlässiger Tötung zu einer langjährigen Hafstrafe verurteilt worden ist.

Nicht nur sei die Schuld von Andreas L. weitaus geringer einzuschätzen als die von Schettino, weil er als „kalter und luzider Mörder“ gehandelt habe. Vielmehr wird darin einer nationalen Ehrenrettung gegenüber Deutschland das Wort geredet. „Der Spiegel, maßgebliches deutsches Wochenmagazin“, erklärt uns Sallusti, habe bei Gelegenheit des Unfalls der Costa Concordia in einem Artikel „die Italiener als ‘inferiore Rasse‘ angegriffen und beleidigt.“ Und beginnt, daraus zu zitieren …

Eigentlich müsste es heißen: zu übersetzen, denn der betreffende Artikel von Jan Fleischhauer vom 23. Januar 2012 mit dem Titel „Italienische Fahrerflucht“, ist nie in der betreffenden Sprache erschienen. Da beginnt die eigentliche Story, der Plot, der Twist, der weder Italiener noch Deutsche betrifft, sondern die Verantwortung desjenigen, der im Bewusstsein der späteren Veröffentlichung schreibt.

Ein Anfang wäre also, der impliziten Pflicht zu genügen, was es mit dem Artikel auf sich hat, aus dem zitiert wird. Die Kolumne von Fleischhauer ist mit „Schwarzer Kanal“ bezeichnet und damit eine klare und unmissverständlich satirische Anlehnung an die gleichnamige Sendung im Fernsehen der ehemaligen DDR. Berüchtigt in Ton und Themen, war sie die Blume des Agitprop am Revers des Ost-Berliner Politbüros. Fleischhauers Fassung ist die des schwarzen Humors, der der Brutalität des damaligen Sprechers Karl-Eduard von Schnitzler die Subtilität entgegensetzt, genau das zu thematisieren: die Tabus der Deutschen und des Deutschtums. Wer den Vergleich nicht scheut: Ein Franco „Bonvi“ Bonvicini des Wortes, der zu den „Sturmtruppen“ gleich den „stolzen Verbündeten Galeazzo Musolesi“ mit erfunden hatte.

Aus der Kenntnis folgt die Erkenntnis, warum Sallusti sich darauf beschränkt hat, die ersten Sätze des Artikels von Fleichhauer mehr schlecht als recht zu übersetzen oder übersetzen zu lassen, während er die abschließenden weggelassen hat, die den Kontext hervorheben: „Es dauert nur eben mitunter sehr lange, bis sich einige Klischees abnutzen. Manchmal braucht es dazu einige Generationen.

Die Wandlung vom Stereotyp zum Vorurteil

Die Stereotypen, die Fleischhauer als guter Journalist und Autor von den Lippen einiger seiner Landsleute abgelesen hat, um sie an die Sender zurück zu geben und die sich, auch hier mehr schlecht als recht, als kulturelle Differenzen summieren, sind eben das – wehe, sie werden in einem politischen Kontext über- oder unterbewertet. Das Gegenteil funktioniert ebenso: Wer den Stimmen in Italien gegenüber „den Deutschen“ genau zuhört, wird gleiches oder noch mehr finden, um Streit vom Zaun zu brechen, sofern man das will.

In Kenntnis von Sallustis Unterlassung verstehen wir, dass die seine nicht lediglich eine Antwort auf einen Artikel ist, sondern die Bestätigung eines modus operandi, der ihm bereits eine Haftstrafe wegen Verleumdung mit Mitteln der Presse eingebracht hat. Auch gegenüber dem davon betroffenen Turiner Richter Cocilovo wurde mit einer Auswahl von Fakten unter Ausblendung eines wesentlichen Teils einer präzisen Logik gefolgt: Die Wirklichkeit so zu verzerren, dass sich darauf Schmähungen erst aufbauen lassen.

Dabei ist weniger einschneidend, dass der damalige Botschafter Italiens in Berlin, Michele Valensise, in einem vom SPIEGEL pflichtgemäß veröffentlichten Brief den Artikel kritisiert hatte, über den er „verwundert und verärgert“ war. Denn hier wäre nicht etwa das Recht auf Missverständnisse eröffnet, das ohnehin der vor allem politische Interpretationsschlüssel für das das italienische Bild in der Welt wäre, folgte man dem hinlänglich bekannten Dominus und dessen Vorsätze. Entscheidend ist vielmehr die Feststellung des Diplomaten, der leider nur drei Jahre in Deutschland weilte, dass Italien „ein Land ist … das Vorurteile mit einem Lächeln zu nehmen und nicht seltsame Tribunale zu improvisieren sucht“.

Was irritiert, sind nicht so sehr die wahnhaften Elemente in der sallustianischen Anklageschrift mit denen er gleichzeitig versucht, vergessen zu machen, dass sehr viele bestürzte Italiener den eigenen Staat als ein abdriftendes Schiff erachten. Was mit Trauer erfüllt, ist nicht die Verwertung von Opfern zu einem ebenso furchtbaren Zweck von Seiten derer, die, um der eigenen kleinen Biographie und den damit verbundenen Episödchen, meinen „Deutsche“ und „Italiener“ gegeneinander aufbringen zu können, deren einzige Schuld es ist, Passagiere von etwas zu sein, das eine Flagge trägt. Diesen Schmerz heben wir für die Verwandten, die Kollegen und die Eltern von Andreas L. auf, die unmittelbar von einer unfassbaren Handlung betroffen sind.

Trostlos ist, dass inmitten der Kulturen Europas im Jahr 2015 nicht die Begegnung zelebriert wird, die auch in gemeinsamer Trauer stattfindet, sondern verstanden und propagiert wird als Zwang in einer vorgestellten Unvermeidbarkeit von Konfrontation. Wer wie Italiener im Ausland oder umgekehrt Deutsche in Italien das Privileg genießen, zur Arbeit auch die Menschen kennen zu lernen, lernt: Wir sind vereint im Wunsch, Kinder zu haben, eine Wohnung und vielleicht auch einen Baum zu pflanzen. So sehr die Wege zur Erfüllung dieser Wünsche wegen der Sprachen, Kulturen und persönlichen Wesen sich unterscheiden mögen – sie sind da, trotz all jener die auf dieser oder der anderen Seite der Alpen vom Krieg und daher einer ganz anderen Sache schreiben.

Konfrontiert mit einem Text, der zu verstehen gibt, dass und in welchem Maß dessen Zeilenverfasser an einem eigenen Konflikt leidet, persönlich sich steigernd im „kalten und luziden“ Zynismus, stellen wir uns die Frage: Ab wann werden ihm nicht mehr mildernde Umstände zugebilligt, sondern zu dessen eigenen Schutz die Unfähigkeit, zu wissen und zu tun?“]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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