Die Tagebücher der Ruth Maier

Wien-Oslo. Neue Erkenntnisse, Hintergründe und bekannte Gräuel hinsichtlich der Deportation und Ermordung der jungen, angehenden Schriftstellerin Ruth Maier im NS-Vernichtungslager Auschwitz

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Ruth Maier (* 10. Nov. 1920 in Wien; † 1. Dez. 1942 im Vernichtungslager Auschwitz) war eine österreichische jüdische Schriftstellerin. In Wien geboren, flüchtete sie, nach dem im März 1938 erfolgten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, im Januar 1939 zu Bekannten der Familie nach Lillestrøm, einer Kleinstadt nahe Oslo.

Als Norwegen 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde und Ruth Maiers Visum für England abgelaufen war, jedoch nicht erneuert wurde, blieb sie in Norwegen. Sie wurde aus dem Mädcheninternat in Oslo, in dem sie im Herbst 1942 vorübergehend lebte, verhaftet und mit weiteren 528 Menschen jüdischer Herkunft, vom Osloer Hafen, an Bord eines Schiffes namens "Donau" deportiert.

Diabolische Deportation

Nicht genug damit, dass das NS-Deportationsschiff ausgerechnet "Donau" hieß; die Diabolik muss aus Sicht der aus Wien stammenden angehenden Schriftstellerin geradezu grenzenlos gewirkt haben, als sie erfuhr, dass der "Transportführer" der Deportation ein SS-Untersturmführer namens "Grossman" war, der (zufällig) den Mädchennamen ihrer Mutter Irma Grossmann trug, ebenso wie den Ihres Onkels Oskar Grossmann, eines führenden antifaschistischen Widerstandskämpfers und KPÖ-Funktionärs. Am 26. November 1942 begann die sechstätige Deportation von Oslo in das NS-Vernichtungslager Auschwitz, wo sie unmittelbar nach der Ankunft am Abend des 01. Dezember ermordet wurde.

Ruth Maier wurde vor allem durch die Veröffentlichung ihrer Tagebücher bekannt, weshalb sie auch "Anne Frank Norwegens" genannt wird. Ihre erst 2007 veröffentlichten Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum von 1933 bis 1942. "Til en som var", "An eine, die war", lautete der Titel eines Gedichtes, das die norwegische Lyrikerin Gunvor Hofmo (1921-1995), Gefährtin und Vertraute von Ruth Maier, für diese verfasst hatte.

Literarische Prägung: Ludwig Maier, Vater, Philologe und Gewerkschafter

Das Elternhaus von Ruth Maier kann – im Sinne der literarisch-wissenschaftlichen Vorbildwirkung – hinsichtlich der Faszination für Literatur und Schreiben, für die heranwachsende Ruth als animierend beschrieben werden.

Ihr Vater, Ludwig Maier, geb. am 03. Aug. 1882 in Zaroschitz (Žarošice), ehem. Mähren, im heutigen tschechisch-österreichischen Grenzgebiet nahe Brünn, war seit 1899 in Diensten der k.k. Post der Habsburger und für diese u.a. auch in der Türkei tätig.

Die Recherchen der Historiker von Memory Gaps konnten den derzeitigen Erkenntnisstand, gemäß welchem Ludwig Maier angeblich Jurist gewesen sei, widerlegen: Maier hatte ein Doktorat der Philosophie an der Universität Wien erworben. Er studierte Romanische Philologie und seine Liebe zur (damals) zeitgenössischen französischen Literatur ist demgemäß auch an seinem Dissertationsthema ablesbar. Der Titel seiner zwischen August 1911 und Dezember 1913 – in Handschrift verfassten – Dissertation lautet: "Paul Bourget als Vertreter des französischen analytischen Romans".

Ludwig Maier, der nicht nur Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Tschechisch und Griechisch, sondern auch Türkisch sprach, nebst Latein- und Altgriechisch-Kenntnissen, wurde am 06.07.1914, nur drei Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, an der Universität Wien zum Dr. phil. promoviert.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zählte er 1919 zu den Gründern der österreichischen Postgewerkschaft und war darüber hinaus während der 1920er Jahre, u.a. auch aufgrund seiner ausgezeichneten Fremdsprachenkenntnisse, in der internationalen Gewerkschaftsbewegung tätig. 1921 trug er maßgeblich zur Gründung der "Internationale der Post- Telegraphen- und Telephonbediensteten", eines internationalen gewerkschaftlichen Dachverbandes bei, der für die Aktivitäten europäischer und US-amerikanischer Gewerkschaften koordinative Funktionen übernahm. Als Generalsekretär der gewerkschaftlichen Post-Internationale nahm er an zahlreichen Tagungen, u.a. in Frankreich und den USA teil.

Ludwig Maier starb Ende 1933, im Alter von 52 Jahren. Kurz vor seinem Tod musste er noch miterleben, wie das autoritäre Regime des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß begann, seine illiberalen Maßnahmen und Restriktionen gegen Oppositionelle auszuweiten. Nur zwei Monate nach dem Tod Maiers wurde, am 12. Februar 1934, u.a. die Sozialdemokratische Partei Österreichs verboten.

Ausgewählte Tagebucheinträge

Das erhebliche väterliche Sprachtalent gepaart mit großem politischem und hohem literarischem Interesse scheint auf seine Tochter Ruth übergegangen zu sein. Nicht nur ihr bemerkenswertes Schreibtalent, auch die Tatsache, dass sie nach ihrer Flucht rasch norwegisch lernte, in Norwegen die Schule besuchte und – wie ihrem letzten Tagebuch aus 1941/42 zu entnehmen ist – bereits in gutem Norwegisch schrieb, zeugen davon.

In den letzten zehn Jahren ihres jungen, viel zu kurzen Lebens führte Ruth Maier überaus regelmäßig Tagebuch. Der inhaltliche Bogen spannt von ihrem sozial engagierten, intellektuellen und mit einigen bürgerlichen Akzenten versehenen sozialdemokratischen Elternhaus bis zu den erschütternden Erfahrungen mit dem immer stärker werdenden Nationalsozialismus. Die Flucht nach Norwegen, der Weltkrieg und die Einsamkeit in Norwegen zählten zu den lebensbestimmenden Einflussfaktoren für die junge, angehende Schriftstellerin.

"Die Juden wurden von ihrer bis dahin, wenn auch nicht gleichberechtigten, so doch menschenmöglichen Stellung zu Unmenschen, Schweinen etc. degradiert. [...] Im Radio spielen sie Schlager. Es ist eine drollige, eine grauenhafte Welt." (Tagebucheintrag vom 27.09.1938)

"Sie zerstören die Tempel. Sie reißen den alten Juden an den Bärten, sie hauen die Frauen. Sie schlagen die Fenster ein. [...] Drinnen in den kleinen Gassen." (Tagebucheintrag vom 16.10.1938)

"Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind, weiß, was Menschen tun können, Menschen, die Ebenbilder Gottes […], Juden wie Schlachtvieh im Lastauto … Leute starren." (Tagebucheintrag vom 11.11.1938, dem Tag nach ihrem 18. Geburtstag)

Ruth Maier Park in Wien

Bereits seit 2016 setzt sich Memory Gaps in Wien für eine Straßenbenennung nach Ruth Maier ein. Wo ist die Straße in Wien, die nach Ruth Maier benannt ist? Sie hatte in dieser Stadt doch ursprünglich eine Zukunft, die sie mitgestalten und nicht nur "ableben" wollte. Nicht nur wie eine "Schraube von einer Maschine abfallen", wie sie es formulierte. Dass sie einst auf schrecklichste Weise deportiert werden würde, um in einem Konzentrationslager ermordet zu werden, hätte sie für ihr Leben kategorisch ausgeschlossen. Dennoch war das ihr Schicksal. Bis zum heutigen Tag existiert in Wien keine Straße, die ihren Namen trägt.

Seit 2016 erinnerte Memory Gaps beständig an dieses kulturelle Versäumnis der Stadt Wien. Zahlreiche Privatpersonen und mehrere Institutionen schlossen sich den Forderungen an; dank einer im Gemeinderat vertretenen politischen Partei gelang es, die entsprechenden Anträge einzubringen. Am 06. April 2021 benannte die Stadt Wien eine Grünfläche im Zweiten Wiener Gemeindebezirk nach Ruth Maier.

Dominik Schmidt und Konstanze Sailer

Zur Intervention von Memory Gaps: "An eine, die war" … Ruth Maier

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Memory Gaps

"Memory Gaps ::: Erinnerungslücken", die digitale Kunstinitiative, wurde von der Malerin Konstanze Sailer 2015 gegründet.

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