Was wollen die Bücher?

Rechte Bücher Schlechte Nachrichten für Bibliophile: Bücher wollen weder radikalisieren noch normalisieren. Die Causa Lehmkuhl/ Stokowski zeigt unsere maßlose Überschätzung des Buches

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Realistisches Bild eines klassischen Lesers
Realistisches Bild eines klassischen Lesers

Foto: Oli Scarff/Getty Images

Letzte Woche diskutierte der bibliophile Teil der Republik die Frage, ob Buchhändler Bücher rechter Autoren präsentieren sollten. Die veröffentlichten Positionen von Margarete Stokowski und Michael Lemling, dem Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl, sind nachzulesen. An dieser Stelle sollen nicht die Argumente abgewogen werden, sondern ihre Prämissen hinterfragt werden. Es soll um die maßlose Überschätzung der Bücher gehen. Sie ist goldig, aber auch naiv.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Als Publizisten, Buchhändler oder Leser neigen wir dazu, die Bedeutung der Bücher zu überschätzen. Die traurige Realität aber ist: Die allermeisten Menschen lesen selten Bücher. Manche, gar nicht wenige!, sogar nie. Und wenn sie lesen, dann nicht unbedingt kluge Essaysammlungen. Sie lesen auch nicht, um sich eine Meinung zu bilden. Das mag ein Schock sein für den ein oder anderen Feuilleton-Aficionado. Die Vorstellung, dass ein Bürger in vernünftige Diskurse eintreten will, indem er liest, Wissen erschließt und sogar eigene Haltungen hinterfragt, ist stark idealisiert. Wie Diskurstheorie mit fancy Instagramfiltern.

Debatten wie die Causa Lehmkuhl/Stokowski sind dagegen ein grandioses Beispiel für Filterblasen. Aber nicht in dem Sinne, dass diese Blasen nur eine Meinung repräsentierten. In meiner Social Media-Bubble habe ich inzwischen etliche differenzierte, absolut gegensätzliche Meinungen zum Fall gehört. Aber außerhalb dieser Bubble, in der Welt meines sozialen Umfelds (viele Akademiker, aber kaum Geisteswissenschaftler), findet diese Debatte nicht statt. Warum das so ist, wissen wir aus Pierre Bourdieus Habitustheorie: Das spezifische Verständnis von Büchern als Seelentröster und Diskursantriebsmaschinen ist Teil eines bildungsbürgerlichen Habitus. Man (Sie und ich) muss die Debatten kennen, um mitreden zu können. Wir (Sie und ich) vergessen darüber, dass diese Debatten für Menschen mit anderem Habitus gänzlich unwichtig sind.

Wie kommt das Denken aus dem Buch in den Kopf?

Erinnern wir uns an die Argumente in der Debatte, so ließen sie sich so zusammenfassen: Buchhändler Lemling möchte, dass sich informierte Citoyens eine Meinung bilden können. Die Autorin Stokowski wiederum fürchtet um eine Normalisierung rechten Denkens.

Nun müssen wir uns ganz grundsätzlich fragen: Wie kommt das Denken aus dem Buch in den Kopf? Die Frage ist ernst gemeint und betrifft Grundlagen der Rezeptionsästhetik. Ein und dasselbe Werk, das wissen wir, kann vollständig unterschiedliche Leseerfahrungen erzeugen. Fragen Sie drei habituell möglichst unterschiedliche Menschen, und Sie werden den Eindruck gewinnen, sie hätten drei gänzlich unterschiedliche Bücher gelesen. Auch Literaturwissenschaftler und Kritiker, also professionelle Leser, können unterschiedliche Lesarten eines Textes generieren. Denn das, was zwischen den Buchdeckeln steckt, diffundiert nicht in die Hirnwindungen des Lesenden, sondern dockt dort an bestehende Erfahrungen und Wissen an.

Wie verhält es sich mit Hassbotschaften? Mit radikalen, hasserfüllten Texten wie beispielsweise Hitlers „Mein Kampf“? Vermögen sie den Lesenden zu radikalisieren? Ganz allgemein gilt: Bücher sensibilisieren, sie radikalisieren nicht. Oder glauben Sie etwa ernsthaft, jemand sei über die Lektüre der Schwarzen Hefte Martin Heideggers zum prügelnden Neonazi geworden?

Ideologie wirkt nie in reiner Textform zwischen Buchdeckeln. Propaganda beruht auf der Verknüpfung von Rede und Bild. Die Botschaft muss inkorporiert werden. Nicht umsonst geht es in antiker Rhetoriktradition ums Movere, um die bewegende Rede. Und das ist durchaus konkret physisch gemeint.

Halt, warum verbrannten die Nationalsozialisten dann Bücher? Gewiss nicht, weil die Kästners und Klemperers dieser Welt ihnen durch Gedrucktes gefährlich werden konnten. Bücherverbrennungen waren (und sind!) ein dezidiert antiintellektueller Gestus. Dieser wendet sich nicht gegen die Inhalte der Bücher, sondern gegen die Träger der kritischen Diskurse. Die Verbrennung greifbarer Bücher präfiguriert die körperliche Vernichtung der Intellektuellen (Juden waren DIE Verkörperung der Intellektuellen in den 20er und 30er Jahren).

Aber wie steht es mit Texten, die womöglich ihr wahres Wollen verschleiern und so unbewusst Denken prägen? Beispielsweise durch Framing? (Framing meint, dass durch Sprache bestimmte Denkrahmen gesetzt werden, die uns unbewusst beeinflussen). Framing evoziert Bilder, das geschieht viel eher durch lebendige Rede, als durch gedruckten Text, der stets körperliche und mediale Distanz generiert. Bei der Rezeption eines Textes gelingt es viel leichter, Frames zu hinterfragen, als in einer gut vorgetragenen Rede.

Entsprechend müssen politische Bewegungen mit bildreicher Rede agitieren. Das Argumentieren in Texten dient viel häufiger der Beschwörung und Vertiefung der Gemeinschaft, die körperlich bereits gebildet wurde.

Nehmen wir die Identitäre Bewegung: Die Blogs dienen keinesfalls der Agitation und Propaganda nach außen. Die Identitären wollen der schlagkräftige Arm der neurechten Bewegung sein. Man setzt auf einen Intellektuellenhabitus, der das Bild des dumpfen Rechten verdrängen soll. Immer wieder widmen sie sich dezidiert dem Thema, dass Intellektualismus nach 1945 stets als links gedacht wurde (dezidierter noch widmet sich die "Sezession im Netz" um Autoren wie Martin Lichtmesz und Götz Kubitschek dem Thema). Sie setzen ihm das Bild des rechten Intellektuellen entgegen und stellen eine gedankliche Genealogie zu Denkern wie Carl Schmitt und Martin Heidegger her. Zugleich eignen sie sich auch Antonio Gramscis Ideologietheorie oder die Habermas‘sche Diskurstheorie an, und zwar nicht nur, um sich von ihm Strategien zur Beeinflussung des Diskurses anzueignen. Diese Offenheit für linke Autoren dient dem Beweis des eigenen „offenen“ Denkens, während der linksliberale Meinungsmainstream als vermachtet und unfrei dargestellt wird.

Nun sind Diskurse immer vermachtet, weil nicht jeder über alles reden kann. Und man muss auch keinen Hassbotschaften Raum geben, um sich zu beweisen, wie offen der Diskurs ist. Aber Texte wie „Mit Linken leben“ wird bei keinem Leser die politische Gesinnung ändern.

Tagelange Debatten darüber, welches Buch wo angeboten werden darf (und es geht hier ja nicht um indizierte Bücher!), rauben Debattenplätze für die Frage, wie rechte Strukturen, die Gemeinschaft bilden, in denen Menschen sich radikalisieren, aufgelöst werden könnten. Denn in den Gemeinschaftsstrukturen findet ja die Normalisierung statt.

An dieser Stelle sei an Karl Mannheims Unterscheidung zwischen kommunikativem Wissen und konjunktivem Wissen erinnert: Kommunikatives Wissen ist dasjenige, das in Wort und Schrift zirkuliert und allgemein verfügbar ist. Sie wissen, was ein Tisch ist, weil es ich um einen kommunikativen Wissensbestand handelt. Konjunktives Verstehen dagegen entsteht in Gemeinschaften – Familien, Clubs, Jugendbewegungen etc. Es ist ganz konkret an Nähe, körperliche Erfahrung und gemeinsame Erlebnisräume gekoppelt. Obwohl Sie wissen, was ein Tisch ist, haben Sie kein Bild von dem Esstisch meiner Familie – meine Geschwister schon. Wir teilen konjunktives Wissen. Ich könnte Ihnen diesen Tisch beschreiben, aber er würde trotzdem nicht dieselben emotional eingefärbten Bilder evozieren wie bei meiner Familie.

Genau dieses konjunktive Wissen ist entscheidet für die (neu)rechten Bewegungen (wie für jede andere Bewegung auch). Erinnern Sie sich noch daran, dass Pegida anfangs schweigend marschierte? Weil man einander verstand und implizites, konjunktives Wissen teilte, das gar nicht expliziert werden musste. Die späteren Reden dienten der bereits geformten Gemeinschaft nur der Abgrenzung nach außen. Wer die Erfahrungsräume der Mitlaufenden nicht teilt, wird durch die Reden nicht radikalisiert werden, im Gegenteil: Das Unverständnis wuchs durch jede Rede, die Überfremdung (bei minimalen Ausländeranteil) oder islamische Bedrohung thematisierte.

Die Unterscheidung zwischen konjunktivem und kommunikativem Wissen zeigt, warum uns das Lesen rechter Bücher oder Blogs weder radikalisiert, noch Rechte besser verstehen lässt. Ich habe viel Zeit damit verbracht, identitäre Blogbeiträge zu lesen. Wie es sich aber anfühlte, als Identitäre das Gespräch zwischen Margot Käßmann und Jakob Augstein störten, kann ich nicht wissen. Ich könnte mich dem Gefühl nachdenkend annähern oder psychologisierend deuten, aber nicht verstehen, jedenfalls nicht im Sinne Mannheims. Ich glaube aber, dass dieses Gemeinschaftserleben Kern jeder politischen Bewegung ist.

Die Pointe lautet also: Buchhändler und Autorin haben beide gleichermaßen Unrecht. Weil sie Büchern Wirkungsweisen unterstellen, die sie realiter nicht besitzen. Man wird Rechte nicht besser verstehen, wenn man ihre Bücher und Blogs gelesen hat. Man wird sie jedoch auch nicht weiter normalisieren. Normal ist ihr Denken ohnehin schon, denn seit Jahrzahnten zeigen Erhebungen, dass europaweit antijüdische und generell rechte Ressentiments von circa 20 Prozent der Bevölkerung geteilt werden. Das ist keine Mehrheit, macht dieses Denken aber zu einem normalen Bestandteil unserer Welt. Ob uns das nun gefällt oder nicht.

Wer rechte Gewalt eindämmen will, muss weder rechte Bücher lesen, noch deren Verkauf problematisieren. Er muss die Ausweiterung rechter Gemeinschaftsräume unterbinden. Ganz alltagspraktisch. Es geht um rechte Konzerte, um NPD-Kinderfeste und AfD-Lehrerpranger. Lassen wir Kubitschek und Co. Bücher schreiben. Während sie das machen, können sie nichts Schlimmes anstellen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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