Das Letzte, womit ich in den Herbstferien an der Côte d’Azur gerechnet hätte, war eine Reportage über Armut. Ich lächelte, als 60 Bootsbesitzer in Antibes gegen die Erhöhung der jährlichen Anlegegebühr von 1.500 auf 5.200 Euro im Jahr 2023 demonstrierten. Die Hafenleitung entgegnete trocken, eine einzige Jacht am sogenannten „Milliardärs-Kai“ würde 100 Arbeitsplätze schaffen. Auch die kleine Clique bettelnder Obdachloser, die ich jeden Tag am Spielplatz in der Altstadt abhängen sah, vermochte mein Herz kaum zu rühren. Sie stammten aus slawischen Ländern, parlierten auf Russisch und hätten auch ein härteres Los ertragen. Dann aber kam die Nachricht, dass die Facebook-Seite der Tafel von Nizza gesperrt wurde.
So stehe ich eines Morgens im Industrierevier von Nizza-Nord in einer Lagerhalle mit löchrigen weißen Deckenplatten. Einer von 139 ganzjährig Freiwilligen, der hagere 63-jährige Pensionär Tony Amato, empfängt mich. Rentnerinnen Anfang 60 erledigen hier die meiste Arbeit. Amato hat bis 2020 bei der Sparkasse gearbeitet, laut Rechenmaschine des „Observatoire des inégalités“ zählt er zu den zehn wohlhabendsten Prozent, nun gibt er etwas von dem „vielen Glück“ zurück. „Die Mehrheit aber, 38 Millionen Franzosen, verdient nicht gut“, sagt er mir. 41.000 von gut einer Million Einwohnern des Départements Alpes-Maritimes brauchen die Hilfe der Tafel. Reiche Ruheständler strömen an die Küste, Ausländer beziehen in Hightech-Parks wie „Sophia Antipolis“ fantastische Löhne, gerade deshalb gibt es hier mehr Armut. Die Mieten sind viel höher, die Krankenversicherung ist teurer, eine Pizza kostet ein Drittel mehr als in Marseille.
Beschenken Sie die Banken!
Kurzum, arme Menschen werden in einem Umfeld des Reichtums ärmer. Das schafft Neid und Überschuldung. 900 von 1.331 verteilten Tonnen Lebensmittel gehen allein in die Badeorte Nizza, Antibes und Cannes. 71 Prozent der Empfänger leben unter der Armutsgrenze, 70 Prozent arbeiten Teilzeit, und 70 Prozent sind Frauen, allein mit Kindern unter 15 Jahren. Um Spenden hereinzukriegen, braucht die Tafel Facebook. Amato schimpft: „Facebook ist ein Gas. Es gibt keine Madame Facebook, bei der man anrufen kann.“ Niemand kennt den Grund für die Sperre. Vor einem Jahr wurde die Tafel im Norden blockiert, der Grund ist bis heute unbekannt. Amato meint, die Sperre sei womöglich von der neuen Spendenkampagne ausgelöst worden. Ein Slogan spielt mit dem Wort „Lebensmittelbanken“, wie die Tafeln in Frankreich genannt werden: „Machen Sie eine Geste, beschenken Sie die Banken!“ Amato glaubt, dass ein blöder Algorithmus dies für unerlaubte Bankenwerbung hielt, jedoch blieb der Spruch im Rest Frankreichs freigeschaltet. Nur in Alpes-Maritimes – Amato: „Wir waren gegen diese Kampagne!“ – wurde die Tafel gesperrt.
Als er seine Powerpoint-Sheets vorbereitet, plaudere ich mit zwei ehrenamtlichen Pensionären. Sie haben gerade Süßigkeiten verpackt. Über ihnen hängen Tafeln für „Fischkonserven, Kekse, Hygiene, Milch“, in der Reihe am Fenster gibt es „Mehl, Zucker, Konfitüren, Reisbrei“. Um zehn haben sie kaum noch was einzupacken und erklären das mit Corona. Ich frage: „Gibt es jetzt weniger Arme?“ Sie: „Es gibt mehr Reiche.“ Amato präzisiert, dass die Supermarktketten seit der Pandemie kaum noch Frischwaren spenden. Doch sind die haushohen Lebensmittelregale in der großen Lagerhalle gut gefüllt, die der EU mit ihrem Turm „FEAD“ und die Frankreichs mit seinem Turm „CNAS“. Vizevorsitzender Richard Cohen, auch er sicher ein Rentner, sitzt in einem verglasten Büro mit Blick über die Halle. Angesprochen auf Facebook, beginnt er zu brüllen: „Das ist unzulässig! Ich bin nicht antiamerikanisch, aber das ist amerikanischer Puritanismus!“ Amato flüstert: „Er ist sehr wütend.“
Zwischen EU und Frankreich steht der Turm „Nationale Kollekte“. Diese Spenden brächten Vielfalt, so Amato, „Milch und Nudeln haben wir, aber Hygieneprodukte für Frauen brauchen wir auch. Und dafür sind wir leider von sozialen Netzwerken abhängig, die uns zugleich benutzen, um unsere Daten zu sammeln.“ Die Sperre komme einfach zum falschen Zeitpunkt: „Wenn du im Juli nicht auf Facebook bist, ist das nicht so schlimm. Aber im November ...“
Kommentare 5
*****!
1. wie schon öfter angemerkt, bedarf es zu einer fast lückenlosen, also nahezu" perfekten" versorgung - hier der südfranz. mittel-, ober- und ganz-reichen-schicht - ZWINGEND einer mindestens 30%igen "über-"produktion u. -distribution ("über" gemessen an der "nachfrage" = bedarfe/bedürfnisse mal verfügbarer kaufkraft).
bis ca. 2000 war der globale kap'mus ein meister darin, diese überschüssigkeit trotz allen "übers" in vorteiligkeiten aller möglichen arten umzumünzen/umzuwandeln/auszunutzen, ganz im ggs. zur ehemals konkurrenten "systemalternative", deren überschüsse nicht selten in waggons verschimmelten usw. (die vernichtung von "tomatenbergen" u. ä. aktionen zw. ca. 1969 u. 1978 im rahmen ewg-mäßiger fehlsteuerungen des agro- u. z.t montan-sektors waren ausnahmen, die durch "angebotsorientierte" politiken von thatcher, reagan, kohl usw. dann zurückgedrängt wurden, - insbes. durch polit. angebahnte exportmöglichkeiten/-"erleichterungen", per wto, staatskredite an entw.- u. schwellenländer, sozialistische ostmärkte/"entspannungpolitik"/strauß-kredite usw.). aber auch die "wirtschaftlich" bis karitativ-entwicklungspolitisch aufgestellte sd'ie, das grün-liberale bürgertum usw. sorgte für rasant zunehmenden absatz an internationale HILFSORGANISATIONEN, so dass in den entspr. ländern afrikas u. asiens, z. t. auch südamerikas, die jeweiligen eliten und deren regionale gegner/neider/konkurrenten/ ihren machtbesitz bzw. -gewinn zunehmend von der erfüllung der üblicherweise mit "macht" verbundenen versorgungsaufgaben entkoppeln konnten, so dass es zur heutigen situation kam, wo taliban, diese o. jene "rebellen" etc. nahezu "frei schießen" haben, bzw. mal die alten machteliten mal diese parvenüs volksgruppen als hunger-geiseln nehmen, wo hilfsgüter nur gegen extra-obulus durchgelassen werden. h. w. sinn - sonst ja nicht der hellste - hat mal für die zeit 1980 bis 2000 den enormen KAPITALTRANSFER aus den entw.- u. schwellenländern an die großbörsen der westl. welt empirisch zusammengestellt, ergebnis: ERHEBLICHER NETTO-KAPITAL-transfer NICHT aus den oecd-ländern an die schwachen; sondern GENAU UMGEKEHRT!
daher: diese fähigkeit, aus solchem überschuss-"müll" noch "gold" - auch machtmäßig/politisch/"freiheitlich" usw. - zu schlagen, hat stark nachgelassen, wovon die tafeln m. o. w. als verlegenheitslösungen hier wie dort zeugen: globalpolitisch sind die "geber" längst selbst zum sklaven ihrer "vertafelung" der welt geworden ...
2. bzgl. cote-azur-reichtum müsste ich eigentlich mal berichten, wie 1977 pia d. und ich in manier der anfangsszene von "im lauf der zeit" mit nem käfer mitten in das verbotene domizil-herz franz. eliten, die camargue, vorgestoßen sind, - ca. 50 "zone interdit!"-schilder mit affenzahn auf sand- u. schotterwegen überfahrend. aber vlt ein andermal.
"arme menschen werden im umfeld des reichtums ärmer" !
und eine verteilung von waren, die am markt vorbei produziert wurden,
an kauf-kraft-ärmere, ist die bisher einzige lösung.
die richtige?
- "am markt vorbei produziert" ist alles, was die gestehungs-kosten
(den waren-wert) nicht durch verkauf realisiert.
der gebrauchswert der ware, ihre nützlichkeit, bleibt davon unberührt.
- was über-produktion für die ressourcen-übernutzung bedeutet,
ist dabei noch nicht angesprochen...
3. " ... dass die Supermarktketten seit der Pandemie kaum noch Frischwaren spenden"
kann auch gut an 2 beobachtbaren tendenzen liegen, - u. weniger an fb, pandemie etc.:
a) immer mehr obst & gemüse wird auf längere haltbarkeit hin gezüchtet. 95 % des erdbeerangebotes steht inzw. kurz vor der konsistenz von walnüssen, - gut für spekulatives hin- u. her-schieben. bananen sind nur noch ein schatten früherer genüsse, halten aber dafür doppelt bis dreimal so lange in der auslage usw. da fällt einfach weniger für tafeln usw. ab.
zusätzlich: was nicht schmeckt wird auch weniger verkauft, daher weniger vom handel eingekauft und dann auch weniger aussortiert/sekundär "verwertet".
und: gerade bei "frischwaren" stehen "kurze wege", regionalität und produzenten-nähe zu recht in höchstem grün-kurs, so dass riesiger massen-handel mit dergl. nun mehr u. mehr von schicken suvs umkurvt wird und lieber in kleinen spezialgeschäften oder gleich beim produzenten teuer-ware skrupulös ins körbchen selektiert wird, - oder, - für weniger privilegierte/"fexible" -, der vegetabile fress-behälter im abo vor die wohnungs-tür gestellt wird, - dessen überbleibsel dann ebenfalls kaum den weg in die tafeln finden können.
und diese überschuss-reduktionen waren/sind ja auch ein seit 4-5 jahrzehnten heftigst angestrebtes grün-ziel, über dessen zumindest tlw. erreichung nach so langer zeit des "kampfes" man sich nun auch nicht mehr allzusehr wundern darf.
b.1) dürren, hitzewellen usw. verKNAPPen u. verteuern massiv frisch-erträge, - oft bis hin zum fleisch, was ebenfalls die tafeln hinten rüberfallen lässt. der klimawandel begünstigt zwar dann zunächst andere regionen, aber die sind agro- bzw. frische-logistikmäßig u. kommerziell-kulturell nicht hinreichend bzw. überhaupt nicht er- bzw. ange-schlossen. und die digitalisierung, ki, usw. hilft da nur sehr bedingt rasch, und wenn, dann solchen kapitalwirtschaftlichen groß-agrariern, wie jenem deutschen u. seinen erwachsenen kindern, der vor ca. 10 jahren mit 16.000 hektar(!!) in russland eingestiegen ist, - und von dem man seither bedenklich wenig gehört hat. DAS WÄRE AUCH MAL EIN POTENTIELLES RECHERCHE-ZIEL FÜR LEIDENFROST!
b.2) und ja, es fehlen arbeitskräfte. aber nicht erst seit pandemie-beginn. die euphemistisch so genannten "wanderarbeiter" waren noch nie eine stabile dauerlösung, und so werden diverse ernten untergepflügt oder vergammeln einfach sonstwie/sonstwo, - heute vermutlich mehr als je zuvor. und wieder sind überschüsse auch zur tafeleinspeisung verloren.
4. fb, tafel-digitalität
für "kampagnen" ist fb nun auch nicht geeignet, zu unsicher, zu schlecht. man will auch keine b2c- oder b2b-plattform sein, auch nicht im sektor gemeinwirtschaft, non-profit usw.
und für die organisation/anmeldung von abholchargen/spenden kann man leicht ein anderes fb-konto heranziehen. die bisherigen "lieferanten" müssen, wenn sie das bisher über fb geregelt haben, dort selbst vertreten sein, so dass man diese leicht über die neue zwischenlösung/andere fb-seite informieren kann, - wenn nicht eh die mailadressen sowieso vorliegen. viele tafeln sind ja längst zur proaktiven, automatisierten rundfrage zzgl. schwerpunktmäßiger pers. ansprache direkt oder am telefon übergegangen.
auch it-lösungen & beratungenkann man sich schenken lassen! (spendenbescheinigung, studi-, azubi- projekte usw.)
insoweit sehe ich da eher die übliche ausreden-kultur am werk. die gibt es natürlich auch ganz massiv in kommerziellen markt-sektoren, aber dort bereinigt sich das halt über das fressen-oder-gefressen-werden-konkurrenz-prinzip (soweit nicht mono- o. oligopol ausgehebelt) auf die dauer selbst, - aber das sieht bei tafeleien usw. doch etwas anders aus.
Das ist die real existierende neoliberale Marktwirtschaft aka Monopoly-Kapitalismus.
Für "Christenmenschen" wie Friedrich Merz von der CDU und "Freiheitskämpfer" wie Christian Lindner von der FDP geht das immer noch nicht weit genug, die wollen noch viel mehr "Marktwirtschaft".
Der SPD und den Grünen ist das inzwischen irgendwie egal und für die Anhänger der AfD sind die Migranten und Ausländer schuld daran.
Und sogar bei der Partei "Die Linke" weiß man nicht mehr, ob sie Armut bzw. die Schere zwischen Arm und Reich wirklich interessiert, weil ihnen das grammatikalisch und orthografisch richtige "Gendern" offenkundig wichtiger ist.
Und was sagen Santa Claus, der heilige Nikolaus, Väterchen Frost, der Weihnachtsmann und das Christkind dazu?