Mit Rudis Augen

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Ich denke an diesen Frühlingsnachmittag in Tel Aviv, die Aschewolke schwebte über Europa, also mussten (konnten!) wir noch bleiben in dieser seltsamen Stadt, marode, modern, am Meer.

Wir flanierten die Allenby-Street entlang und stoppten vor dem kleinen Fotogeschäft, Nummer 30, mit seinen schwarz-weiß-Aufnahmen im Schaufenster, die nostalgisch wirkten. Drin saß Miriam Weissenstein, eine faltige, elegant gekleidete Grande Dame, und erzählte von ihrem Mann Rudi, dem Fotografen, im Hintergrund sortierte ihr Enkel Ben einige Fächer mit alten Kontaktabzügen.

Weissenstein war der Chronist Israels, von seinen Anfängen, seinem Aufbruch, seinen Hoffnungen. Er war der einzige, bei der Proklamation des Staates 1948, zugelassene Fotograf. Nicht nur Ben Gurion, er hat sie später alle portätiert, die Mächtigen, Tel Avivs Fischer, Straßenmusiker, idealistische Kibbuz-Proletarier und Kollektive. Und hat mit einer Million Negativen das größte private Bildarchiv Israels geschaffen.

Das (Bau)-Haus, indem sich der Fotoladen befindet, sollte bald abgerissen werden, erzählten seine Erben damals im April 2010 besorgt. Was sollte mit dem Werk geschehen?

Am vergangenen Sonntag stand Ben, der Enkel, 35, in der Jüdischen Synagoge in Berlin und sagte, er spüre sie im Raum, seine Großmutter, wenn auch nicht physisch. Leider könne sie die Ausstellung "Ihr glücklichen Augen",mit den Bildern ihres Mannes, die er hier eröffnet, nicht mehr erleben. Miriam Weissenstein, die Tänzerin und Muse, Fotografin und Geschäftsfrau, war vor einer Weile gestorben.

Was beide hinterlassen haben, er als Künstler, sie als seine Assistentin und Nachlassverwalterin, all die schwarz-weiß-Aufnahmen des noch jungen Tel Aviv, das nach 1936 zur Metropole von Kosmopoliten wurde, die Bilder von Musikern wie Leonard Bernstein (Rudi hat lange des Israelische Nationalorchester begleitet) oder die Fotos von zertrümmerten arabischen Städten nach dem Krieg... - dieses Werk ist die Seele eines Landes, "gebaut mit Bildern".

Ben sagt, das Haus habe er räumen müssen, für zwei Jahre ist der Fotoladen nun umgezogen. Aber man habe ihm versprochen, dass er nach der Renovierung wieder einziehen darf, mit originalgetreuer Ausstattung. Nun reist er erstmal mit den Bildern seines Großvaters durch Deutschland, die Ausstellung soll wandern.

Sie ist historisches Dokument, aber eigentümlich zeitlos, weil sie von Menschen erzählt, und einem Ort, an dem sie leben können. Auf ihre Art.

(Die Ausstellung läuft noch bis zum 24. Juni 2012 in der Jüdischen Synagoge in Berlin)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

Maxi Leinkauf

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