Sandra Rummlers „Seid befreit“: Abschiedsbrief an ein Zuhause
Graphic Novel In „Seid befreit“ verarbeitet Sandra Rummler ihre Jugend in einem Ostberlin, das es nicht mehr gibt – ohne dass dies zur Abrechnung oder zu verklärender Nostalgie gerät
Mo ist ein untypisches, queeres Mädchen. Wie die Autorin wächst sie direkt an der Mauer auf, im Florakiez in Berlin-Pankow
Abbildungen aus dem besprochenen Band
Mo wächst direkt an der Mauer auf. Was ist auf der anderen Seite? Das unbetretbare Dahinter wird für das Kind zum Ort der Fantasie. Die Familie von Mo wohnt im Sperrgebiet, zwei Zimmer, Außenklo. Die Eltern haben Staatsjobs bei der Armee und im Kulturministerium. Nachts hören Mo und die kleine Schwester die Grenzpolizisten über den Dachboden laufen. Wer das Haus betreten will, braucht eine Genehmigung. Wenn es regnet, tropft es durch die Decke in Schüsseln und Töpfe.
Mit Seid befreit hat Sandra Rummler einem Land ein Denkmal gesetzt, das es nicht mehr gibt. Wie ihre Hauptfigur Mo ist sie 1976 in Ostberlin geboren, aufgewachsen direkt an der Mauer, im Florakiez in Berlin-Pankow. Die erste Graphic Novel der Grafikdesignerin und Pädagogin ist eine Aufarb
gin ist eine Aufarbeitung dieses Verlusts, ohne eine Verklärung zu sein. Denn die DDR ist bei Rummler ein dunkler Ort im Wortsinn. Auf den 264 Seiten dominieren die Farben Grau, Braun und Schwarz, die Hausfassaden sind schwer und bröckelig, es scheint selten ein Licht oder gar die Sonne. Mo ist ein stilles, folgsames Kind, das bei den Jungpionieren ist und Leistungssport betreibt. Aber schon in der zweiten Klasse probiert Mo ein kleines Stückchen Freiheit aus und verbringt einen ganzen Schultag unerlaubt im Park, in leerstehenden Häusern, mit ziellosem Umherstreifen – und genießt es. Die Eltern sind außer sich, aber Mo schläft mit dem ekstatischen Gedanken ein: „Es war der erste Tag in meinem Leben, der nur mir gehörte.“Lange wissen die Leser*innen nicht, ob Mo männlich oder weiblich ist, denn Mos Look – strubbeliger blonder Vokuhila, Unisex-Klamotten, melancholischer Blick – gibt darüber keinen Aufschluss. Mo selbst scheint völlig davon überrascht, dass auf einmal Blut in der Unterhose klebt und sie damit quasi zum Mädchen gemacht wird. Sie passt ebenso wenig in eine strenge Geschlechtermatrix wie in das Regelkorsett der DDR, in der mit Hemd und Halstuch zur Parole „Seid bereit!“ im Schulhof zum Appell angetreten wird. Doch die titelgebende Befreiung – in das Wort „bereit“ drängt sich auf dem Cover ein schiefes „f“ –, die mit dem Mauerfall als Verheißung fast zeitgleich mit der verstörenden Menstruation in Mos Leben auftaucht, ist zunächst in erster Linie eine Überforderung.Als Mo das erste Mal über die Einkaufsstraßen Westberlins flaniert, ist sie so überreizt von all den Lichtern, Werbungen und Waren, dass sie erleichtert ist, wieder nach Hause in ihr dunkles Ostberlin zu kommen. Die Zeit der äußeren Umbrüche fällt mit der im Inneren zusammen: Mos Eltern spielen kaum mehr eine Rolle, sie erlöschen regelrecht. Beide haben ihre Arbeit für den Staat verloren, die Mutter arbeitet nun an einer Supermarktkasse, der Vater ist arbeitslos, sie wirken leer und ausgelaugt. Als Teenager fängt Mo an, sich für Subkultur zu interessieren, für Graffiti, für besetzte Häuser und Raves, die dort stattfinden, sie lernt U-Bahn-Surfer*innen kennen und kommt nur noch zum Schlafen nach Hause. Die Autorität, die ihre Eltern und das System DDR über sie hatten, hat sich aufgelöst und wird nun ersetzt von einem Chaos unbekannter Eindrücke und Haltlosigkeiten. Mo ist wie berauscht von den neuen Möglichkeiten, den Orten und Menschen, die sie kennenlernt, und gleichzeitig wird sie gnadenlos auf ihren Platz verwiesen – einen Platz, den es so nicht mehr gibt.Als ihre alte Schule schließen muss, wird den Eltern eine Schule im Westen der Stadt empfohlen, wo Mo für ihren „Ossisprech“ verlacht wird. Sie und ihre Freundin Melli werden als „Udos“, als „unsere doofen Ossis“ beschimpft. Als Mo sich am Bauch verletzt, kommt sie in ein Ost-Krankenhaus, das kurz vor der Abwicklung steht, und stirbt fast. Ein halb blinder Pfleger, der kurz zuvor noch in einem Verlag gearbeitet hat, kümmert sich um sie, und ohne Milz verlässt sie die „halbe Ruine“. Auf den Straßen wird Mo als Zecke von Nazi-Skins gejagt, der Polizist, den sie zu Hilfe rufen will, schaut weg. Als ihr Freund Sinan beim U-Bahn-Surfen verunglückt, erreicht Mo selbst einen Tiefpunkt. Doch dann lernt sie Alex, ihre neue Nachbarin, kennen, und beide verlieben sich …Sandra Rummler, die mit ihren kindlich schönen wie auch punkig formsprengenden Comics, Illustrationen und Graffiti bereits lange den mittlerweile fast schon mythischen Abbruchcharme des alten Ostberlin einfängt, hat in ihrem Buch auf fast alle klassischen Comic-Konventionen verzichtet. Es gibt wenig Erklärungen oder Sprechblasen, die menschlichen Figuren scheinen in die Hintergründe hineinkopiert, auf sie draufgeklebt, als seien sie immer in einer gewissen Distanz zum Geschehen, zu ihrer Umgebung. Orte – Häuser, Hinterhöfe, Straßen, Bäume oder Stadtsilhouetten – sind die eigentlichen Protagonist*innen. Wie ein perfekt ausgearbeitetes Skizzenheft, ein Reisetagebuch, ein Bilderbuch für Erwachsene wirkt das Werk. Mit großer Liebe zum Detail zeichnet Rummler verfallende Innenräume, alte Straßenbahnen oder melancholische Kanalansichten. Die DDR ist dabei mit bräunlicher Patina überzogen, der Westen grellbunt.Die Ostseite: kantig und klarZwei auf einer Doppelseite nebeneinanderliegende, fast identisch konzipierte Seiten erklären mit schlichten Mitteln und wenigen Worten die Komplexität zweier unterschiedlicher Welten: Links ist der bunt funkelnde, vor Waren überquellende Intershop, den Mo zu DDR-Zeiten einmal mit von der Omi geschenkten fünf Westmark betreten darf, rechts der leere, braune Konsum. Im Westen riecht es nach Kaugummi, „bei uns im Konsum roch es immer muffig und die Regale waren nur halb gefüllt“. Die farbenfroh leuchtenden Bilder aus dem Westteil der Stadt sind dabei oft unscharf gezeichnet, als läge eine Folie darüber oder als sei die Betrachterin von einem Taumel, einem Schwindel erfasst, auf der Ostseite ist es meist kantig, dunkel und dennoch klar.Die handelnden Figuren, stets im Dreiviertelprofil, sind cartoonig und statisch angelegt und lassen in ihrer expliziten Flachheit und Abstraktion Rummlers Verwurzelung in der Graffiti-Szene erkennen. Die Varianz in ihrer Mimik ist minimal und daher umso effektiver. Sie erscheinen wie bunte, in eine verwirrende Geschichte geworfene Characters, die sich wie in einem Computerspiel ihren Weg durch diese neue Welt bahnen müssen, deren Regeln und Codes sie noch nicht kennen. Dazwischen streut Rummler immer wieder expressive Elemente: Tiere wie eine blaubunte Taube, ein strahlender Pfau oder eine verschmitzte graue Katze stehen für die Überforderung durch soziale Interaktion ebenso wie individuelle Freiheitssehnsüchte. Eine grasgrüne Kiwi, ein aus allen Nähten platzender Döner oder ein banaler Kaugummiautomat von der Sorte, um die West-Eltern wegen Hygienebedenken von jeher einen großen Bogen machen, zeigen wortlos und dadurch umso beredter die Verheißungen des Westens, die dort so unbedeutend sind. Breakdancer, Hare Krishnas mit Energiebällchen, einsame Hookers auf dem Straßenstrich oder klauende Omas im Supermarkt bevölkern die Szenerie und bereichern damit Mos neue Vorstellungswelten ebenso, wie sie sie aus der Bahn werfen.Seid befreit ist weder ein Abrechnungs- noch ein Ostalgie-Werk geworden, auch wenn die Heraufbeschwörung des „Pioniergeists“ der Hausbesetzer*innen, Raver*innen, Graffiti Artists und vieler anderer, der hier in seiner latent „kreativ-kolonialen“ Geste durchaus aufscheint, auf jeden Fall auch den Nerv derjenigen treffen wird, die sich in Zeiten immer enger werdender Spielräume für Alternativkultur nach dem besonderen Berlin-Moment sehnen, in dem, so Rummler, „jeder machte was er wollte“. Auch wenn andere Comics, die sich dem Thema Mauerfall bis jetzt gewidmet haben, noch expliziter auf die politischen Dimensionen des Umbruchs eingehen, ist Politik in Mos Alltag doch auf jeder Buchseite gegenwärtig. Es ist dabei aber eher eine mikropolitische Annäherung an die Auswirkungen, die Systeme und deren Umbrüche auf Individuen haben, die in Rummlers Fall zudem subtil auf die Dimension des Andersseins verweisen.Denn Mo ist ein untypisches, queeres Mädchen, das sich abseits eines binär gedachten Mainstreams aus Regelkonformität versus Konsumlust in widerständige Alternativwelten hineinträumt, die etwas Besseres als real gelebten Sozialismus oder Kapitalismus wollen. Und nicht zuletzt ist der Comic auch der endlich verfasste Abschiedsbrief an ein Zuhause, das einfach von der Landkarte verschwunden ist. Beinahe am Schluss denkt Mo: „Manchmal würde ich gern meine Heimat besuchen. Mir in der Bäckerei ein Makronentörtchen holen, Softeis am Bahnhof essen (…), in einer Disco zu den alten Liedern tanzen (…). Nur für einen Tag und eine Nacht.“Placeholder infobox-1
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