Die Pathogenese des Widerstands

Kritische Theorie, Covid-19 Über Oliver Nachtweys und Carolin Amlingers »Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus« und den neo-kommunitaristischen Zeitgeist.

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I. Apotheose des spätmodernen Individuums

Die vermutlich gründlichste und anspruchsvollste Beschäftigung mit der Querdenken-Bewegung stammt aus Basel, wo sich die Soziologen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger zusammengesetzt und “Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus” (Suhrkamp) verfasst haben. Anhand von zahlreichen Interviews mit Teilnehmern der berüchtigten Corona-Demos versuchten sich die Autoren an einer sozialpsychologischen Antwort auf die Frage, weshalb die Coronamaßnahmen so viel Widerstand motivierten.

Nachtwey hatte sich in der Auseinandersetzung mit den Corona-Protesten bereits einen Namen gemacht. Mit seinen Kollegen verantwortete er eine empirische Studie zu den Querdenkern, die – konträr zum medialen Zerrbild einer von rechts unterwanderten Meute – zum Vorschein brachte, dass ein Großteil der Bewegung ehemals links und grün wählte, vorwiegend dem Bildungsbürgertum entstammt und Medien sowie politischen Institutionen zutiefst misstrauisch gegenübersteht. Insgesamt, so heißt es dort, handle es sich hier um eine Bewegung, die aus dem linken, sozialökologischen Milieu komme, aber nach rechts »drifte«.

»Gekränkte Freiheit« baut auf diesen Erkenntnissen auf und unterfüttert sie gesellschaftstheoretisch und zeitdiagnostisch. Unter Zuhilfenahme des Konzepts der autoritären Persönlichkeit von Adorno gelangen die Soziologen zur Erkenntnis, die Coronaproteste seien Ausdruck »eines längerfristigen sozialen Wandels zur Spätmoderne, der ein hochindividualisiertes Subjekt hervorgebracht hat, das, freigesetzt aus traditionalen Institutionen, sein Leben vermeintlich selbstbestimmt gestaltet, sich aber seiner sozialen und politischen Umwelt häufig ohnmächtig gegenübersieht«.

Dieses spätmoderne Subjekt traf demnach in der Pandemie auf einen Staat, der, genötigt durch den Sachzwang »Corona«, ihm erstmals offen autoritär gegenübertrat. Wohingegen frühere staatliche Interventionen sich vor allem in seinen Disziplinierungsmaßnahmen auf untere Einkommensschichten wie Arbeiter und Arbeitslose beschränkte (Hartz-Reformen), gerieten nun erstmals Teile des akademischen Milieus ins Fadenkreuz staatlicher Gängelung. Weil das bisher kaum disziplinierte Subjekt des sozialökologischen Milieus sich dem Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung sowie dem Widerstand gegen gesellschaftliche und staatliche Bevormundung in besonderem Maße verpflichtet habe, geriet nun seine Weltanschauung ins Wanken.

Auf sozialpsychologischer Ebene ist das Resultat eine Kränkung, die zum Keim allerhand unschöner affektiver Regressionen wurden. Hier kommt mit Adornos Konzept des autoritären Charakters die wesentliche theoretische Stütze des Buches zum Tragen. Adorno ging in seinem US-amerikanischen Exil der Frage nach, inwiefern dem Faschismus ein spezieller Charaktertyp zugrunde liegt und fand diesen im autoritären Charakter. Amlinger und Nachtwey erkannten in den von ihnen geführten Interviews nun einige wesentliche Charakteristika des autoritätern Charakters wieder (Binäres Denken, Aggressivität, Antiintrazeption, also Abwehr des Sensiblen, Projektivität, Schicksalsgläubigkeit, Aberglaube und Strafsucht); Gleichzeitig aber kamen andere Charakteristika (Unterwürfigkeit und Konventionalismus etwa) kaum in den Interviewpassagen zum Vorschein.

Die Basler Soziologen nahmen diese Unstimmigkeiten als Anlass, Adornos Konzept der autoritären Persönlichkeit einer Aktualisierung zu unterziehen. Das »Autoritäre Syndrom«, so das zentrale Argument des Buches, habe mit dem Übergang der Moderne in die »Spätmoderne« eine Metamorphose durchlaufen. An die Stelle der autoritären Unterwürfigkeit tritt nun ein obsessiver Widerstand gegen die falschen Autoritäten im Namen einer wahren Autorität, der individuellen Freiheit. Dieser militante Widerstand gegen die falschen Autoritäten sei demnach autoritär, insofern er ein Arsenal negativer Affekte gegen Minderheiten, von deren Anliegen man sich gegängelt fühlt, hervorruft, Schwächeren daher die Solidarität verweigert und dem politischen Kontrahenten illegitime Interessen und dunkle Machenschaften unterstellt. Die Verwirklichung des, wie die Autoren darlegen, libertären Freiheitsideals obliege dabei allerdings nicht mehr klassischen Autoritäten, etwa einer Führerfigur, sondern dem Individuum selbst. Im libertären Autoritarismus begegnet uns somit die Apotheose des spätmodernen Individuums, gekennzeichnet durch ein unbedingtes Autonomiestreben gepaart mit einem radikalen Freiheitsverständnis.

II. Das autoritär-libertäre Syndrom

Das autoritär-libertäre Syndrom, das die Autoren als strukturelle Pathologie und nicht als Individualpathologie verstanden wissen wollen, manifestiert sich den Autoren zufolge in den Interviews als anti-autoritärer Trotz im Namen der Freiheit.

»Die von uns untersuchten Personen lehnen sich trotzig gegen soziale Konventionen auf, sind beseelt von dem anarchischen Impuls, ihre Anliegen gegen alle äußeren Widerstände durchzusetzen. Dabei entwickeln sie bisweilen eine unermüdliche destruktive Aktivität, die als heroischer Mut, zu sich selbst zu stehen, gewendet wird.«

Weshalb wird nun aber ausgerechnet jene Bevölkerungsgruppe als autoritär interpretiert, die nicht nur – selbst nach Auffassung der Autoren – wesentliche »Symptome« des klassischen autoritären Charakters vermissen lässt, zudem zum Großteil anti-autoritär sozialisiert ist, sich zudem auch noch durch einen »anarchischen Impuls« kennzeichnet und sich ferner durch ihre Rebellion gegen die Autoritäten der deutschen Wissensgesellschaft politisch überhaupt erst konstituiert?

Die Antwort:

»Aus unserer Sicht ist es zum einen die feindselige Abwertung all jener, die das individuelle Freiheitsrecht in ihren Augen missachten. Doch nicht nur diese aggressive Abwehr anderer Positionen macht ihren autoritären Charakter aus. Sie richten sich zudem grollend gegen übergeordnete Instanzen und projizieren ihren Zorn auf unterlegene Gruppen (Frauen, Transgender, Migrant:innen, Jüd:innen etc.). Libertär-autoritär sind sie demzufolge, weil sie sich an keine sozial verpflichtenden Normen mehr gebunden sehen, verinnerlichte Rücksichtnahmen abgestreift haben und obsessiv auf eine äußere Gefahr fokussiert sind.«

Der Begriff »autoritär« wird hier von den Füßen auf den Kopf gestellt. Laut dem Duden kennzeichnet das Adjektiv »autoritär« im herkömmlichen Sprachgebrauch entweder, wenn es um politische Systeme geht, einen Hang zum Totalitären, Diktatorischen, oder, wenn es um individuelle Charaktereigenschaften geht, die Forderung nach unbedingten Gehorsam. Letztere Bedeutung lag der Studie von Adorno und Co. zu Grunde. Autorität hatten damals Vater, Nationalstaat und Kirche inne, die im Fordismus zentrale Institutionen der Gesellschaft darstellten.

Hier wird das herkömmliche Verständnis nun durch ein Therapeutisches, Psychosoziales ersetzt wird, wodurch der Blick der Soziologen (!) auf soziale Verhältnisse verstellt wird zugunsten eines Blickes in die individuelle Gefühlswelt. Autoritär ist nun nicht mehr wer Autorität innehat und sie einsetzt, um sich die Welt gefügig zu machen und Widerstand zu brechen. »Autoritär« dient nun vielmehr als Ausweis negativer Affekte – in den Worten der Autoren: Ressentiments, Trotz und Groll – und scheinbar rücksichtslosem und asozialem Verhalten, welches sich nicht nur gegen die Autoritäten, sondern zudem gegen machtlose Minderheiten richte.

Bedauerlicherweise bleiben die Autoren hier Nachweise darüber schuldig, dass die Querdenker sich tatsächlich durch ein derartiges Arsenal negativer Affekte, insbesondere gegenüber Minderheiten, auszeichneten. Die zitierten Interviewpassagen lassen jedenfalls Anzeichen des autoritären Syndroms nach Adorno wie etwa Kraftmeierei, Destruktivität oder autoritäre Aggressionen gegenüber Andersdenkenden vermissen. Wie Georg Simmerl in seiner Rezension des Buches anmerkte, wird in den Interviews ganz im Gegenteil sogar beklagt, dass man wegen seiner Meinung zur Pandemie beschimpft worden sei.

Wenn es nach den Autoren geht, charakterisiert den autoritären Libertären neben seinen scheinbar autoritären Zügen vor allem sein radikaler Freiheitsbegriff. Dieser, so beteuern die Autoren, die sich große Mühe geben, keinen Verdacht aufkommen zu lassen, bei ihrem Buch handle es sich lediglich um eine Anklage ungezügelten Egoismus in Zeiten einer nationale Notlage, unterscheide schließlich den autoritären Libertären vom profanen Egoisten, lasse ihn seine eigene Abhängigkeit von der Gesellschaft und ihren Institutionen vergessen und erzeuge er das enorme Kränkungspotenzial, das die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie entfalteten:

»Aus unserer Sicht liegt der problematische Aspekt spätmoderner Individualisierung nicht in einem profanen Egoismus, sondern in einem individuellen Verdrängen der Abhängigkeit von gesellschaftlichen Institutionen. Es ist eine verdinglichte Freiheit, die radikalisierte Ansprüche in Bezug auf individuelle Freiheitsräume hervorruft.«

Diese verdinglichte Freiheit sorge dafür, dass ihr Träger »gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen.« Den libertären Autoritären erscheine daher »das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung« hemme.

Doch dass solch ein radikaler Freiheitsbegriff tatsächlich in den Köpfen der Protest-Teilnehmer vorherrscht, ist keineswegs ausgemacht. Denn leider lassen die Autoren auch hier systematische Belege darüber vermissen, dass den Interviewten ein solches libertäres Freiheitsverständnis über den vorliegenden Fall pandemischer Freiheitsbeschränkungen zu eigen ist. Die Sinnhaftigkeit der in der Öffentlichkeit oft bemühten Helm- oder Gurtpflicht wird zumindest genauso wenig in Zweifel gezogen wie staatliche Regulierung per se. Insofern die Interviewten darüber hinaus selbst explizit angaben, im Interesse ihrer Angehörigen wie Ältere, insbesondere ihrer Kinder, zu demonstrieren, ist es ebenso verwunderlich, dass ihnen die Autoren eine Verdrängung abstrakter Abhängigkeitsverhältnisse unterstellen und die Proteste dahingehend als »Geste demonstrativer Beziehungslosigkeit« deuten.

Dass sich nicht nur ganz elementare Bestandteile des modernen autoritären Syndroms bei den Interviewten bestenfalls rudimentär, schlechtestenfalls gar nicht identifizieren lassen und dass diese darüber hinaus kaum als Exponate autoritärer oder libertärer Charakterzüge taugen, bedeutet jedoch nicht zwingend, dass die von Amlinger und Nachtwey in Anschlag gebrachten Konzepte gänzlich wertlos sind.

Ein etwas unvoreingenommenerer Blick hätte z.B. zu Tage führen können, dass sich Binäres Denken nicht nur auf Seiten der Querdenker finden lässt, sondern insbesondere auf Seiten derer, die schamlos in der Öffentlichkeit von einer Tyrannei der Ungeimpften sprachen und damit den Eindruck zu erwecken versuchten, ein Land befinde sich in Geiselhaft von Menschen, die ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit geltend machten. Ebensogut ließe sich jenen Menschen, die Bedenken darüber, dass Maßnahmen wie etwa ein Lockdown des gesellschaftlichen Lebens oder Schulschließungen gewaltige emotionale Kollateralschäden nach sich ziehen würden, einfach als unberechtigt abtaten, eine anti-intrazeptive Ader attestieren.

Eine Art szientistischer Aberglauben ließe sich darin erkennen, dass Maßnahmen, deren Sinnlosigkeit sich bereits dem gesunden Menschenverstand auch noch wissenschaftliche Studien offenbarte – z.B. das Tragen von Masken beim Restaurantbesuch bis zur Ankunft am Tisch, Maskenpflicht unter freiem Himmel, der frivole Gebrauch von Plexiglas im Einzelhandel oder auf dem Boden geklebte Gehwegmarkierungen (vorzugsweise mit Einbahnstraßensystem) in Fitnessstudios –, nichtsdestotrotz oft strikt befolgt wurden. Und auch eine gewisse Portion allgemeine Feindseligkeit mag sich darin widerspiegeln, dass im pandemischen Ausnahmezustand unter dem Stichwort der asymptomatischen Infektion ein Generalverdacht kultiviert wurde, der Menschen gänzlich auf ihre epidemiologische Funktion als potenzielle Virenschleuder reduzierte und alle Facetten des menschlichen Lebens diesem Aspekt unterstellte.

Insbesondere in puncto »Abhängigkeitsleugnung« lässt sich der Schuh umdrehen. Denn angesichts des rauen Umgangs mit den renitenten Impf-, Masken- und damit Solidaritätsverweigerern in der Öffentlichkeit drängt sich nahezu der Verdacht auf, dass gerade das Lager der Maßnahmenbefürworter so seine Probleme mit der ernüchternden Erkenntnis hatte, dass diejenigen, auf deren Unterstützung man im nationalen Kampf gegen das Virus angewiesen war, sich den entscheidenden Maßnahmen wie Masken- oder Abstandspflicht sowie der Impfung (deren epidemiologischer Nutzen wohlgemerkt davon abhing, wie gewissenhaft und flächendeckend sie befolgt werden) oft einfach verwehrten.

Unvergessen in diesem Zusammenhang ist etwa Sarah Bosettis trotziger Vergleich Ungeimpfter mit einem Blinddarm, der für das Überleben des Gesamtkomplexes »Gesellschaft« nicht essentiell sei. Für ebenso unwürdig der politischen Berücksichtigung erachtete Ungeimpfte der preisgekrönte Blog »Volksverpetzer«, der öffentlich verlautbarte, die Zeit der Rücksichtnahme sei offiziell vorbei. In solcherlei Strafsucht, die sich aus der Frustration und dem Zorn über jene nährt, die sich als eigenständige Wesen und nicht lediglich Ausführungsorgane des eigenen Willens entpuppten, indem sie von ihrem Recht der freien Wahl gebraucht machten, ließe sich mit den Autoren als Leugnung sozialer Abhängigkeit interpretieren, die in autoritärer Aggression mündet.

III. Kritische Theorie als Mittel sozialer Disziplinierung

Angesichts der überwiegend wohlwollenden Rezeption des Buches scheint die Interpretation der Corona-Proteste als »Freiheitskonflikt« offenbar einen Nerv getroffen zu haben. Ronald Düker etwa titelt für das Philosophie-Magazin »Meine Freiheit: ja! Deine Freiheit? nein!« und empört sich über die Rücksichtslosigkeit der Querdenker: »Empathische Impulse verblassen; das Gemeinwohl scheint den Erzürnten unwiederbringlich aus dem Blickfeld entschwunden.« Auch Staatsdenker Herfried Münkler befindet das Werk von Amlinger und Nachtwey für gut und auch Anne-Kathrin Weber reiht sich für den DLF nahtlos in das Orchester moralischer Entrüstung. Sie moniert in ihrer Rezension »Das Ich regiert auf Kosten der Gemeinschaft« einen »Freiheitsfetisch« auf Kosten der Solidarität. »Querdenken als Ego-Trip« titelt Ronald Pohl für den Standard und erklärt dem Leser, wie der eklatante Mangel an Solidarität und Rücksichtnahme auf Seiten der Querdenker zu erklären ist:

»Anstatt endlich tun und lassen zu können, was man will, wird einem das Lustprinzip von den Instanzen der Gesellschaft auch noch vergällt: und zwar zum vermeintlich eigenen Besten. Doch die Idee, frei zu sein von gesellschaftlichen Zwängen, schädigt nun ausgerechnet das Miteinander. Die Teilnehmer der spätmodernen Gesellschaften müssen sich, um in den Augen anderer etwas zu gelten, unausgesetzt "singularisieren". Prompt "verdinglicht" sich ihre Vorstellung von Freiheit. Sie verlernen Rücksichtnahme und Solidarität.«

Als Interpretationsmuster, das es ermöglicht, scheinbar disparate Phänomene wie die Ablehnung staatlicher Maßnahmen gegen die Pandemie, von gendersensibler Sprache oder auch die Überzeugung, es gebe in Deutschland eine Art »Cancel Culture«, die das Recht auf Redefreiheit im öffentlichen Raum einschränke, miteinander in Verbindung zu bringen und sie als Manifestation eines problematischen Freiheitsbegriffs zu werten, erfreut sie sich insbesondere in der Linken großer Beliebtheit. In einem Interview mit Zeit Online vom Dezember 2020 erzürnt sich etwa die kritische Theoretikerin Eva von Redecker über solche Leute, denen das richtige falsche Verständnis von Freiheit abhanden gekommen sei:

Ich beobachte entsetzt, wie stark sich derzeit in verschiedenen Gruppen der Freiheitsbegriff verkettet mit einem Recht, zu zerstören und Leben zu gefährden. Man spürt offenbar seine Freiheit nur, wenn man sie wüst verwenden kann: Die Meinungsfreiheit ist erst zu spüren, indem man andere verletzen darf, die Konsumfreiheit, indem man in Benzinschleudern fahren kann, und die öffentliche Bewegungsfreiheit, indem man anderen ins Gesicht husten darf.

Diese Art von Freiheit, so Redecker, gebärde sich als »gefährliche Rücksichtslosigkeit, wenn wir die Schranke, die die anderen für uns sind, einfach durchbrechen« wollten. Ursprung dieses Übels sei demnach ein konzeptioneller Fehler: »In meinen Augen beruht diese Haltung darauf, dass wir den modernen Bürger nach dem Modell des Eigentümers konzipiert haben, der in seiner eigenen Domäne nach Belieben schalten und walten kann.«

Derlei Wortmeldungen in der öffentlichen Debatte stehen paradigmatisch für einen historischen Trend im Überbau der deutschen Klassengesellschaft weg vom »Neoliberalismus« der 00er Jahre. Spätestens mit den Revolten der Verlierern kapitalistischer Modernisierung, die in den USA zum Wahlerfolg Trumps, in Großbritannien zum Brexit und hierzulande zum Erstarken der AfD führten, entwickelte sich im Kultur- und Politikbetrieb ein umfassendes Bewusstsein für die Übel und sozialen Kollateralschäden der letzten Jahrzehnte »Neoliberalismus«. Waren die 00er Jahre noch geprägt von der neoliberalen Trias aus Freiheit, Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft, dann fielen sie nun der Obsoleszenz zum Opfer.

Das gilt hüben wie drüben im politischen Spektrum: In einem Gastbeitrag für die FAZ 2021 plädierte etwa der damalige Kanzlerkandidat und eifrige Unterstützer der Hartz-IV Reformen, Olaf Scholz, mit Rekurs auf den US-Philosophen und bekennenden Kommunitaristen Sandel für eine »Gesellschaft des Respekts« , in welcher »fragmentierte ‘Identitäten’ nicht an die Stelle eines Wir der Vielfältigkeit treten«. Mit ihrer »Respekt-Kampagne«, in der sie sich für mehr Anerkennung körperlicher Arbeit einsetzte, konnte die SPD schließlich dem historischen Abwärtstrend (vorerst) einen Riegel vorsetzen.

Zur gleichen Zeit landete am linken Ende des politischen Spektrums Sahra Wagenknecht mit ihrem Buch »Die Selbstgerechten«, mit dem sie bereits im Buchtitel für mehr Gemeinsinn wirbt, einen Bestseller und warnt darin davor, dass die Anliegen kleinerer Minderheiten im Zuge des progressiven Neoliberalismus immer mehr an Gewicht zunahmen, während große Teile der Arbeiterklasse schutzlos dem sozialen Abstieg und kultureller Erniedrigung ausgeliefert sind. Auf der anderen Seite des bürgerlichen Parlaments sieht auch Björn Höcke von derselben AfD, die noch 2016 als wirtschaftsliberale Akademikerpartei ins Leben gerufen wurde, die neoliberale Globalisierung in der Sackgasse und ließ bereits 2020 verlauten: »Wir wollen keinen kalten Kapitalismus. Wir wollen eine ökologische, eine soziale, wir wollen eine menschliche Marktwirtschaft.«

Spätestens mit der Pandemie kam dieser allgemeine neo-kommunitaristische Zeitgeist in voller Pracht zur Geltung. Öffentliche Slogans wie »Gemeinsam gegen Corona« versuchten in der Stunde den Not die Solidargemeinschaft von den Toten wiederauferstehen zu lassen, um den Eindruck eines gemeinsamen Kampfes gegen die Pandemie zu wecken. Der Philosoph Philipp Hübl etwa beschwor die »Rückkehr des Gemeinwohls« und stellte den Leser explizit vor die Wahl: Hyperindividualismus oder Kollektivismus?

Eine Wahl, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen sollte. Denn der propagierte Kollektivismus erwies sich bei genauerem Blick als Pseudo-Kollektivismus, als derselbe Individualismus vergangener Tage, wonach sich das Individuum auf Abruf zu maskieren, distanzieren, impfen und isolieren habe. Die Öffentlichkeit mag sich an den Bürger als soziales Wesen und Bestandteil einer Solidargemeinschaft gewendet haben, doch nur, damit er sich Illusionen über sein eigenes Handeln macht, um sicher zu gehen, dass er sein hyperindividualistisches Konsumentendasein in weitgehender sozialer Abstinenz zu fristen bereit ist.

Gerade weil sich die Dynamik der Pandemie als weitestgehend unabhängig von menschlichen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung erwies, wurde das Handeln machtloser Individuen zum moralischen Lackmustest erhoben, welches es öffentlich wie privat zu urteilen war. Diese Form des divide et impera verwandelte die Öffentlichkeit in ein zutiefst antagonistisches Feld und brachte Menschen gegeneinander auf, die eigentlich ein gemeinsames Interesse an ihren Freiheitsrechten und einem intakten Gesundheitssystem haben sollten. Im Windschatten einer Öffentlichkeit, die sich obsessiv mit Schuldfragen wie der Pandemie oder Tyrannei der Ungeimpften beschäftigte, konnten diejenigen politischen Kräfte, die die Verantwortung für den bemitleidenswerten Zustand des deutschen Gesundheitssystems trugen, sich tatkräftig als nationale Fürsorger inszenieren und einen neuen Klassenkompromiss durchsetzen.

Von nun an war es nicht nur ausgemacht, dass das Gesundheitssystem, das seit 2015 unter der Last der Grippesaison wiederholt zusammenzubrechen drohte, im Gegensatz zu den Banken während der Finanzkrise nicht gerettet werden und auch an dessen Kapazitäten bestenfalls wenig ändern würde; vielmehr stand nun fest, dass stattdessen die Öffentlichkeit die Zeche zu zahlen habe in Form von Lebensqualität und im Namen der Solidarität. Die Autoren mögen das gewiss anders sehen, doch wenn sie die solidarischen Pandemiemaßnahmen als »normativen Fortschritt« darstellen, dann unterscheiden sie sich darin nur marginal von jenen bürgerlichen Ökonomen, welche die Hartz-Reformen legitimierten, indem sie sie als ökonomischen Erfolg anpriesen.

Wenn Amlinger und Nachtwey also durchaus korrekt über die Agenda 2010 anmerken, dass eine »neu aufgelegte Semantik« der Eigenverantwortung die Stichworte zur Legitimierung dieses Klassenkompromisses lieferte und Eigenverantwortung hierbei als »Vokabel der sozialen Disziplinierung« diente, dann muss dem zwingend hinzugefügt werden, dass diese Semantik nun obsolet geworden ist. Gemeinwohl, Vulnerabilität und Solidarität sind nun die Schlagwörter »sozialer Disziplinierung«, mittels derer sich der Öffentlichkeit neue Zumutungen aufbürden lassen. Und wenn im Jahr 2023 Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sich auf einer Veranstaltung in Heidelberg als guter Schüler der kritischen Theorie erweist und ein »pervertiertes Freiheitsnarrativ« für das Erstarken der AfD verantwortlich macht, wonach man mit dem falschen Freiheitsbegriff in eine fast asoziale Freiheitsposition zu rutschen droht, dann erweist sich die kritische Theorie als Instrument sozialer Disziplinierung und ihre kritischen Vertreter als verlässliche Souffleusen des Bürgertums.

Die ursprüngliche, erweiterte Version dieses Textes wurde auf Substack unter folgendem Link veröffentlicht.

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