Sechs Bataillone aus Olek­sand­rija für die Front

Europa transit In der mittelukrainischen Stadt Oleksandrija wird rekrutiert, um die Armee aufzustocken. Manche melden sich freiwillig, andere lähmt die Angst. Auch der Freund unseres Autors lebt in der bangen Erwartung, einberufen zu werden
Ausgabe 11/2023
Nicht jede:r kämpft freiwillig: Ein ukrainischer Soldat an einem Checkpoint vor Kiew
Nicht jede:r kämpft freiwillig: Ein ukrainischer Soldat an einem Checkpoint vor Kiew

Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images

Ich fahre gut 38 Stunden, um eine gewöhnliche ukrainische Provinzstadt in Zeiten des Krieges zu sehen. Da ein alter ukrainischer Freund aus dem russisch okkupierten Gebiet dorthin geflohen ist, wähle ich Oleksandrija. Einst als ein „Alexandria“ der russischen Zaren gegründet, ließe sich heute kaum etwas Durchschnittlicheres finden: Oleksandrija liegt geografisch, sprachlich und kulturell ziemlich in der Mitte der Ukraine, ist nicht groß und nicht klein, nicht weit und nicht unweit von der Front, wurde bislang trotz der städtischen Kaserne nicht bombardiert, und falls hier irgendwo eine Flugabwehrbatterie steht, dann wären herabfallende Teile von drüberfliegenden Raketen wie jener, die ein flinker Oleksandriner neulich fotografiert hat, vermutlich das größte Risiko für Leib und Leben.

Mein Freund schreibt mir vorab, dass er Angst hat, in die Stadt zu gehen. Er fürchtet, auf der Straße angehalten und zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. An einem nieselig trüben Montagmorgen holt er mich dann doch vom Bahnhof ab, mit dem Auto. Seit jeher das blanke Gegenteil eines Kriegers, ist er inzwischen auch grau geworden. Vielleicht weil seine Frau dabei ist, erklärt er zunächst nur so viel: „Augenblicklich ist es ruhig, aber in der vorigen Woche, als sie diese sechs Bataillone aufgestellt haben, war die Anspannung in Oleksandrija schon groß.“

Nicht direkt zur Front

Sie wohnen nun in seinem Elternhaus, bei der alten allein lebenden Mutter. Sie tafeln groß für mich auf. Den ganzen Tag läuft der auf allen ukrainischen Hauptsendern durchgeschaltete „Telemarathon“, eine aufpeitschende Kriegsberichterstattung ohne Durchatmen, selbst durch den Beitrag über Ikonenmalerei läuft reichlich Tarnfleck. Als Sohn eines Russen „in einem sehr schlechten Land geboren“, wünscht mein Freund diesem Volk, es möge lange für diesen Krieg büßen und Hungers leiden. Sein Sich-Verstecken spielt er herunter: Solange andere ihr Leben aufopfern, würde er sich ohnehin schämen, in einem der Cafés herumzusitzen.

Ich will allein durchs Zentrum spazieren, er fährt mich hin. Die Beleuchtung des leeren Stadions überstrahlt zur Mittagszeit die Stadt, nach fünfmonatiger Bombardierung von Kraftwerken sowie des Energienetzes durch die russische Armee hatte die Ukraine zuletzt wieder genug Strom. Mich und mehr noch sich selbst beruhigend, führt mein Freund nun aus: Zwangsmobilisierte würden gewiss nicht direkt an der Front eingesetzt, „zumal sich immer noch viele Freiwillige melden, die sechs Bataillone haben sie allein mit Freiwilligen zusammengekriegt“.

Sein Vergehen gegen die Ukraine ist minimal: Wie vom Vertriebenenamt für Binnenflüchtlinge vorgeschrieben, erschien er innerhalb von sieben Tagen auf dem Wehrersatzamt, gab dort aber an, möglicherweise weiterzuziehen, und steht deswegen nicht auf der Oleksandriner Liste. Ich frage ihn, was er damit riskiert. Er meint, es würde nicht mehr als eine Geldstrafe von umgerechnet 40 Euro fällig.

Frisieren im Akkord

Ich spaziere herum. Viele Straßenschilder der längst umbenannten Hauptboulevards, die an Lenin und die Rote Armee erinnern, hängen noch. Oleksandrija lebt, auch dank der vielen Binnenflüchtlinge, die meisten sind aus Charkiw. Nicht wenige Männer im wehrpflichtigen Alter sind unterwegs. Den geplanten Friseurbesuch gebe ich auf; obwohl die Friseusen wie im Akkord schneiden, müsste ich zu lange warten. Die sieben Blumenläden im Zentrum haben alle offen. Der Blumenkäufer vor mir murmelt eine Begründung, die Floristin antwortet: „Wie tun einem unsere Jüngelchen leid!“ Ich mag die Atmosphäre, die Aufmerksamkeit füreinander, die Menschen schauen einander in die Augen. Erst bei der Rückfahrt in sein Elternhaus beschreibt mein Freund die Anspannung der zurückliegenden Woche genauer: Gemischte Patrouillen aus Militär und Polizei blockierten die Ausgänge von Läden, Lokalen wie Autobussen und kontrollierten die herauskommenden Männer. Autofahrer wurden nicht oder nur selten angehalten, darum fühlte er sich im Wagen vergleichsweise sicher.

Plötzlich bricht aus ihm heraus: „Okay, ja, ich habe Angst!“ Er kann ohnehin kein Blut sehen, mit seinem früheren Dienstgrad hätte er sechs Soldaten unter sich, „und ich weiß nicht, was ich mache, wenn mir einer stirbt“. Wenn er einberufen werde, dann ziehe er eben in den Krieg. Er habe Russland während der Monate unter russischer Besatzung hassen gelernt.

Ich bekomme noch einen heißen Borschtsch, die traditionelle Kohlsuppe, dann trete ich die Heimreise an, sie dauert gute 36 Stunden. Mein Freund harrt seiner möglichen Einberufung wie Millionen andere Ukrainer auch.

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Kommentarfunktion deaktiviert

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.