Afropolitanes Berlin

Andernorts. Migration ist eine komplexe Lebenserfahrung, die zahlreiche Ebenen der Identität herausfordert und verändert. Unsere Gesellschaft sollte sich mitverändern!

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Chinweizu Bena nimmt ihren Reis vom Herd, den sie mit weißen Bohnen gekocht hat. Diese Speise würzt sie mit Garri (Gries aus Maniok). Sie sagt, sie sei froh, dass sie diese Zutat in Berlin in einem der Afro-Shops gefunden habe: „So fühlt man sich ein bisschen wie zu Hause.“ Chinweizu ist eine Promotionsstudentin aus Togo, die an der Humboldt-Universität zu deutschen und afrikanischen Autorinnen forscht und schreibt. Obwohl sie als Doktorandin einen besonderen Status mit einer Anbindung an die Universität hat, ist das Leben auf einem anderen Kontinent nicht immer leicht. In Togo hat Chinweizu als Lehrerin an einem Gymnasium gearbeitet und mit ihrem Ehemann gemeinsam in einer Wohnung gewohnt. Nun promoviert auch ihr Ehemann – in Bayreuth. Die Entscheidung der Beiden nach Deutschland zu gehen, bedeutete nicht nur eine geographische Grenzüberschreitung, eine andere sprachliche Umgebung und die zeitweilige Trennung von Partner, Freunden und Familie, sondern auch einen völlig anderen sozialen und finanziellen Status. „Ich war plötzlich wieder eine Studentin und hatte das Gefühl, ich würde von Null beginnen.“ Für Chinweizu stellt sich das Leben in Berlin als eine ambivalente Situation dar, ein Schwanken zwischen Zufriedenheit, Zuversicht und zeitweiligen Zweifeln. Besonders als sie krank war, hat sie wochenlang keine Menschen gesehen – in solchen Momenten empfand sie ihre Situation als eine besondere Herausforderung.

Auch Irène Kissasse von dem Verein Pro Afrika empfindet die Situationen von afrikanischen Migranten in Deutschland manchmal als Herausforderung, jedoch im positiven Sinne. Ihr Verein ist Afrikanern jeglicher Herkunft aufgeschlossen, das heißt Migranten aus frankophonen, lusophonen und anglophonen Ländern können bei Pro Afrika Unterstützung und Möglichkeiten zum Austausch finden. Der Verein veranstaltet monatlich Kulturprojekte, z.B. Vortrags- und Filmabende, Konzerte, Diskussionen und Ausstellungen. Pro Afrika ist nicht nur für Afrikaner, sondern für jeden Interessierten offen. Neben dem kulturellen Programm beraten und begleiten die ehrenamtlichen Mitarbeiter Migranten in den verschiedensten Lebenslagen: Aufenthaltsproblematiken, Ämtergänge, Schulanmeldungen, Arztbesuche, Wohnungssuche, Familienzusammenführungen – dies sind nur einige der Bereiche, bei denen Hilfe nötig sein kann. Oftmals sehen sich Migranten den Projektionen, Stereotypen und kulturell tradierten Vorstellungen der hiesigen Gesellschaft ausgesetzt. Nicht nur die Migranten überschreiten Grenzen, oft ist es auch die Gesellschaft, welche Grenzen überschreitet. Frau Kissasse möchte mit ihrem Verein Menschen helfen, ihre eigenen Rechte und Möglichkeiten kennenzulernen. Nicht immer können die Mitarbeiter des Vereins jedoch alles erreichen, was sie sich vorgenommen haben. So sei es jedes Mal sehr erschütternd, wenn eine Person abgeschoben wird und dadurch Familien auseinandergerissen werden. „Wenn man alles versucht hat, und es dann trotzdem zur Abschiebung kommt, ist man manchmal schon verzweifelt.“ Auch die Begegnungen mit den Angestellten der Ämter seien zeitweise unerfreulich, insbesondere wenn die Sachbearbeiter der Ausländerbehörde keinerlei Fremdsprachen beherrschten: „Am liebsten würde ich dann den ganzen Laden umstrukturieren!“, scherzt Irène. Sie selbst ist in der Demokratischen Republik Kongo, Belgien und Deutschland aufgewachsen. Ihr Deutsch ist perfekt, worauf manche Menschen überrascht reagieren, nachdem sie versucht haben „zu dolmetschen“. Besonders unangenehm findet es Irène, wenn ihr Heimweh unterstellt wird und sie wiederholt gefragt wird, wann sie denn wieder nach Hause fahre. Manchmal ist sie enttäuscht über die Distanzlosigkeit von Menschen, welche lauthals die „schöne braune Schokohaut“ bestaunen und sogar ungefragt berühren! Wenn Irènes Nichte, welche in Deutschland geboren wurde, in der Schule über das „Leben in Afrika“ berichten soll, wird deutlich, dass das Bewusstsein unserer Gesellschaft den globalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hinterherhinkt. Migration (von: migrare = wandern) ist eine komplexe Erfahrung, die oftmals nicht zu einem endgültigen Abschluss kommt, sondern einen offenen, wandelbaren Zustand darstellt. Lebenspläne und feste Ansichten werden in Frage gestellt, viele Ebenen der Identität müssen neu ausgehandelt werden, dies ist immer eine Herausforderung und hoffentlich eine Chance.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jovan

Ein schönes Jahr 2013 an alle!

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