Magisches Angstlust-Szenario

Theater "Abgezockt" lautet der Titel einer neuen Produktion des Staatsschauspiels Dresden. Die Betrüger und Betrogenen der Stadt können mitmachen

Mit 13 stahl ich bei jedem Einkauf im örtlichen Großsupermarkt einen Lippenstift. Es waren billige Lippenstifte; ich hätte sie kaufen können. Es ging mir wohl um den Nervenkitzel und die Gewissheit, dass ich schlau genug war, die Überwachungskameras hintergehen zu können. Später dann umging ich erfolgreich die Schulpflicht. Mit dieser Liste jugendlicher Verfehlungen passte ich vermutlich vorzüglich in Christoph Fricks Stück Abgezockt mit Dresdner Bürger*innen, die betrogen wurden und betrogen haben. Ich persönlich mag etwas mehr auf dem Kerbholz haben als andere, aber wir alle betrügen und belügen doch. Oder nicht?

Regisseur Christoph Frick jedenfalls beginnt den Informationsabend, an dem er die Idee des Stücks interessierten Dresdner Bürgern vorstellt, mit einer Aufzählung persönlicher Verfehlungen. Sofort merkt man: Sich moralisch vor Zeugen die Blöße zu geben, ist nicht nur unterhaltsam, sondern verwandelt die Zuhörer zu einer Gemeinschaft aus Mitverschwörern. Zugleich ist der Mitwisser jemand, der sein Wissen im Stillen für sich bewahren sollte. Hier aber wird die Verschwörung zum öffentlichen Akt. Der theatrale Betrüger braucht eben sein Publikum.

Unterhaltsam für die Zeugen

Wir alle fiebern, klammheimlich vielleicht, mit den Betrügern auf Theaterbühnen, in Büchern und Filmen mit. Vielleicht handelt es sich hier um ein magisches Angstlust-Szenario, in dem die Angst vor dem Erwischt-Werden und die Lust, davon gekommen zu sein, Hand in Hand gehen. Aber da ist nicht nur die Furcht davor, dass der Betrug auffliegen könnte. Viel schlimmer noch die Vorstellung, man könne aus Dummheit oder Geldgier auf einen Betrüger hereinfallen.

Je klüger und schelmischer der Betrüger, umso schmerzhafter der Betrug für den Betrogenen – umso unterhaltsamer aber für die Zeugen. Nehmen wir nur den Narren Till Eulenspiegel, dessen wunderbar deftige Betrügereien heute mehr erfreuen denn je, denn um religiöse oder moralische Korrektheit bemühen sie sich nie. Im Gegenteil, je unantastbarer die moralische Instanz, umso heftiger wird sie aufs Korn genommen. Man denke daran, wie Eulenspiegel einen Pfarrer dazu bewegte, mitten in seine Kirche, Pardon, zu scheißen.

Betrüger und Abzocker aber kennt auch die Neuzeit. Bernie Madoff beispielsweise. Der legte nicht nur die blinde Gier reicher New Yorker und internationaler Spekulanten offen. Das vielleicht Furchteinflößendste am System Madoff ist, dass es womöglich die Realität des Banken- und Finanzwesens widerspiegelt.

Gier und die ewig lockenden Versprechen der Werbung und der Phishing-Mails werden auch in der Kulisse des Dresdner Stücks erscheinen. Das Publikum blickt von hinten in eine Losbude, verziert mit den Superlativen der Werbewunderwelt: „Ultimativ! Gold! Neu! Wow!“ Nur fällt der Budenzauber schnell in sich zusammen, wenn man einmal näher herantritt.

Verschachert in den Wende-Jahren

Dass nicht alles Gold ist, was glänzt, lernten auch die Dresdner in den Wendejahren, und so sollen auch diese Geschichten der Betrogenen oder derjenigen, die sich betrogen fühlen, im Stück zur Sprache kommen. Kaum eine TV-Doku über die Wendejahre kommt ohne bittere Stimmen aus, die den „Ausverkauf“ der ehemaligen DDR beklagen. Dass deindustrialisiert und hier und da verschachert wurde, was zu haben war, wissen wir inzwischen. Die damit verbundenen, persönlichen Schicksale wollen noch immer aufgearbeitet werden. Und so könnte das Stück eine therapeutische Wirkung entfalten für eine Stadtgesellschaft, in der eine lautstarke Minderheit vormals Unaussprechliches ausruft und die Mehrheit missmutig schweigt.

Eines der zentralen Elemente dieser wie anderer Inszenierungen der Dresdner Bürgerbühne, die seit der Spielzeit 2009/10 als feste Sparte am Schauspielhaus etabliert ist, bildet dann auch der Chor. Er wird im Stück die Masse den Einzelschicksalen gegenüberstellen und zugleich Spiegel des Publikums sein. Der Bürger im Publikum muss sich zur Masse auf der Bühne verhalten. Was der Bürger zu den Geschichten der Betrüger und Betrogenen sagen wird, erfahren wir bei der Premiere am 09. Dezember.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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