Dieter, Gisela und die Impotenz der Linken

Kapitalismus Die Linke muss begreifen, dass bürgerlicher Moralismus kein Ersatz für Strategie und Argumente sind. Linke Politik muss am Alltagsleben der Deutschen ansetzen

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Was muss eigentlich passieren, damit die Dinge sich endlich ändern?
Was muss eigentlich passieren, damit die Dinge sich endlich ändern?

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Unsere soziale Herkunft prägt unser Verständnis der Welt in einem Ausmaß, das uns nicht vollends bewusst ist. Ob und wie wir Probleme wahrnehmen, sie überhaupt als solche ansehen, hängt von vielerlei Faktoren ab, von denen die meisten in unserer Biografie begraben liegen.

Als Beispiel ließe sich hier Thilo Sarrazin anführen: Sarrazin, Sohn eines Arztes und Schriftstellers und einer Künstlerin, kommt aus einer gutbürgerlichen Familie. Nach seinem Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium in Recklinghausen studierte er Volkswirtschaftslehre und arbeitete im Anschluss bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, nach einigen Stationen im Finanzministerium wurde er schließlich 2002 bis 2009 Berliner Senator für Finanzen, im Anschluss war er kurz bei der Bundesbank Vorstandsmitglied bevor er sich dem Autorendasein widmete. Als Finanzsenator machte sich der Akademikersohn Sarrazin einen Namen, als er Menschen in Armut vorrechnete, wie sie sich von knapp mehr als 4€ pro Tag ernähren können und die Hauptstadt einer rigorosen Sparpolitik unterzog. Sarrazin, der vermutlich nie hungrig ins Bett gehen musste, verscherbelte zudem öffentlichem Wohnraum, der jetzt angesichts der Krise auf dem Berliner Wohnungsmarkt zurückgekauft werden soll. Als die Berliner Verkehrsbetriebe 2007 ein riskantes Geschäft an der Wallstreet eingehen wollten, nickte dies der Aufsichtsratsvorsitzende Sarrazin wohlwollend ab – und das obwohl er das Geschäft nach eigener Aussage gar nicht verstand. Die BVG verlor dadurch schließlich 204 Millionen Dollar.

2010 veröffentlichte Sarrazin dann das Buch »Deutschland schafft sich ab«, in dem er vor einem drohenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Untergang Deutschlands warnt, der aufgrund einer wachsenden, bildungsfernen und vor allem türkischen Unterschicht drohe. Dabei ging die größte Gefahr für das wirtschaftliche und kulturelle Wohlergehen Berlins, gerade im bezahlbaren Wohnraums, eigentlich von Sarrazin selbst aus. Weder Inkompetenz, noch Dreistigkeit oder Arroganz konnten die Karriere des Sozialdemokraten Sarrazin aufhalten – das ist die bittere Wahrheit der sogenannten deutschen Leistungselite. Sarrazin wird das natürlich ganz anders sehen, doch das versteht sich von selbst. Eine Studie hat vor kurzem demonstriert, dass Menschen mit besserer Bildung und höherem Einkommen ein gesteigertes Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer Fähigkeiten haben, verglichen mit ähnlich Begabten mit schlechterer Bildung und geringerem Einkommen.

Kapitalismus, Ungleichheit und Demokratie

Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer wurde von der Bundesregierung im Rahmen des Armuts- und Reichtumsbericht 2016 damit beauftragt, die Folgen sozialer Ungleichheit auf die Demokratie in Deutschland zu untersuchen. Aufgrund der Sprengkraft der Studie hat man seitens der Bundesregierung lieber auf Zensur gesetzt und zentrale Passagen aus dem Bericht kurzerhand gestrichen. Die Ergebnisse der Forschung von Armin Schäfer sind dabei hochrelevant. Das Kapitel über Lobbyarbeit und Interessenvertretung wurde beispielsweise komplett und ersatzlos von der Bundesregierung gestrichen. Im US-amerikanischen Kontext greift man angesichts solcher Dissonanzen zwischen politischer Führung einerseits und Wissenschaft andererseits gerne auf den Begriff »Fake News« zurück.

Das Problem der sozialen Ungleichheit für die Demokratie ist nicht nur, dass Menschen in Armut weitaus seltener wählen gehen. Das wirkt sich dann auch auf die Politik aus, die verfolgt wird. In einem Interview sagt Armin Schäfer dazu:

»In unserem Forschungsprojekt haben wir alle Sachfragen erfasst, die in Umfragen erhoben wurden – von 1980 bis in die Gegenwart. Für jede einzelne dieser Fragen, insgesamt über 700, haben wir festgehalten, wer für eine Politikveränderung und wer dagegen war, kategorisiert nach Einkommen, Bildung, Berufsgruppe etc. In einem zweiten Schritt haben wir erhoben, was am Ende entschieden wurde. Wenn man diese beiden Informationen zusammenbringt, zeigt sich ein sehr klares Muster: Die Entscheidungen des Bundestages haben in den letzten dreißig Jahren sehr viel häufiger mit den Präferenzen von Menschen übereingestimmt, die hohe Einkommen haben oder denen es insgesamt bessergeht. Sehr viel seltener gab es Übereinstimmungen mit den Präferenzen der Ärmeren. Und diese Diskrepanz ist dann besonders groß, wenn Arm und Reich verschiedene Dinge wollen.«

Steigende soziale Ungleichheit hat darüber hinaus nicht nur den Effekt, dass Menschen in Armut generell weniger repräsentiert werden, sondern auch, dass sie zunehmend von einer elitären Minderheit repräsentiert werden. 80% aller Bundestagsabgeordneten haben studiert, während es in der Bevölkerung nur rund 20% sind.

Es ist aber nicht nur die Legislative, die vorzugsweise aus der Elite rekrutiert. Bei der vierten Gewalt, der Presse, sieht es ganz ähnlich aus. Der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann sagt dazu in einem Interview mit dem ZDF:

»Also wenn man sich die Journalistenschulen anguckt, die Auswahlgespräche und ähnliches: Da bist du, wenn du nicht aus dem bildungsbürgerlichen Umfeld stammst, bei einem Teil der Fragen aufgeschmissen. Eine Doktorandin von mir hat Anfang des Jahrzehnts im Rahmen ihrer Doktorarbeit eine Befragung bei den drei führenden Journalistenschulen gemacht. 68 Prozent der Befragten stammten aus der obersten Herkunftsgruppe - Akademiker in leitenden Positionen. Aus der unteren Hälfte der Bevölkerung kamen überhaupt keine Journalistenschüler.«

Was für Themen behandelt werden, wie sie behandelt werden und welche Themen gar nicht behandelt werden, darüber bestimmt in einem hohen Maße die soziale Herkunft. Eine wachsende soziale Ungleichheit sorgt dann nicht nur dafür, dass vor allem die Interessen der Besserverdienenden mehr Rücksicht erhalten, sondern dass sich das Personal sowohl des Parlament als auch der Redaktionsstuben kaum noch aus der ärmeren Hälfte der Bevölkerung rekrutiert.

Wie es aussieht, wenn sich eine kleine Elite hermetisch abriegelt und eine Parallgesellschaft bildet, zeigt das Beispiel Gabor Steingart. Der ehemalige Herausgeber des Handelsblatt sprach 2016 dem damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz die Befähigung zur Kanzlerschaft ab. Grund dafür waren nicht politische Differenzen. Steingart (der Politikwissenschaft und Volkwirtschaftslehre studiert bevor er an eine Ausbildung an einer Journalistenschule genoss) missfiel schlichtweg das Milieu, aus dem Schulz stammt, »der die Zulassung zum Abitur nicht schaffte, wenig später zum Trinker wurde, bevor er als grantelnder Abstinenzler für 22 Jahre im Brüsseler Europaparlament verschwand«. Deutlicher lässt sich Abscheu kaum in Worte fassen.

Dieter, Gisela und der Kapitalismus

Das sind alles strukturelle Entwicklungen, die auch vor traditionell linken, sozialdemokratischen und linksliberalen Parteien und Medien keinen Halt machen. Das lässt sich sehr gut an der Kolumne von Mely Kiyak für Zeit Online demonstrieren. Mit »Dieters Paradies« liefert die Schriftstellerin ein bemerkenswertes Dokument über die stille Verachtung für den Ottonormalverbraucher. Genüsslich karikiert sie das profane Leben des normalen Deutschen:

»Der Dieter – wir sprechen hier von einem stinknormalen, mäßig gebeutelten, also alles in allem durchschnittlichen Durchschnittsdieter – bummelt am Wochenende zu Deichmann, verspeist in der Einkaufspassage im Tchibo einen überdimensionierten Schokokeks, trinkt dazu eine Tasse Kenia-Blend, bisschen Handys angucken bei Saturn, nachmittags Fußball, Schweinebauch grillen, paar Flaschen Bier und mindestens einmal im Jahr Pauschalurlaub. Trotz Internetanschluss bucht er immer im Reisebüro, weil dort seine Tochter ihre Ausbildung zur Reisekauffrau macht, und da kriegt er noch mal fett Prozente. Variationen dieses Lebens bestehen darin, dass man statt bei Tchibo Kaffee und Kuchen bei Nordsee den Alaska-Seelachsfilet-Mittagsteller isst und bei Orion ein bisschen Ausschau nach sexyschmusi Spielzeug hält. Warum auch nicht? Dieter ist modern, und Gisela, seine Mausi, hat immer noch Lust.«

Was an weltlichen Genüssen wie einem Kaffee bei Tchibo, Schweinebauch und Pauschalurlaub so verurteilenswert ist bleibt zunächst Geheimnis der Autorin. Der erfahrene Leser wittert aber bereits, dass die Stoßrichtung des Textes wahrscheinlich irgendetwas mit Fairtrade, vegetarischer Ernährung und ökologischem Fußabdruck zu tun hat – der Leser irrt nicht. In dem Duktus einer anthropologischen Studie aus dem späten 19. Jahrhundert über primitive Völker schreibt Kiyak über das Leben des Dieter:

»Ein gewöhnliches Dieterleben an einem gewöhnlichen Samstag, das ohne Kinderarbeit, Menschenausbeutung, Umweltverschmutzung, Konsumismus nicht auskommt. Dieter war einmal bei König der Löwen in Hamburg, und letztlich hat es ihm nichts gebracht, da macht er lieber Streamingabend, da kriegt er für weniger Geld mehr. Der Dieter, das darf man nicht falsch verstehen, ist kein schlechter Mensch, der hat das Herz auf dem rechten Fleck, aber er kann jetzt auch nicht die ganze Welt retten, und bis er sich einen Maiskolben in Alufolie mit Niedrigtemperaturmethode gart, muss schon einiges passieren.«

Die Sünden des Dieter werden hier endlich glasklar aufgeführt: Menschenausbeutung, Umweltverschmutzung und Konsumismus! Und vermutlich die größte aller Sünden: der Versuch sich bei König der Löwen durch eine kleine, banale Erfindung einen etwas Reichtum zu erwirtschaften. Aber als Kolumnistin bei Zeit Online weiß man: Solche naiven Aufstiegsträume sind bloße Chimären; sozialer Aufstieg ist Dieter nicht nur vergönnt, weil er so unglaublich durchschnittlich ist; sozialer Aufstieg ist auch unmittelbar mit geistlosem Konsumismus verknüpft und trägt daher Schuld an der Zerstörung der Erde. Das, natürlich, ist eine Binsenweisheit innerhalb der linksliberalen Filterblase, für die Diskriminierung und Umweltzerstörung Kapitalverbrechen sind – besonders wenn diese Verbrechen in Afrika begangen werden, denn dann ist das schlechte Gewissen nochmal stärker.

Vor der Normalität, nach welcher sich Dieter so sehr sehnt, graust es Kiyak, auch wenn sich die Mehrheit der Deutschen darin relativ wohl fühlt. Denn, so fragt die Autorin, was sei daran schon normal? Hinter der schnöden Fassade der Normalität versteckt sich doch nur der Terror alltäglicher, kapitalistischer Ausbeutung! Und natürlich muss an dieser Stelle über Flüchtlinge gesprochen werden, denn sonst wäre es keine Zeit Online Kolumne:

»Angefangen von einer Flüchtlingspolitik, die keine Politik ist, sondern ein nur durch Unverschämtheit und Missgunst zu erklärendes Desaster, bis hin zu einer grotesken Überproduktion von Waren, die zu Armut auf dem afrikanischen Kontinent führt, nur damit Deutschland weiterhin seinen Status als Exportweltmeister halten kann. Wenn das Normalität ist, zu der zurückgekehrt werden soll, dann bitte lieber nicht.«

Als naiver Leser mag man sich hier fragen, was die Flüchtlingskrise, die sich vor allem aus dem syrischen Bürgerkrieg und dem katastrophalen Krieg im Jemen speist, mit dem noch eingangs diskutierten Tchibo-Kaffee zu tun hat. Die Frage wird leider nicht beantwortet, aber immerhin wird eine Dichotomie zwischen Deutschen und Flüchtling aufgebaut. Der Subtext lautet: Schämt euch für eure irdischen Vergnügen, so lange Flüchtlinge im Mittelmeer umkommen! Schämt euch für den deutschen Exportüberschuss, so lange in Afrika Kinder hungern! Dass der normale Deutsche mithin mehr mit dem Flüchtling aus Syrien gemeinsam hat als mit einem Friedrich Merz oder Familie Quandt, ist an dieser Stelle bereits undenkbar. Wer bei Zeit Online Kolumen schreibt, der verabschiedet sich nicht nur von Tchibo Kaffee und Schweinebauch, sondern auch von »Klasse« als politischer Analysekategorie.

Letztlich verleiht Kiyak ihrem linksliberalen Weltschmerz Ausdruck, indem sie fragt:

»Was muss eigentlich passieren, damit eine Gesellschaft einmal nur ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, ihre Wirtschaftsform, ihre politischen Maßstäbe reflektiert? Zwei Weltkriege, Teilung und Wiedervereinigung, Terror und Seuchen sind es jedenfalls nicht. Was muss noch kaputt gehen, explodieren, sterben, damit mit schlechten Angewohnheiten endlich Schluss ist?«

Schließlich bekommt auch die Automobilbranche, die immerhin über 800.000 Deutsche mit einem Einkommen versorgt, ihr Fett weg:

»Dann geht die Automobilbranche eben komplett kaputt. Sollen die Beschäftigten eben statt zu schrauben Spargel stechen oder Erdbeeren oder was auch immer ernten. Gibt ja immer was zu pflücken in diesem Land. Wenn schon Nationalismus, das will der Dieter bisweilen ja gern, dann richtig Nationalismus und nicht Tagelöhner aus dem Ausland holen. Muss der Dieter eben Selbststecher werden.«

Ja, wenn der Deutsche Nationalismus haben will, dann soll er ihn auch bekommen! Dann solle der Deutsche aber auch endlich seine Drecksarbeit selbst erledigen, fordert die Autorin (ironisch?). Die Normalität, zu der alle nach Corona wieder zurückwollen, ist und bleibt für Kiyak aber blanker Horror und so endet sie ihren Text mit folgenden Sätzen:

»Wo der Dieter in Zeiten ohne wirtschaftliche und persönliche Not nichts verändert wissen wollte, wird er in psychisch anspruchsvollen Zeiten erst recht nichts geändert sehen wollen. Normalität bedeutet, dass Dieter weiterhin unbehelligt von jeglicher Verantwortung weitermachen kann wie bisher, damit alles beim Alten bleibt. Zurück zur Normalität bedeutet nichts anderes als zurück zum Wahnsinn.«

»Unbehelligt von jeglicher Verantwortung« – Vier Worte, die die aktuelle Impotenz der linksliberalen politischen Mitte gut zusammenfassen. Die Übel des Kapitalismus sind nach Kiyaks Analyse ausschließlich im Verantwortungsbereich von Dieter und Gisela. Damit ist sie ihrer Sicht der Dinge komplett d'accord mit der neoliberalen Margaret Thatcher, die einst sagte: »There is no such thing as society, there are only individual men and women.« Der Kapitalismus ist somit kein gesamtgesellschaftliches Phänomen, sondern ein rein individuelles Phänomen – und als solches müsse es auch demnach individuell angegangen werden.

Bürgerlicher Moralismus ist politisch impotent

Der linksliberale Öko sieht die Verantwortung für die Grausamkeiten bei unserer Zeit vor allem beim Individuum. Deshalb soll jeder einzelne fleißig Müll trennen, auch wenn das nichts bringt. Dass man den Unternehmen einfach untersagt, so viel Müll zu produzieren, wird gar nicht in Erwägung gezogen. Deshalb soll man sich auch schämen, wenn man mit dem Billigflieger reist – und das obwohl die Liberalisierung des Luftverkehrs doch gerade geringeren Einkommensklassen die Reise erleichtern sollte. Aber auf diese Weise muss man die Flugindustrie nicht bändigen und kann zudem noch etwas Greenwashing betreiben. Und wer sich nicht schämt und weiterhin Pauschalurlaub macht, dem wird einfach durch clevere und zielgerichtete Steuererhöhungen der Urlaub so lange verteuert, bis er richtig schmerzhaft wird und nur noch die Reichen ihn sich leisten können. Aber warum sollten Dieter und Gisela den Preis dafür zahlen, dass gerade einmal 20 Unternehmen ein Drittel der globalen CO2-Emissionen ausmachen?

Ja, was muss eigentlich passieren, damit die Dinge sich endlich ändern, fragt sich Kiyak. Gute Frage! Sie selber gibt keinen einzigen Grund dafür, warum sich Dieter und Gisela überhaupt für die von ihr vorgestellten Themen interessieren sollten. Warum soll Dieter sich für die Flüchtlinge im Mittelmeer interessieren, was hat er davon? Warum soll sich Gisela für den deutschen Exportüberschuss interessieren, was hat sie mit afrikanischen Kindern zu tun? Vielleicht denkt sich die Autorin ja, dass, wenn nur genug Menschen taz und Zeit Online lesen würden, die Menschheit endlich für einen tiefgreifenden ökologischen Wandel bereit wäre. Die Leute sind vielleicht einfach nicht klug genug, sind nicht zu Selbstreflexion in der Lage, sind einfach nicht selbstkritisch genug. Das klingt schon fast wie ein linker Gabor Steingart.

Vielleicht sollte man sich ja mal in die Position absoluten Durchschnittsdeutschen hineinversetzen und sich folgende Frage stellen: Wenn die Welt wirklich vor die Hunde geht, welche Erklärung dafür ist dann für mich attraktiver: Sarrazins Gerede von der bildungsfernen Unterschicht oder Kiyaks moralisierende Anklage gegen Dieter und Gisela, also gegen die eigene Person? Ich glaube die Frage ist schnell beantwortet.

Leider versäumt es Kiyak auch nur einen überzeugenden Grund dafür zu liefern, warum sich Dieter und Gisela für ihre Positionen interessieren sollten. Sie bietet nur billigen, bürgerlichen Moralismus: Denk an die Flüchtlinge und die Kinder in Afrika – und dann fühl dich schlecht! Aber Moralismus ist und war schon immer ein Zeichen dafür, dass es an überzeugenden politischen Argumenten für die eigene Position mangelt.

Das ist ein Armutszeugnis für jede Person, dessen Herz für soziale Gerechtigkeit, ökologischen Wandel und Sicherheit für Flüchtlinge schlägt. Der Erfolg der Alternative für Deutschland beweist, dass sich mehr und mehr Deutsche einfach nicht mehr emotional und moralisch erpressen lassen. Den Leuten einzureden, sie sollten sich schlecht fühlen, bringt sie niemals an die Wahlurne. In Sachsen haben gut 40% der Hartz-IV Empfänger für die AfD und damit gegen ihr materielles Interesse gewählt. Das muss ein Weckruf und Anlass für die Frage sein, was eigentlich die Stärke der Rechten mit der Schwäche einer linken Alternative (ob grün, sozialdemokratisch oder links sei dahingestellt) zu tun hat. Der Linkenpolitiker Jan Korte hat das ebenfalls erkannt und formuliert es folgendermaßen:

»Wenn nicht versucht wird zu ergründen, woher die Wut, der Zorn und die Abkehr von Arbeitern und Teilen der Mittelschicht von den Parteien der Arbeiterbewegung kommen, dann kann die Rechtsentwicklung nicht gestoppt werden. Aber anstatt sich dieser so drängenden Frage selbstkritisch zu stellen, verweilen Teile der Linken im moralischen Rigorismus, der eine fehlende Strategie ersetzen soll, was er natürlich nicht kann. Bei vielen Diskussionen – auch im eigenen Umfeld – blitzt stattdessen eine Überheblichkeit gegenüber jenen hervor, die den eigenen Lebenswelten kulturell nicht entsprechen. Dass dies etwas mit der ökonomischen Situation von Menschen zu tun hat, scheinen einige Linke mittlerweile zu übersehen.«

Daher muss Schluss sein, mit der stillen Verachtung für 'den kleinen Mann' und 'die kleine Frau', mit dem Herabblicken auf die Durchschnittsdeutschen, auf die Dieters und Giselas. Denn ohne Dieters und Giselas lässt sich in diesem Land nun mal keine Politik machen. Man muss diesen Menschen ein Angebot machen, das über moralisierende Anklagen hinausgeht. Man muss diesen Menschen aufzeigen, dass sowohl die Bekämpfung des Klimawandels als auch die Senkung des Exportüberschusses in ihrem eigenen materiellen Interesse ist. Gute, linke Politik muss am Durchschnittsdeutschen, an seiner unmittelbaren Lebenserfahrung ansetzen. Wenn sie das nicht tut, bleibt sie ein realitätsfernes, marginales, elitäres Projekt der Bourgeiosie – und damit zum Scheitern verurteilt.

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