Emotion ohne Grenzen - vom Hass auf die Masse

Migration Eine kluge Antwort auf Fragen der Migration zu finden, ist ähnlich schwer wie eine Haltung zu Syrien zu haben. Hass auf die schnöde Bürgermasse ist da einfacher.

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Wann immer man die Großstädte dieses Landes verlässt, die sozialen Netzwerke und ihr aufgeregtes Gegacker über alles und jeden hinter sich lässt, wenn man also zurückkehrt zu den Menschen, die die Masse ausmachen, jenen, die vielleicht die Kanzlerin wählten, die Angst vor Flüchtlingen haben, die nur ihr kleines Leben leben wollen, das so einfach aussieht und dennoch von Arbeitslosigkeit, bösen Krankheiten oder anderem Übel bedroht ist, wenn man dorthin zurückkehrt, ist es, als habe man sich durch einen akustischen Hefeteig gefressen. Das Schreien, das wütende Stampfen mit dem Fuß auf den intellektuellen Fußboden der Waldorfschule, erreicht hier keinen mehr. Das gilt aktuell auch für Krokotränen-Revuenummern in deutschen Gazetten.

Nicht, dass Lampedusa weiter weg ist. Nur sind diese Menschen da draußen „in der Fläche“ sehr damit beschäftigt, ihren eigenen Kopf über Wasser zu halten. Spießer vielleicht, aber auch Helden des Überlebens. Auch sie – man mag es kaum glauben, dass ich diesen Vergleich anzustellen wage – wollen einen Teil des versprochenen, des verlockenden Kuchens haben. Die Klugen der Stadt, die Vielleser und Allesdeuter unterstellen ihnen Wohlstand, den es doch wohl zu teilen gilt. So, als ob sie ihre kleine Doppelhaushälfte mit üblen Derivatengeschäften herbeigezockt hätten. Spießerbashen war schon immer das kleine, dunkle Vergnügen der scheinbar geistigen Elite in Funk und Fernsehen. Dabei reicht der vermeintliche Wohlstand gerade, um Rechnungen zu begleichen, Kinder durch die Welt zu bringen und, wenn es gut läuft, das Musical in Oberhausen zu besuchen. Das mag für den Klugen peinlich und schlicht erscheinen, ist aber meist nur gesund.

Denn im Aufbruch, der oft genug auch ein Davonstehlen, ein Wechsel der Seite ist, steckt nicht nur das Licht des Heldenseins. Das Klug-Menschen Heimat nicht als Gefühl empfinden, mag ihnen gegönnt sein. Das aber genau jene Heimat die Grundlage für eine Idee der Solidarität sein kann, im besten Falle sogar das Herausbilden einer Vorlage, wenn nicht Vorbilds, kommt den Klugen nicht in den Sinn.

Menschen sterben vor unserer Haustür. Und der Mitleids- und Hysteriemotor springt an. Das Elend in den Ländern, welches den Strom des Wanderns auslöst, fällt da schnell unter den Tisch. Zu komplex, keine schnelle Lösung. Lieber die eigenen Mitmenschen der Kaltherzigkeit bezichtigen, als sich selbst zu fragen, ob das Generalmitleid für „die Afrikaner“ nicht eine sehr hinterfotzige Version des Rassismus und des postkolonialistischen Dünkels der scheinbar aufgeklärten Europäer ist. Das freudige Fordern nach Schleifung der Festung Europa bewegt sich auf dem gleichen Kolonial-Level wie die dumpfbackige Forderung, junge, flexible und kluge Arbeitskräfte aus den Südländern abzuziehen. Sollen die Daheimgebliebenen doch sehen, wo sie bleiben.

Länder sind ja auch scheiße, irgendwie. Weltpass – you know. Keiner geht dann gern in die Extremadura, nach Thessaloniki, nach Mogadischu oder Lagos und erklärt den „Zurückgebliebenen“, warum wir gern ihre jungen Männer und Frauen hier an Bord haben wollen. Es setzt der Verstand aus, wenn das Bild emotionalisiert. Migrationspolitik, zumal mit dem absolut verworrenen Kontinent Afrika, wird boulevardesk auf wenige Bilder von Ertrunkenen reduziert. „Denen muss doch geholfen werden.“ Die Emo-Sauce wird dann mit ein wenig schlechtem Gewissen wegen des Reichtums des eigenen Landes vermischt. Und fertig ist das Pöbel-Gericht gegen scheinbare Hetzer und dumpfe Mitbürger. Die wohnen noch immer in „der Fläche“, kämpfen sich durch ihr kleines Leben und verstehen nicht, warum sie eigentlich immer von denselben Menschen zum Abgeben aufgefordert werden. Jenen mit den schnellen Ratschlägen, den vernichtenden Hass-Urteilen und den fehlenden klaren Lösungen für ein kaum zu lösendes Problem. Jene, die keine Kriegseinsätze wollen, aber die Shabab-Milizen in Ostafrika doof finden. Die die USA scheiße finden, aber Mogadischu schon irgendwie friedlicher haben wollen. Links sein hieß einmal, sich jeden Tag die Frage zu stellen, ob das eigene politische Bewusstsein der Realität standhalten könne. Dem ist eine eitrige Form des Mitleidens inklusive des Fingerzeigs auf andere hinzugefügt worden. Links sein bedeutete immer, Politik als ein Ringen der Interessen und der Bedingungen zu erkennen. Nicht jedoch einem Menschen aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft eine positive oder negative Eigenschaft zuzuordnen. Links sein bedeutete auch, das eigene persönliche Scheitern nicht a priori den gesellschaftlichen Bedingungen zuzuordnen – kleinbürgerliche Larmoyanz nannte man das, heute trotzig „Wunsch nach Teilhabe“. Und zum Schluss noch eins: Links sein bedeutete einst, nicht der eigenen Ikonographie zu verfallen. Boot plus Afrikaner plus Tod ist wie Banker und Victoryzeichen. Zu einfach.

Der Hass auf die scheinbar nur vor sich hin konsumierenden Bürgermasse hatte schon immer was von Freudscher Zerstörungslust der eigenen Herkunft. Schnell das Gesinnungsdeo auf den üblen Herkunftsschweiß gesprüht. Das vielfache Sterben wird nur als Bild betrachtet. Und auch nur weil es das Mittelmeer ist. Da, wo wir so gern urlauben, wo es sich so schön baden lässt. Wird es größer und unübersichtlicher, erlischt der Elan. Überall auf der Welt wird migriert. Zweifellos mit unvorstellbarem Leid: an der Grenze bei Tijuana, Mexiko, wie im Norden Jordaniens oder im Osten Indiens.

Zwei große Faktoren haben Migration reduzieren können: Bildung und Handel. Jedes Land, das die viel zitierte zweite Mahlzeit implantieren konnte, hatte recht schnell wieder Boden unter den Füßen. Das, man hört es in vielen Zirkeln ungern, war ein Faktor der bösen Globalisierung. Ein voller Bauch führte vielfach auch zum Wunsch nach Bildung. Konnte beides erreicht und etabliert werden, packten wenige ihre Koffer. Aber auch das ist sicher nur ein Teil der Gesamtwahrheit. Eine gute und kluge Antwort auf Fragen der Migration zu finden, ist ähnlich schwer wie eine Haltung zu Syrien, zum Islamismus oder Klimawandel zu haben. Klingt nach wenig. Es ist aber auf jeden Fall mehr als das Beharren auf halbgaren Vorschläge wie „Mehr reinlassen" oder "Irgendwo kriegen wir sie schon unter". Wann immer dieser Erweckungston, dieser Kirchentagsblues angestimmt wird, sollte man schnell die Messe verlassen. Und wenn nichts mehr hilft, vielleicht doch nach Neros Löwen rufen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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