Neue Bilder des Jahrhundertschriftstellers: Es gibt so viele Kafkas wie Kafka-Leser
Literatur In diesem Jahr jährt sich Franz Kafkas Todestag zum 100. Mal. Vier Graphic Novels interpretieren Werk und Autor neu, zum Beispiel: So traurig und isoliert, wie die Nachwelt ihn gern sah, war er nie
Bilder aus „Kafka“ von David Zane Mairowitz und Robert Crumb
Illustration: Reprodukt 2024
Franz Kafkas Werk hat ganze Bibliotheken von Sekundärliteratur und einen eigenen Forschungszweig inspiriert – kein Wunder, dass der Mann und sein Werk zahlreiche Künstler zur Auseinandersetzung anregen. Gleich vier Graphic Novels und Comics erscheinen im Kafka-Jahr, in dem sich Kafkas Todestag zum 100. Mal jährt. Und die sind so vielfältig wie die Kafka-Lektüren, zeigen den Mann menschlich, allzu menschlich, als leidende Kreatur und – wie überraschend – als humorvollen Zeitgenossen.
Nicolas Mahler widmet sich dem Autor in Komplett Kafka mit wunderbar trockenem Humor. Erzählt wird, was wir gut kennen: Die unergründlichen Liebesgeschichten Kafkas, das Verhältnis zum Vater, zum Freund Max Brod, Kafkas Leiden am eigenen Körper.
igenen Körper. Betont wird allerdings nicht das Leiden, sondern das Hintergründig-Witzige an Kafkas Selbstbild. Komplett Kafka steht hier für: komplett seltsam, komplett unverständlich, komplett komisch.Mahler wurde bereits vielfach für sein Comic-Werk ausgezeichnet und lebt in Wien, ausgerechnet Wien, der Stadt, die Kafka so unerträglich fand! Mahler begegnet dem Autor zeichnerisch auf Augenhöhe: Jeder, der Kafka kennt, wird dessen Strichzeichnungen bereits gesehen haben. Mahler nimmt sie auf, zitiert sie, verzerrt sie, konfrontiert sie obendrein mit Farbe: Das schwarze, dürre Kafka-Strichmännchen muss sich gegen Violett und Grün behaupten. In der Nahsicht ist Kafka reduziert auf Ohren und Nase, Mahler führt auf diese Art vor, wie wenig es braucht, um einen wie Kafka zu charakterisieren. Die arme Felice Bauer trifft es noch schlechter: Sie ist vor allem eine große Kauleiste. Kafkas Vater erscheint erwartungsgemäß riesenhaft wie der Golem, die berühmte Prager Sagenfigur; als Kafka ihm seinen Brief an den Vater zustellen möchte, entgegnet dieser in Mahlers Comic nur: „Legs auf den Nachttisch!“, wobei die Bildunterschrift bemerkt: „Hermann Kafka ist kein Leser.“ Tatsächlich hat Kafkas Mutter dem Vater den Brief wohl nie zugestellt, aber darum geht es hier nicht: Mahlers Comic lebt von Szenenhumor, der durch den trockenen Witz in den Bildunterschriften ergänzt wird.Dass Kafka seine Werke selbst – im Gegensatz zu seinen Kritikern – für äußerst komisch befand und dass er nicht der Trauerkloß war, zu dem ihn die Nachwelt gerne machen wollte, das wird hier besonders deutlich. Mahler erzählt nichts Neues über Kafka, aber auf eine neue Art. Erfreulich unterhaltsam!David Zane Mairowitz und Robert Crumb verfolgen in ihrem neu aufgelegten Graphic-Novel-Klassiker Kafka eine andere Strategie. Sie zeigen Kafka als einen Mann von prekärer Identität: einen deutschsprachigen Juden, der weder deutsch ist noch Jude sein will. Wenn überhaupt, dann interessiert Kafka das chassidische Judentum mit seiner Schrifttradition und Mystik. Das jüdische Leben spielt sich im Prager Ghetto ab – nicht zu verwechseln mit den Ghettos, die die Nazis später errichten, aber doch abgeschieden von der deutschen und tschechischen Bevölkerung. Bei Crumb und Mairowitz wird Kafka zu einem Akteur zwischen mal sichtbaren, mal unsichtbaren Grenzen: „Fortschrittliche“ Juden blicken verächtlich auf ihre polnischen und russischen Brüder, die das vermeintlich rückständige Ost-Judentum verkörpern; Deutsche blicken misstrauisch auf Tschechen und umgekehrt. Noch zu Kafkas Lebzeit wird sich die Amtssprache in Prag von Deutsch zu Tschechisch ändern und Böhmen, einst Teil der österreichischen K.-u.-k.-Monarchie, sich in die eigenständige Tschechoslowakei verwandeln.Ein Fall für die PsychoanalyseVerwandlungen allenthalben! Sichtlich Spaß hat der Grafiker Crumb bei der Darstellung der berühmtesten Erzählung Kafkas, Der Verwandlung. Crumb zeigt das Krabbeltierchen als undefinierbaren Schmutzfleck. Kafka selbst hatte sich strengstens dagegen verwahrt, den Käfer auf dem Buchumschlag darzustellen – das Tier sollte Leerstelle bleiben, das Unheimliche par excellence.Crumb, für sein Frauenbild kritisiert, gestand einmal ein, er habe Angst vor Frauen, was ihn vielleicht zum perfekten Illustrator von Kafkas Leben macht. Dessen Verhältnis zu den Frauen nimmt viel Raum ein in der Graphic Novel. Die Frauen sind grobe, in ihrer Körperlichkeit aggressiv anmutende Kreaturen, die mal Kafka, mal seine Helden anfallen, überfallen, überschwemmen. Über solch ein Frauenbild ließe sich psychoanalytisch viel sagen, entscheidend ist aber, dass Crumb sich Kafkas Empfinden derart recht akkurat annähert. Das Sexuelle ist Kafka ein Graus, er spricht von Schmutz, was allerdings nicht heißt, dass er dem Sex entsagt. Er empfindet offensichtlich nur großen Ekel vor sich oder den Frauen oder dem übergroßen Über-Ich.Crumbs Zeichenstil ist hektisch-expressiv, die Figuren werden in wilder Kreuzschraffur gezeigt, sind zeichnerisch Gejagte, was besonders deutlich wird, wenn Crumb Kafkas Erzählung Das Urteil illustriert. Kafkas Held, der aussieht wie Kafka selbst, erscheint wie die Figur aus Edvard Munchs Der Schrei; der Raum verformt sich unter dem Vater, der das Urteil brüllt und wie eine Mischung aus Gott und einem Wahnsinnigen erscheint.Bilder und Texte gehen hier einen spannungsreichen Kontrast ein, denn Mairowitz’ Texte sind betont analytisch und nüchtern gehalten. Auch wenn Mairowitz auf Kafkas Humor verweist, wird auf Bildebene vor allem eine albtraumhafte Welt dargestellt. Das betrifft sowohl die reale Welt, in der sich Kafka bewegt, als auch die imaginierte Welt in seinen Werken. Besonders deutlich wird es, wenn Crumb die Erzählung In der Strafkolonie illustriert und offensichtlich mit viel Leidenschaft den Horror der blutigen Szenerie darstellt.Placeholder image-2Thomas Dahms und Alexander Pavlenko zeigen in Verwandelt einen ganz anderen Kafka, nämlich ein Kind seiner Zeit. Biografische Details dominieren; statt Kafka mit seinen häufig isoliert und verzweifelt anmutenden Charakteren zu verwechseln, wird der Autor als in ein dichtes soziales Umfeld verwobener Mensch dargestellt. Obwohl die Graphic Novel eine Rahmenerzählung andeutet – Dora Diamant trifft eine Freundin, die sie bittet, von Kafka zu erzählen –, wird die Graphic Novel nicht aus Doras Perspektive erzählt. Trotzdem wird „Doras Kafka“ erzählt. Dora Diamant war es, die sich gegen das übliche Kafka-Bild verwahrte, indem sie ihn als lebensfrohen und humorvollen Mann darstellte. So wird Kafka in Verwandelt erlebbar als einer, der in einen großen Freundeskreis aus Schriftstellern und Intellektuellen eingebunden ist und mit ihnen – allen voran natürlich mit dem Freund Max Brod – auf Reisen geht und revolutionären Gedanken und Thesen nachgeht. Er hört Vorträge von Albert Einstein und Rudolf Steiner. Das Leiden an sich (und den Frauen) wird relativiert. Kafka ist hier nicht in erster Linie ein zutiefst neurotischer Mann, sondern ein Sohn der Zeit auf der Schwelle zwischen Tradition (verkörpert durch die patriarchale Ordnung in seiner Familie und das traditionelle Judentum) und Moderne. Kafka, der gerne Melone trug, erinnert in einem Bild an Charlie Chaplins Tramp in Moderne Zeiten. Alexander Pavlenko zeigt all das in Bildern, die an Holzschnitte erinnern und meist mit zwei Farben – neben Schwarz und Weiß – auskommen und die trotz der farblichen Reduktion enorm dynamisch und lebendig anmuten.Placeholder image-3Was „kafkaesk“ meintAber es geht auch ganz anders. Dezidiert nichtbiografisch widmet sich Danijel Žeželjs Wie ein Hund dem Werk Kafkas. Žeželj collagiert Textfragmente des Autors; den Rahmen der Graphic Novel bildet Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler, in die allerdings Versatzstücke anderer Texte wie Eine kaiserliche Botschaft oder Die Wahrheit über Sancho Pansa montiert werden. Das ist doppelt spannend, weil es sich einerseits um weniger bekannte Texte Kafkas handelt und andererseits aus der Text- und Bildcollage etwas völlig Unerwartetes entsteht. Žeželjs Tuschezeichnungen in Schwarz muten an wie eine Mischung aus klassisch-japanischer Comic-Kunst und zeitgenössischer Street-Art. In dynamischen Bild-Panels wird nach Belieben in Szenen hineingezoomt. Schnelle Bewegungen in raschen Bildfolgen und statische Totalen wechseln sich ab. Das Hinein- und Herauszoomen erinnert an klassische Kinematografie; tatsächlich sehen wir gleich in einem der ersten Panels ein galoppierendes Pferd, sozusagen eine der Urszenen des bewegten Bildes. Bisweilen zoomt Žeželj so nah an das Geschehen, dass man den Eindruck gewinnt, man betrachte einen Rorschachtest. Und was könnte dem rätselhaften Kafka besser gerecht werden?Placeholder image-1Žeželjs Hungerkünstler bewegt sich offensichtlich nicht im Prag der Jahrhundertwende, vielmehr in der Welt der US-amerikanischen Jahrmärkte der 1930er Jahre. Dann wieder fahren Cadillacs durch Stadtlandschaften, die irgendwo zwischen Manhattan und Tokio angesiedelt zu sein scheinen. Žeželjs Graphic Novel zeigt im besten Sinne, was „kafkaesk“ meint: das Rätselhafte und Unergründliche. Je länger man die Bilder betrachtet, desto weniger greifbar wird das, was man eine bündige Interpretation nennen könnte. So muss man diese Graphic Novel lesen wie einen Traum, bei dem eine Szene assoziativ in die nächste übergeht. Grandios!Vier Graphic Novels, vier Kafkas: So zeigt sich erneut, dass es so viele Kafkas wie Leser gibt. Insofern gilt es nicht, dem wahren Kafka auf die Spur zu kommen, sondern seinen immer neuen Interpretationen und Verwandlungen.Placeholder infobox-1
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