(140) Zur Frage der Revolution

Revolution Eine Neugründung der Gesellschaft ist notwendig. Der Revolutionsbegriff wirft aber schwerste Probleme auf

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Der heutige Eintrag beschließt das Kapitel, in dem ich mich mit Jörg-Michael Vogl, der wie ich selbst eine ökonomisch auf „Marktwahlen“ (Proportionswahlen) basierende Gesellschaft anstrebt, anhand seiner Veröffentlichungen in der Kommune gleichsam unterhalte. Es geht heute um die drei letzten Texte von ihm, die dort noch erschienen sind vor der Einstellung der Zeitschrift Ende 2012: Kapitalistische Konstellationen. Möglichkeiten einer Neugründung der Gesellschaft, in Kommune 2/2011, S. 64 ff., Kapitalismus als Utopie oder: Der Kaiser ist nackt, in Kommune 1/2012, S. 57 ff. und Die „andere Gesellschaft“. Eine mögliche Geschichte, in Kommune 5/2012, S. 59 ff. Ein gemeinsames Thema der Texte ist der Revolutionsbegriff, und ihn allein will ich hier noch erörtern. Ich empfehle aber die Lektüre der Texte im Ganzen.

Vogl lehnt den Revolutionsbegriff im erstgenannten Aufsatz noch vehement ab, akzeptiert ihn aber im letzten unter Auflagen. Ich zitiere zunächst, wie er ihn sich dort zu eigen macht:

„Das ‚Ereignis 1968‘ (Alain Badiou) kann sich wiederholen. Also ‚Revolution‘ ...?! Dieser Begriff ist allerdings ganz besonders aufgeladen mit Bedeutungen, die im Nachdenken mitschwingen und es verunklaren, sodass sich zunächst empfiehlt, das Problem so genau wie möglich und so neutral wie möglich zu formulieren: Wie kann man eine in allen Gesellschaftsbereichen zutiefst verwurzelte, in den Einzelnen habitualisierte Struktur des Wirtschaftens, die zudem weltweit verbreitet ist, zum Teil freiwillig als orientierendes Vorbild übernommen wurde, zum Teil mit allen Formen ökonomischer, politischer und militärischer Macht durchgesetzt, wie kann man ein solches globales System ablösen durch ein anderes? Klar ist, dass die Beantwortung der Frage wesentlich davon abhängt, wie dieses System analysiert wird und entsprechend, wie man sein Gegenbild versteht.“

„Wie kann aber aus einer Gesellschaft heraus, die alles umfasst, sie selbst grundlegend infrage gestellt werden? Mit dieser Frage wird – auch das muss man sich klar machen – an eine traditionsreiche wissenschaftlich-politische Diskussion angeknüpft: Hegels Idee, in der Geschichte selbst ein Gesetz zu erkennen, das bei Marx fleischgewordene Akteure durchsetzen [...]. Eine Lösungsmöglichkeit, die bei der Anrufung der ‚Revolution‘ mitschwingt, verbietet sich [...]: Konzepte, die die Lösung den Prozessen überlassen wollen, die von »revolutionären Subjekten« getragen werden, führen zu nichts.“ Aber trotz des „Geflechtes der Macht, das sich an der Perspektive der unendlichen Marktmaschine orientiert, liegt die Entstehung einer anderen Gesellschaft nahe [...]. Noch schärfer: Die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft ist objektiv jetzt gegeben – weil die Möglichkeit, dass sich menschliches Dasein im normalen kapitalistischen Prozess global selbst vernichtet, offensichtlich geworden ist.“

Es wird deutlich, weshalb Vogl dem Begriff zunächst misstraute: Er ist „aufgeladen mit Bedeutungen“, darunter derjenigen der historischen Gesetzmäßigkeit, deren Zurückweisung dem Autor, wie wir schon wissen, aus gutem Grund ein Hauptanliegen ist. So ging es in der vorigen Notiz darum, dass die traditionelle Vorstellung vom revolutionären Subjekt eine gesetzliche ist, es aber nicht bleiben muss, wenn wir heute auf sie rekurrieren. Ich brauche nur fortzufahren, um den nächsten Schritt zu tun: Auch das Zugrundeliegende, die Revolution, wurde gesetzlich gedacht. Es mag damit zusammenhängen, dass der Begriff, neuzeitlich verwendet, zuerst in der Astronomie aufkam, 1543 in Kopernikus‘ berühmtem Werk De revolutionibus orbium coelestium, zu Deutsch „Die Umläufe der Himmelskörper“.

Wörtlich wäre revolutio das Zurückwälzen, daraus ist bei Kopernikus der Umlauf als Umdrehung geworden, wobei der Akzent auf dem zweiten Wortteil liegt: Um d r e h u n g , die in der Tat einem Naturgesetz folgt. Wenn im späteren politischen Gebrauch vielmehr die erste Silbe betont wird: U m drehung, liegt die Gesetzesvorstellung immer noch nahe. So bei Kant, der die Verhältnisse auf den Kopf gestellt sieht (die nachrevolutionäre Gesellschaft beansprucht vernunftgeleitet zu sein), und auch bei Marx, der das wiederum nur umdreht, indem er „vom Kopf auf die Füße“ stellt (Das Sein bestimmt das Bewusstsein). Es steht immer eine Z u r ü c k wälzung vor Augen, hin zum allein Legitimen, als wäre dieses der Ursprung und als wäre der Ursprung das Axiom - das ist das Gesetzliche daran. Deshalb schreibt Vogl im erstgenannten Aufsatz:

„Unendliche Kapitalproduktion wird erst seit der Neuzeit, seit der Verallgemeinerung der linearen Zeit und der Entstehung des Konzepts der Aufeinanderfolge von Revolutionen im Gesetz der Geschichte überhaupt denkbar und realisierbar. [...] Die Suche nach einer erneuerten ‚Revolution‘ oder anderen Lösungen im Stile ‚Großer Politik‘ geht jedoch ins Leere.“

Und das ist damals sein Alternativkonzept:

„Wenn das Neue nicht als ‚Revolution‘ vorherrschend werden kann, dann doch als Kette von Versuchen, die alten Fragen zu sortieren, manche neu zu stellen und so neue Sichtweisen zu finden. Damit ist mehr gemeint als nur Reden oder Verändern von Denkweisen (das Politische). Notwendig sind Institutionalisierungen, die die neuen Fragen stützen (die Politik). Offensichtlich ist dies eine Utopie, aber keine, die über eine ‚Revolution‘, eine Umkehrung, verwirklicht werden könnte. Nicht die ‚Vernunft der Geschichte‘ kann dies legitimieren, sondern nur die Entscheidung, sich auf das Kernproblem der Ökologie, die Möglichkeit der menschlichen Selbstvernichtung, einzulassen. In ihr wird der Vorrang des Politischen vor dem Wirtschaftlichen demokratisiert. Dies ist also in keiner Weise ein Prozess, der in sich selbstverständlich wäre oder ‚natürlicherweise‘ sich auf bestimmte soziale Gruppen stützen könnte. Genau deswegen sind Widerstände normal, gegen die sich nur die Macht demokratischer Entscheidungen entfalten kann. In der Frage der Ökologie steckt jedoch die Möglichkeit einer Neugründung unserer Gesellschaft.“

Als ich das jetzt wieder las, dachte ich gleich, eine „Neugründung“ ist aber doch eine „Revolution“. Diese Bedeutung steckt a u c h in dem Wort. Vogl ist zuletzt zum selben Schluss gekommen. Aber es ist nicht nur eine Frage der Terminologie. Hinter Vogls Zögern, den Revolutionsbegriff zu akzeptieren, stehen veritable Probleme, denen ich jetzt nachgehen will, wie er es schon getan hat.

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1. Neugründung statt Revolution zu sagen, darauf könnte man sich schnell einigen. Die eigentlich strittige Frage ist aber, ob man sich vorstellt, die Gesellschaft sei im Ganzen ereignishaft neuzugründen, wie 1789 in Frankreich und 1917 in Russland, oder es sei inzwischen als richtig erkannt, was Vogl, wir sind immer noch beim erstgenannten Aufsatz, von Oliver Marchart zitiert (Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010): Letzte Grundlegungen seien unmöglich, ein Konzept partieller Gründungsversuche müsse vielmehr erarbeitet werden und also habe „minimale Politik“ an die Stelle „großer Politik“ zu treten. Übrigens zitiert auch Axel Honneth in seinem neuen Buch das Konzept von Marchart und geht in keiner Weise darüber hinaus (Die Idee des Sozialismus, Berlin 2015). In Marcharts Gegenüberstellung ist Revolution das Gegenteil von Reformismus. Als dieses Gegenteil muss es aber gar nicht mit dem Anspruch einer „letzten“ Grundlegung aufgeladen sein, auch wenn Marchart das so sehen mag. Im Übrigen ist die Gegenteiligkeit eine Frage der Perspektive: Reformismus schließt Revolution aus, das Umgekehrte gilt aber nicht - Revolutionäre sind keine Gegner von Reformen. Sie sehen in ihnen wichtige Stützpunkte der Neugründung im Ganzen. Nur gegen die Annahme, „partielle Versuche“ könnten a l s s o l c h e s c h o n die Gesellschaft neugründen, wenden sie sich.

Ich habe das ebenfalls immer getan, ohne es bisher ganz explizit zu formulieren. Am meisten kommt noch die Bemerkung in der 76. Notiz einer Explikation nahe, „dass wer die kapitalistische Ökonomie überwinden will, v o r h e r über eine in sich schlüssige G e s a m t a l t e r n a t i v e verfügen muss, das heißt mindestens über deren Umrisse. Denn einer Maschine“ – der in sich kohärenten kapitalistischen „Marktmaschine“ nämlich – „kommt man nicht bei, indem man an der oder jener Schraube dreht, oder auch an mehreren Schrauben. Wer das tut, bewirkt weiter nichts als eine Betriebsstörung. Da wir von einer sehr gewaltigen Maschine sprechen, würde der Schraubendreher [...] im Glauben, er greife die Maschine insgesamt an, tatsächlich nur auf eine Schwachstelle aufmerksam gemacht“ haben, „so dass die Aufseher herbeieilen und die Maschine an dieser Stelle reparieren oder ergänzen oder sich gar zum Umbau der Stelle entschließen würden, aber nur der Stelle: Sonst und im Ganzen bliebe sie, wie sie ist.“ Es folgt logisch aus diesem Argument, dass die Gesamtalternative dann nicht nur Theorie ist, die in der Praxis zur regulativen Idee wird, sondern selber a l s Praxis gegen die vorhandene Praxis implementiert werden muss. Und das heißt eben: im Ganzen, ereignishaft, in einem Zeitfenster.

Näher gesprochen geht es um die Implementierung der „entscheidenden“ Struktur des Ganzen und um die Abräumung der „entscheidenden“ Barriere, die dem Ganzen entgegensteht. Die entscheidende Struktur ist das ökonomische Wählen, deshalb war die 59. Notiz überschrieben „Die Andere Gesellschaft beginnt mit Urwahlen“. Die entscheidende Barriere ist die politische Macht des Kapitals, die sich gegen solche Wahlen richtet, weil sie das Ende der Kapitallogik bezeichnen. Deshalb schrieb ich häufig, erst müsse die Kapitalmacht gebrochen sein, dann könne die Andere Gesellschaft beginnen. Nachdem es diese beiden Ereignisse gegeben hat, ist die vorher theoretisch, so gut es ging, entwickelte G e s a m t alternative noch nicht Wirklichkeit, aber nun kann sie nach und nach aufgebaut werden. Denn nun ist das Tor aufgestoßen und die Schwelle überschritten. Die Andere Gesellschaft beginnt mit Urwahlen: Dieser Beginn ist das, was ich als Revolution bezeichne.

Ich folge da auch der Argumentation von Marx. Marx stellt sich zwar keine ökonomischen Wahlen vor, doch was den Übergang zur neuen Gesellschaft angeht, macht er in Honneths Worten geltend, „dass der Markt [...] ein ganzes Ensemble von gesellschaftlichen Verhältnissen darstellt, aus dem sich nicht willkürlich nach Maßgabe moralischer Vorstellungen einzelne Segmente herauslösen lassen“: eine Feststellung, die nicht dadurch falsch wird, dass man sie, wie Honneth es tut, hegelianisch als Rede von der „Totalität“ des kapitalistischen Marktes lesen kann (a.a.0., S. 91). Der Markt ist jedenfalls eine Art Maschine, funktioniert wie eine solche und wurde bewusst als solche errichtet: Karl Polanyi hat das e m p i r i s c h erwiesen (The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978 [englisch 1944]).

2. Dass der Revolutionsbegriff theoretische und praktische Probleme aufwirft, ist gar nicht zu leugnen. Beginnen wir mit den theoretischen Problemen. Wie Vogl notiert, liegt eines darin, dass dem Begriff die Vorstellung „linearer Zeit“ zugrunde zu liegen scheint. Dazu würde ich sagen, dass auch diese Vorstellung nicht in Bausch und Bogen verworfen werden, sondern es nur wieder darum gehen kann, sie von der metaphysischen Idee der historischen Gesetzlichkeit zu trennen. Lineare Zeit im gesetzlichen Sinn ist die biblische Heilsgeschichte. Sie erstreckt sich bis ans Ende der Welt, das in manchen biblischen Texten behandelt wird, als kenne man es schon. Wenn wir dem nicht folgen, haben wir allerdings Grund, auch das Stalinsche Fünf-Formationen-Schema zu verwerfen, ein angebliches Gesetz des „historischen Materialismus“, demzufolge es notwendig war, dass Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus einander ablösten und zuletzt der Kapitalismus auf den Kommunismus hinauslaufen muss. Wie ich schon gezeigt habe, kann das nicht die Vorstellung von Marx gewesen sein, bei dem nämlich zwar viel für genau diese Reihenfolge sprach, die ja bis hin zum Kapitalismus geschichtliche Tatsache ist, sie aber dennoch in seiner Sicht nur m ö g l i c h war. Dass es immer auch anders kommen kann, als man denkt, stellt Marx für den Kommunismus ausdrücklich fest: Er folgt vielleicht nicht überall auf der Welt dem Kapitalismus, er mag auch an die eher noch feudalistische russische Dorfgesellschaft anschließen können.

Was Marx in der Tat festhält, ist die Vorstellung einer gewissen Linearität der Zeit. Die muss ja nicht im Vorhinein als b e s t i m m t e Linie feststehen. Mir scheint, dass man ihm schwer widersprechen kann, wenn man nur überhaupt den Begriff der Gesellschaftsformation aufrechterhält, statt auf einzelne Ereignisse zu schauen und lediglich d i e s e auf Linie bringen zu wollen. Vogl spricht von einer Vielzahl „alter Fragen“, in denen sich der bisherige Geschichtsgang kristallisiert: So als Vielzahl sind ihre Zeitstellen gewiss nicht ein- sondern mehrdimensional verortet. Doch mit jeder Frage, die man einzeln herausgreift, ist tatsächlich eine Linie gesetzt, die der Frage-Antwort-Kette, wo über längere Zeit aus der jeweiligen Antwort die nächste Frage hervorgeht, auf sie wieder geantwortet wird und so weiter. Weil solche Linien sich durchwirren, kann nicht von einer einzigen gesprochen werden; aber wo es Gesellschaftsformationen gibt, und es gibt sie historisch, treten dominante Frage-Antwort-Ketten, also Linien, hervor, durch die sie charakterisiert werden können.

Das ist wiederum auch bei Vogl der Fall, der die vorhandene Gesellschaft über ihre Unendlichkeitsperspektive und die neue über ihren bewussten Zielsetzungswillen charakterisiert, wie ich das auch getan habe. Nimmt man aber nur diese beiden Hauptstrukturen, die jeweils die ganze Formation, der sie entnommen sind, dominieren, dann sind das zwei Linien, die eine einzige bilden. Es ist eine Linie, die von einer Frage (nach der aktualen Unendlichkeit) über ihre Antworten und zuletzt über das Ausbleiben weiterer Antworten, oder weiterer plausibler Antworten, zu einer neuen Frage (nach bewusst gewählten Zielen) dadurch führt, dass die Konfusion der ersten Frage erkannt und aufgelöst wird. (Die Konfusion liegt darin, dass es mehrere Arten des Un-Endes gibt: Wenn es kein anderes gäbe als die in der ersten Frage unterstellte „schlechte Unendlichkeit“, das wäre schlimm, denn die Grenzüberschreitung gehört zum Menschen; dem ist aber nicht so, denn auch die Zurückweisung einer Frage übersteigt ein Ende, das des Frageraums nämlich – der Gesamtheit möglicher Antworten, die von der Frage her erwartet werden können -, welches Übersteigen aber fallweise mit Grund geschieht, w e n n es geschieht, während die „schlechte Unendlichkeit“ ein zwanghafter Selbstlauf ist.)

Ich nehme die Gelegenheit wahr, eine kleine Unschärfe meiner Argumentation in der vorigen Notiz zu korrigieren. Es hieß da, die Proportionswahlen als Grundstruktur der neuen Gesellschaft ließen sich nicht auf ein historisches Gesetz zurückführen, nichts also stehe hinter ihnen als eine nihilistische Situation, aus der sie dennoch als neuer Vorschlag hervorgingen. Dies könne dadurch geschehen, dass die unbeantwortbar oder nicht mehr plausibel beantwortbare Fragestellung der alten Gesellschaft in Erinnerung gerufen und aufgelöst werde. In der Auflösung sei nämlich die neue Fragestellung schon enthalten. Man darf nun aber nicht glauben, dass jede Situation, die sich nicht auf ein historisches Gesetz zurückführen lässt, nihilistisch sei. Dann wäre ja die gesamte Menschheitsgeschichte nihilistisch. So verhält es sich nicht: Nihilistisch ist nur die Zeit zwischen dem Zusammenbruch der alten und dem Geschichtsmächtigwerden der neuen Fragestellung. Solange die alte und sobald die neue Frage historisch wirksam ist, gibt es keinen Nihilismus. Das ist nicht deshalb der Fall, weil man sich in solchen Zeiten auf ein historisches Gesetz stützen könnte, dafür aber deshalb, weil die historisch noch oder schon wirksame Fragestellung einen Bewegungsraum oder, wie man sagt, eine Perspektive öffnet. Eine solche Fragestellung ist eben a u c h etwas, worauf Menschen sich stützen können, was sie außer in Phasen der „Geschichtsunterbrechung“, wie ich die nihilistische Situation genannt habe, denn auch immerzu tun.

Die Vorstellung einer Zeitlinie jedenfalls kann aufrechterhalten werden. Sie impliziert weder, dass „alles“ an der Linie hängt, noch dass es sich um eine des unverbrüchlichen „Fortschritts“ handle. Doch auch hier muss man genauer sein und sagen, dass der Fortschritt – zur zwanglosen Ordnung, zum Frieden in Gerechtigkeit, zur Erleichterung der Mühsal der menschlichen Existenz, kurz: zum „Guten“ – zwar nicht infolge eines geschichtlichen Gesetzes eintritt, aber doch immerzu praktisch angestrebt wird und dass dies Streben allein schon gewisse tatsächliche Fortschrittseffekte einbringt. Es ist ja klar, dass der Schritt von der Unendlichkeits- zur zielbewussten Gesellschaft für Menschen, die ihn anstreben, ein Fortschritt wäre und zugleich ein Stück Zeitlinie. Unklar ist nur erstens, ob der Schritt wirklich getan werden wird, und zweitens, ob es dann bei ihm bleibt oder starke Gegner ihn rückgängig machen.

3. Von der Menschheitsgeschichte im Ganzen kann sicher nicht gesagt werden, dass sich faktischer Fortschritt in ihr schon gezeigt habe. Eher gilt das Wort von Marx, „der menschliche Fortschritt“ gleiche bisher „jenem scheußlichen heidnischen Götzen [...], der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“ (MEW 9, S. 226). Damit hat Marx aber auch erfasst, dass es immerzu Fortschritte in Teilbereichen gibt. Da sie durch Schlimmes im Ganzen mehr als aufgewogen werden, kommen sie zwar über den Status von Modellen nicht hinaus, den aber immerhin haben sie. Es hat wirklich einen Fortschritt des Modellhaften gegeben. So ist Rechtsgleichheit besser als Ungleichbehandlung, die zu Zeiten selbstverständlich erschien, Demokratie besser als Despotie und so weiter. In dieser eingeschränkten Bedeutung kann denn auch von geschichtlichen Rückschritten gesprochen werden, und da sehen wir, dass sie zwar immer möglich, aber doch nicht so ganz leicht ins Werk zu setzen sind. Mussolini und Hitler zum Beispiel strebten in die vorchristliche Antike zurück. Um eine Zeit zu finden, in der Hitlers Völkermord für legitim gegolten hätte, muss man sogar bis zu den Assyrern zurückgehen. Diese Unmenschen, so Schlimmes sie angerichtet haben, konnten sich doch nicht lange halten. Aber umgekehrt konnte noch kein Fortschritt vor Rückfällen gesichert werden.

Hier kehren wir zur Frage der Revolution zurück. Die Revolution, die das Tor zur Anderen Gesellschaft aufstoßen würde, wäre geschichtlicher Fortschritt. Damit er aber nicht Fortschritt und Rückschritt zugleich ist, müssen wir fragen, wie er von der Gewaltseite geschieden werden kann, die ihm bisher immer eigen war. Man braucht nur an die russische Oktoberrevolution zu denken, die wahrlich „aus den Schädeln Erschlagener trank“; man lese nur die paar Seiten, die Solschenizyn der Tscheka und ihren Taten widmete, einem originalen Revolutionskind von Anfang an - und mache sich klar, diese Verbrechen wurden um eines Ziels willen begangen, das zu setzen eine Revolution gar nicht umhin kann: der Unumkehrbarkeit. Im Übrigen hat revolutionäre Gewalt, wie wir sie aus der Geschichte kennen, noch eine weitere ebenso schlimme Seite: Rache an den bisher Herrschenden. Man lese Gerhard Hauptmanns Drama Die Weber, um zu begreifen, wie das funktioniert. Für die Figuren des Dichters sind Revolution und Rachegewalt das Gleiche. Sicher haben es auch vergangene Revolutionen nicht verdient, auf solche Seiten reduziert zu werden, aber dass sie überhaupt dazugehörten, ist unerträglich genug und ein weiterer Grund, die Zurückweisung des Revolutionsbegriffs verständlich zu finden. Die Rache ist kein kleines Problem, denn eindeutig bekennen sich auch Friedrich Engels, auch Walter Benjamin zu ihr (MEW 22, S. 465 f.; Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, S. 257 f.). Sollte man zu dem Schluss kommen müssen, dass eine gesellschaftliche Neugründung ohne Rache und Archipel Gulag gar nicht denkbar ist und noch weniger praktisch verhindert werden kann, würde auch ich von ihrer Empfehlung Abstand nehmen.

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1. Es bleiben also gewichtige Fragen zu klären, wenn man glaubt, am Revolutionsbegriff trotz allem festhalten zu müssen. Man kann sie in einem Satz zusammenfassen: Wie kommt man zu den „Urwahlen“ und wodurch gewinnt die damit begonnene Entwicklung den Charakter der Nachhaltigkeit oder gar, soweit möglich, der Unumkehrbarkeit? Einen Teil der Antwort lesen wir bei Vogl. Was den Weg zur ersten Grundsatzwahl angeht, zeigt er immer wieder, dass er bereits beschritten wird, ja schon ziemlich breit ist. Um Einiges zu zitieren:

„Diese Diskussion ist in Deutschland seit langem und in aller Breite in Gang. Paradigmatisch und viele Diskussionen zusammenfassend war die Studie über ein nachhaltiges Deutschland, die das Wuppertal-Institut für Misereor und BUND durchführte. Insbesondere wenn dort über Ziele eines guten Lebens nachgedacht wird, geht es um den Kern der Bestimmung gesellschaftlicher Ziele für die Produktion. Diese Diskussion ist nicht auf bestimmte Teile der Gesellschaft beschränkt. Alle Parteien, viele Verbände, auch Unternehmen nehmen teil: Wenn dort »Corporate Social Responsibility« etabliert wird, dient dies natürlich höherer Effizienz und Marketing-Zwecken. Ein Stück der ökologischen Probleme ist jedoch auch dort aufgenommen. [...] Ökologische, teilweise auch soziale Aspekte der Produktion sind wesentlicher Teil vieler Verbrauchertests, exemplarisch werden ganze Produktlinien, also auch die Wirkungen von Herstellungsweisen und Vorprodukten untersucht. Eine Ware zum Beispiel, von der bekannt wäre, dass sie in Kinderarbeit hergestellt wird, würde niemand kaufen wollen. Und hier genau liegt ein Problem struktureller Macht, weil Informationen eben auch breit zugänglich sein müssen, um für die individuelle Entscheidung wirksam werden zu können.“ (1/2008)

Wo Vogl die Unternehmer beobachtet, stellt er fest, dass es auch dort „vielfältige Strömungen [gibt]. Allmählich könnte akzeptiert werden, dass mit der breiten gesellschaftlichen Diskussion der unternehmerische Entscheidungsprozess nur erleichtert würde. Man darf nicht vergessen: In vielen Unternehmen ist man schon heute daran gewöhnt, intensiv die chinesischen Debatten über die Ausgestaltung der Fünf-Jahres-Pläne zu verfolgen.“ (5/2012) Das Letztere ist verblüffend – leider gibt Vogl keine Quelle an. Aber was er auch aufführt, als h i n r e i c h e n d beantwortet kann die Frage, wie man zu den Urwahlen gelangt, doch nicht gelten. Denn gerade weil deren revolutionäre Bedeutung bei Vogl ganz klar wird, ist unverkennbar, dass ein wesentlicher Teil der zu ihnen führenden Bedingungskette noch aussteht: Anzustreben, schreibt er, sei „eine Volksabstimmung über eine strategische Grundsatzfrage [...], in der sich die Machtverhältnisse in besonderer Weise verknoten, bei der aber d i e A u s s i c h t e n a u f E r f o l g b e s o n d e r s h o c h sind. [...] Schon in der ersten, noch nicht in die Verfassung aufgenommenen Form müsste jedoch das Ganze der anderen Gesellschaft sichtbar gemacht werden können: eine Ökonomie der Befähigung zur Verantwortung. Ihre Perspektive wäre die Einrichtung eines Institutionensystems [...], in dem über zentrale strategische Alternativen entschieden werden kann.“ (a.a.O., meine Hervorhebung)

Zu dem, was aussteht, um dahin zu gelangen, gehört die Brechung der Macht desjenigen Teils der Kapitalistenklasse, der nicht bereit sein wird, das Kapitalistsein gegen bloßes Unternehmersein freiwillig einzutauschen. Rein gesetzesformal betrachtet, könnte das Kapital zwar mit demokratischen Mitteln, die es heute schon gibt, einfach abgewählt werden, wie zum Beispiel Thomas Piketty zeigt (Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014). Aber instrumentalisiert vom Kapital, verhindern dieselben demokratischen Mittel auch, dass das wirklich geschieht. Und wenn es nun doch einmal gelänge, würde ein halsstarriger Kapitalistenrest Gewalt anwenden, das heißt mit seinem Geld Gewalttäter einsetzen, Faschisten oder Militärdiktatoren. Was können wir dagegen ausrichten, wenn wir entschieden sind, keine Tscheka zu brauchen?

2. Nehmen wir nun einmal an, solche Urwahlen seien trotz allem erfolgreich über die Bühne gegangen. Mit Vogl: „Der Tag, an dem in einem Land nach der langen Vorgeschichte der Kritik am Kapitalismus ein Gesetz verabschiedet würde, mit dem demokratische Verfahren der Bestimmung grundlegender gesellschaftlicher Ziele festgelegt werden, die im marktwirtschaftlichen Prozess erreicht werden sollen, würde später als ein [...] historischer Einschnitt gesehen werden.“ (1/2012) Dies aber nur dann, wenn es nach diesem Ereignis gelingt, die Andere Gesellschaft möglichst unumkehrbar machen. Wie kann das ohne Tscheka geschehen? Auch hierzu gibt es einen wichtigen Gedanken von Vogl, der sich dem Thema geschickterweise mit der Frage nähert, wie es denn kommt, dass d e r K a p i t a l i s m u s so überaus nachhaltig geworden ist. Ist er nicht insofern, als man nur noch über ihn hinaus, nicht mehr hinter ihn zurück gehen kann, sogar wirklich unumkehrbar? Vogls von Pierre Bourdieu inspirierte Antwort ist seiner Frage schon vorausgesetzt, die ich zunächst zitieren will: „Was ist das Kapitalistische, das den Habitus der Bewohner dieser Gesellschaft so bestimmt, dass auch Vorgänge, deren Absurdität gesehen und ausgesprochen werden kann, als selbstverständlich funktionieren?“ Will man die vorausgesetzte Antwort explizieren, so lautet sie: Der Kapitalismus ist von da an nachhaltig, wo er als und zur Verhaltensweise verinnerlicht ist und dies so sehr, dass die Habitualisierten sich gar nicht erinnern, je eine andere gehabt zu haben. „Es gibt vom Kapitalismus also nichts, was außerhalb wäre, die Grundstruktur ist habituell, die habituellen Handlungen erneuern die Grundstrukturen.“ (a.a.O.)

Wenn es nun trotzdem gelingt, diese Grundstruktur von innen heraus zu sprengen, das heißt aufzulösen und durch eine andere zu ersetzen, so kann die neue Grundstruktur nur auf dieselbe Weise nachhaltig werden, wie es die alte war: „Die andere Gesellschaft wäre da in dem Ausmaß, in dem sie ebenso ‚habitualisiert‘ wäre wie jetzt die kapitalistische.“ (a.a.O.) Woraus die Frage folgt – ich habe sie eingangs schon zitiert -: „Wie kann man eine in allen Gesellschaftsbereichen zutiefst verwurzelte, in den Einzelnen habitualisierte Struktur des Wirtschaftens, die zudem weltweit verbreitet ist, zum Teil freiwillig als orientierendes Vorbild übernommen wurde, zum Teil mit allen Formen ökonomischer, politischer und militärischer Macht durchgesetzt, wie kann man ein solches globales System ablösen durch ein anderes?“ (5/2012) Auch hier wieder muss man sagen, dass Antwort und Frage nicht erschöpfend sind. Denn bis es zur neuen Habitualisierung kommt, vergeht Zeit und die muss erst einmal überbrückt werden können, und wie gesagt ohne Tscheka. Aber wir sind doch schon ein wesentliches Stück weiter, zumal Eines sofort klar ist: Die neue Habitualisierung setzt voraus, dass die Menschen die neue Wirtschaftsweise als gelingend erleben.

Die Aufgabe wird auch nicht ganz so schwer zu lösen sein, wie sie sich im zuletzt Zitierten ausnimmt, denn darum, den Kapitalismus gleich als g l o b a l e s S y s t e m zu ersetzen, wird es ja doch nicht gehen. Sondern „nur“ darum, ihn in einer Weltregion, der unsrigen, zu ersetzen und zwar so, dass sie mit den anderen Regionen verbunden bleibt und diese es sich teils zum Vorbild gereichen lassen, teils wenigstens gehindert sind, mit Aggression darauf zu reagieren. In diesem Zusammenhang ist übrigens auch ein anderer Gedanke Vogls wichtig: Die „konkrete Ausformung“ der Struktur, dass es „demokratische Verfahren der verbindlichen Festlegung von grundlegenden wirtschaftlichen Zielen“ gibt, „wäre notwendigerweise von Land zu Land anders, aus den unterschiedlichen Erfahrungen und Fehlern wäre zu lernen. Das wesentliche konkrete Ziel ist aber klar und inzwischen konsensfähig: die Bewahrung der Erde.“ (1/2012)

Wie er betont, hat die Verschiedenheit der „Ausformungen“ sehr viel mit der Verschiedenheit der jeweiligen regionalen Tradition, der politischen und kulturellen, zu tun. Und auch das bringt uns weiter. Wo die auf Proportionswahlen basierende Andere Gesellschaft in anderen Weltregionen nachgeahmt werden wird, mag es zunächst anders als in der Form von Wahlen geschehen. In unserer Region freilich wird es so beginnen, weil wir das Wählen längst habitualisiert haben. Und auch die Habitualisierung des Umgangs mit dem Computer, der beherrscht sein muss, wenn es zu ökonomischen Wahlen soll kommen können, ist weit fortgeschritten. Wo man unsere gesellschaftliche Erneuerung aber nicht nachahmen will, sondern eher in Versuchung ist, ihr aggressiv zu begegnen, auch da können Regierungen doch wenigstens nicht umhin, „die Bewahrung der Erde“ konsensfähig zu finden oder dies wenigstens vorzutäuschen. Das allein schon eröffnet Möglichkeiten, die mögliche Aggression von ihrer Seite im Zaum zu halten.

Die mögliche Aggression gegnerischer Seiten bleibt unter den noch zu klärenden Fragen die Hauptfrage. Was die Aggression im Innern der Region angeht, die zur Anderen Gesellschaft wird, indem sie „Marktwahlen“, Proportionswahlen einführt, lehrt die geschichtliche Erfahrung sogar, dass es einen Rest mächtiger Gegner, die eine solche Revolution gewaltsam zu verhindern versuchen, wahrscheinlich immer geben wird. Ich schließe das Kapitel, in dem ich Vogls Beitrag erörtert habe, hiermit ab, will aber über die anderen Fragen und vor allem über das Gewaltproblem noch weiter nachdenken. Mein Vorgehen wird sein, dass ich hier erst wieder weiterschreibe, wenn ich in der Lage bin, alles, was von mir aus noch gesagt werden kann, in einem Schub zu sagen. Es wird also noch einmal, zum letzten Mal, in der Blogreihe eine Pause von vielleicht einem Monat eintreten, in welcher Zeit ich ein paar einschlägige Texte durchsehe und mich von ihnen anregen lasse. Was Vogl angeht, will ich nochmals betonen, dass hier nur ein Aspekt seiner Texte unter vielen, die es sich nachzulesen lohnt, erörtert werden konnte.

Die Gliederung des Blogs "Die Andere Gesellschaft" in Kapitel finden Sie hier. Sie können von dort aus alle bisher 143 Eintragungen anklicken.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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