(142) Der Weg zur Gründung / erste Forts.

Revolution Die Zweideutigkeit: Sozialdemokraten und Konservative, beide Kapitalopfer, beide prokapitalistisch, in der Hochkonjunktur; Revolutionäre und Faschisten in der Krise

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"Wer das Denken verlernt, wird nicht revolutionär"
"Wer das Denken verlernt, wird nicht revolutionär"

Bild: YAMIL LAGE/AFP/Getty Images

Wenn man sagt, dass das Internet revolutionär genutzt werden kann, muss man gleich hinzufügen, dass auch die faschistische Nutzung möglich ist. Der Keim liegt schon darin, dass beim heutigen Erziehungssystem die Gefahr groß ist, dass Menschen aufwachsen, die zum Denken unfähig werden, weil sie pädagogisch voraussetzungslos fast nur im digitalen Meer „surfen“: Dieses bietet dem Denken unschätzbare Hilfen, bringt es aber nicht hervor. Denken heißt fragen und antworten können; wie es am PC oder Smartphone verlernt wird, kann heute schon vielfach beobachtet werden. Wer das Denken verlernt, wird nicht revolutionär. Das ist wie gesagt nur der Keim. Doch gibt es eine aus der Erforschung der sogenannten Künstlichen Intelligenz hervorgegangene Tendenz, das Fragen- und Antwortenkönnen vollständig zu vernichten. „KI“ ist jenes reduzierte „Denken“, das im Unterschied zum menschlichen seine eigenen letzten Axiome nicht hinterfragen und außer Kraft setzen, das also nicht fragen und antworten kann. Und nun gibt es Zeitgenossen, die d e r E r s e t z u n g denkender Menschen durch KI-Maschinen das Wort reden. André Gorz hat sie in seinem letzten Buch beleuchtet:

„Die Pioniere der KI [...] stellen sich ohne weiteres über diese auf der nackten Erde kriechende Menschheit. Sie halten die biologische Evolution des Menschen für eine Sackgasse (Kurzweil) und die Entwicklung der Intelligenz auf technologischer Basis für die Durchsetzung der Gesetze der Evolution. ‚Der Weg ist gebahnt, w i r h a b e n k e i n e W a h l ‘, sagt Kurzweil. Und Moravec faßt die kommenden Roboter ausdrücklich als Träger eines Geistes auf, der den des Menschen übersteigt. Hugo de Garis sieht sich als den ‚vierten Reiter der Apokalypse, den finsteren, den jenes Krieges‘, den die Roboter, die sich von den Menschen befreien, gegen die Menschengattung führen.“ (Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich 2004 [Paris 2003], S. 110, meine Herv.) „Ray Kurzweil begreift [...] die ‚Techno-Elite‘ als eine ‚Prätorianergarde‘, eine Kaste von ‚High-Tech-Hohenpriestern‘, die den großen Rest der überwiegend ‚dümmeren‘ Menschen lenkt und kontrolliert. [...] De Garis ist überzeugt, dass solche Maschinen die Menschen ausschließen, wenn sie den Krieg gegen diese gewonnen haben. E r w ä h l t i h r L a g e r .“ (a.a.O., S. 112, meine Herv.)

Was sich hier abzeichnet, wäre, wenn wir seine Entfaltung zuließen, der moderne Faschismus, und er wäre tausendmal verbrecherischer als der nationalsozialistische. Etwas davon ahnte schon Hannah Arendt, indem sie neben anderem auch die „technischen Erfindungen der Automation“ anführte, um eine neu entstandene „Situation“ zu kennzeichnen, „in der man ‚Probleme‘ mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen“ (Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München Zürich 1986 [New York 1963], S. 322 f.). Von Arendt können wir auch lernen, wie so einer technischen Tendenz Subjekte zur Seite treten können, die sie begrüßen und fördern. Denn schon die totalitären Menschen, die Hitlers „Bewegung“ gebildet hatten, beschreibt sie als welche, die sich selbst vollkommen gleichgültig geworden waren. Solche Menschen bringen nicht einmal mehr den Gedanken des Selbstopfers hervor, sondern gehen dem Tod entgegen, wie wenn man, mit Hegel zu sprechen, einen „Schluck Wassers“ nimmt oder einen Kohlkopf abhaut. Woran totalitäre Führer, so Arendt, appellieren konnten,

„ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen“. „Es liegt natürlich nahe, diese eigensinnige Zähigkeit der Überzeugtheit, die [...] alle Selbsterhaltungsinstinkte überspülen kann, mit dem schwärmerischen Idealismus gleichzusetzen, der uns aus allen revolutionären Bewegungen vertraut ist“; „die Nazis aber haben sich ausdrücklich dagegen verwahrt, für Idealisten gehalten zu werden.“ Der Nazi ist nicht Idealist, sondern Fanatiker und hat sich als solcher „so sehr mit der Bewegung identifiziert, geht den Bewegungsgesetzen so völlig konform, dass es scheint, als sei die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überhaupt vernichtet, so dass der einzelne selbst gegen die Tortur abgedichtet ist und gleichsam nicht mehr dazu kommt, auch nur die Angst vor dem Tod zu empfinden.“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München Zürich 1986 [New York 1951], S. 497 ff.)

Moderne Faschisten werden sich mit der „apokalyptischen“ KI-Bewegung identifizieren und sie, den Vordenkern wie Kurzweil folgend, als „Evolution“ verstehen. Ob sie es von Anfang an auch zu verstehen geben, ist eine andere Frage – man denke an Hitler, der sich zunächst als Kirchenfreund gab, obwohl er den Papst auf dem Petersplatz hängen sehen wollte. Ihnen selbst aber wird es genügen, dass uns ohnehin die technische Entwicklung als Selbstlauf, der keinen steuernden Eingriff sondern nur Anpassung zulasse, präsentiert wird. „Wir haben keine Wahl“, spricht heute nicht nur Kurzweil, sondern alle Ideologie, um den beginnenden L e e r l a u f des Kapitals zu verdecken. Sie mögen glauben, dass ihnen die Faszination der technischen Science Fiction in die Hände spielt, und rühren ja wirklich an einen gesellschaftlichen Resonanzpunkt, da der Maschinen(nicht)mensch als, wie man ihn leicht entziffert, säkularisierte Version des „neuen Menschen“ der Bibel mit verborgenen religiösen Gefühlen spielt und diese im Unbewussten erweckt. Es ist die letzte Erfindung des Kapitals: Im Selbstlauf kann sie nicht real werden – eine Gesellschaft, die ökonomische Wahlen abhält, wird sie nicht wählen -, doch dass sie heute gedacht und immerhin auch betrieben wird, ist gefährlich genug. Kurzweil ist Director of Engineering bei Google, demselben Unternehmen, das auch die Entwicklung selbststeuernder Autos vorantreibt.

Walter Benjamin meinte, eine Art Selbstvergottungsversuch stecke hinter dem unendlichen Streben des Kapitals (vgl. Kapitalismus als Religion, in Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1985, S. 100-103): Der Maschinen(nicht)mensch ist ein taugliches Bild dieses Selbstgottes.

Es ist ein schweres Problem, dass der Kapitalismus nicht nur den Nihilismus hervortreibt, sondern auch den Faschismus als dessen aktive Form, in der er mit sich selbst im Kampf zu liegen scheint. Denn gern präsentiert sich der Faschismus antikapitalistisch, ja der deutsche hatte den Ausdruck „sozialistisch“ in seinen Parteinamen aufgenommen. Im Grunde braucht uns das nicht zu überraschen. Der Kapitalismus zeigt sich eben auch in Krisenzeiten amphibolisch. Er zeigt sich nie anders. Es gehört offenbar zu seinem Wesen, so dass man sich fragen muss, warum das so ist, und herausfinden, wie darauf reagiert werden kann. In den Zeiten der Hochkonjunktur liegt die Amphibolie darin, dass dem Kapital die Politik des parlamentarischen Zwei-Blöcke-Systems zugeordnet ist und es dahinter verschwindet. Das CDU-geführte Lager bekämpft das SPD-geführte Lager und umgekehrt: Beide sind prokapitalistisch, man vergisst dies aber, weil der Kampf als solcher, der keiner gegen das Kapital ist, alle Aufmerksamkeit fesselt. Der Sachverhalt kann eigentlich nicht offenbarer sein, da jedermann sieht, wie selbstverständlich SPD und CDU auch miteinander regieren können; aber dennoch hört man nicht auf zu glauben, dass die Dinge vorankämen, löste sich die kapitalistische SPD aus dem Bündnis mit der kapitalistischen CDU und führte eine Regierung gegen sie an, die dann auch von der Linkspartei mitgetragen würde.

Das ist die politische Amphibolie des Kapitalismus in den Zeiten der Hochkonjunktur. In der Krisenzeit nimmt sie nur eine andere Gestalt an. Nun tritt das Kapital als solches hervor, es kann sich nicht mehr hinter dem Kampf der Gutwetterparteien verstecken, doch bildet sich eine neue Partei, die faschistische, und tut so, als sei sie antikapitalistisch, denn das wollen die Menschen jetzt hören. Die faschistische Partei wird der Zeit gerecht, in der sie auftritt, indem sie sich als Ablösung der Gutwetterparteien, mit denen es nichts mehr ist, direkt präsentiert. Und das heißt, sie wirft den Links-Rechts-Gegensatz über den Haufen, behauptet, beides zu sein oder etwas ganz anderes. Sie ist auch tatsächlich weder links noch rechts, vielmehr eben faschistisch, eine Organisation der Virtuosen des Todes. Doch wer sich in der bürgerlichen Ideologie des parlamentarischen Gutwetter-Systems bewegt hat, wird jetzt bereit sein zu glauben, sie sei rechts und zugleich auch noch links und könne also nicht so schlimm sein, denn richtig schlimm war „auch“ die rechte CDU niemals und Linkssein ist sogar das Gute. Vor allem aber sei der neue Faschismus – der sich ja nicht so nennt, ein neuer Name wird ihm schon einfallen - „radikal“ und darauf komme es an.

Warum hat die Politik des Kapitals dies amphibolische Wesen? Wohl weil es kein Ding ist. Das Kapital ist eine Logik, Struktur und anonyme Strategie, Logik des unendlichen Strebens nach Mehrwert – so identifiziert man es nicht, doch als Quelle von Übeln ist es bewusst und man will sich von ihr ein Bild machen. Jedes Bild aber, das man sich vom Kapital macht, unterscheidet sich von ihm, weil das Kapital bloß eine Logik ist, kein Ding, und kann deshalb als sein scheinbarer Gegensatz auftreten. So unterscheidet sich schon der kapitalistische Unternehmer vom Kapital, wie Marx deutlich hervorgehoben hat: Er ist nur dessen „Charaktermaske“. Eine Maske kann man abnehmen. Der Unternehmer ist Kapitalist, müsste es aber nicht sein. Damit er es bleibt, haben die Nazis gelogen, dass jüdische Unternehmer Kapitalisten seien, „arische“ aber nicht. Vorher und nachher in Gutwetterzeiten belügen sich Sozialdemokraten und andere Linke, Kapitalpolitik werde von der CDU betrieben, durchaus aber nicht von ihnen.

Eine Logik zu bekämpfen, die kein Ding ist, ist eben schwer. A l l e Dinge, die es gibt, repräsentieren als solche das Kapital nicht, sondern einige maskieren es und andere scheinen mit ihm nichts zu tun zu haben. Zugleich aber wird a l l e s , auch seine Gegner, auch ich zum Beispiel und auch Sie, die Leserinnen und Leser, von der Logik des Kapitals durchdrungen. Wer es im Ernst bekämpft, was die Faschisten nicht tun, beginnt mit der Einsicht, dass er oder sie am Kapital teilhat. Ernsthafter Antikapitalismus ist daher auch Streit mit sich selbst statt Projektion des Bekämpften nur auf andere. Diese Einsicht führt dann auch dazu, dass man nicht mehr glaubt, das Bekämpfte sei zu vernichten. Denn wer (ist kein Faschist und) wird sich selbst vernichten wollen. Man ist vielleicht weniger von der Kapitallogik durchdrungen als die Gegner - wobei man jedenfalls an der Geworfenheit in den Nihilismus merkt, dass man es ist -, doch auch sie, die es mehr sind, indem sie sogar die Maske des Kapitals willig tragen, wird man nicht vernichten wollen, sondern wird an ihnen den Willen zur Maske bekämpfen.

Wenn Radikalsein bedeutet, einer Sache an die Wurzel zu gehen, das heißt sie zu finden, dann ist d a s radikal, während der faschistische Mord und Selbstmord nur gemein ist und ins Leere läuft, von wo er schon herkommt. Überhaupt ist j e d e Politik, die zu verändern glaubt, indem sie „vernichtet und ersetzt“, in Wahrheit eine Totgeburt. Kann man faschistisches Denken nicht auch daran erkennen – es kommt ja vor, dass es sich zu verbergen sucht, etwa um auch unter Linken Einfluss zu gewinnen -, dass es in Orgien der geistigen Vernichtung des Tradierten schwelgt? Da wird dann nicht nur das Kapital scheinbar abgelehnt, sondern überhaupt a l l e s Überkommene; die bürgerlich Zivilisation, die so große Verdienste hat, wird lächerlich zu machen versucht; Thomas Mann hat die Geisteshaltung in seinem Roman Doktor Faustus beschrieben. Karl Marx dachte anders, er hielt sogar am Kapital das progressive Moment fest. Er wollte nicht Dinge und Menschen und fehlgeleitete Gedanken vernichten, sondern eine Konfusion auflösen. Wenn jemand radikal war, dann er.

Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Faschismus zwar nicht radikal ist, dafür aber einfach, während die wirklich Radikalen es sich s o einfach nicht machen können. Wird nicht Brechts Spruch vom „Einfachen, das schwer zu machen ist“, durch die komplexe Faktur seiner eigenen Dramen widerlegt? Wer bloß „vernichten und ersetzen“ will, hat es in Propaganda und Tat wirklich kommod; wer hingegen Konfusionen auflöst, weil er die Wahrheit sucht , hat es schwerer. Wir werden sehen und es braucht kaum gesagt zu werden, revolutionäre Gruppen, die den Weg der Wahrheit gehen, müssen immer auch Studiengruppen sein. Bei aller Neuheit ihrer Einsichten werden sie sich nicht aus der historischen Kontinuität stehlen. Etwas wie „Die Geschichte geht weiter“, „The Game must go on“ wird zu ihren antifaschistischen Parolen gehören. Wirklich einfach ist es übrigens auch, „alles so weiterlaufen“ zu lassen, also gar nicht revolutionär zu sein, sondern weiter den Kapitalismus zu stützen.

Marxistische Epigonen, die gelehrt haben, der Faschismus werde vom Kapital eingesetzt und bezahlt, haben es sich zu leicht gemacht. Es stimmt zwar. In unseren Tagen war es wieder bezeichnend, wie Al Qaida von den USA eingesetzt wurde mit dem Ziel und Erfolg, die Sowjetrussen aus Afghanistan zu vertreiben. Die andere Seite ist aber, dass etwas wie Al Qaida und auch dessen Nachfolger, der „Islamische Staat“, und überhaupt jeder Faschismus, spontan aus dem Nihilismus heraus entsteht. Wenn das nicht so wäre, könnte er in der Krise nicht Menschen anziehen, was er doch tut. Es ist schlimm, aber wahr und verallgemeinerbar, dass sich das Heranreifen einer revolutionären Situation nicht zuletzt auch darin offenbart, dass die Gefahr des Faschismus virulent wird oder er schon dabei ist, sich spontan auszubreiten.

Wo nur Verelendung wäre, sei’s materielle oder geistige, und sei sie noch so zugespitzt, könnte vom Heranreifen einer revolutionären Situation nicht die Rede sein oder nur allenfalls so, dass der schein- und konterrevolutionäre Faschismus entstünde. Es käme dann nicht eigentlich eine revolutionäre Situation, sondern stattdessen nur ihre prophylaktische Erstickung im Keim. Damit sie wirklich kommt, müssen in dem historischen Augenblick, wo es, um mit Trotzki zu sprechen, zu den „besonderen Bedingungen“ gekommen ist, „die der Unzufriedenheit die Ketten des Konservatismus herunterreißen“, weil sie „in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen“ (Geschichte der russischen Revolution. Erster Teil: Februarrevolution, Frankfurt/M. 1973, S. 8), zugleich auch schon solche Menschen vorhanden sein, das heißt sich vorher herangebildet haben, die selber der geistigen Verelendung nicht mehr unterliegen, vom Nihilismus nicht mehr durchdrungen sind, sondern vielmehr bereits die neue postkapitalistische Fragestellung verkörpern; die daher der unruhig und fragil werdenden Gesellschaft Orientierung geben, das heißt ihr etwas vorschlagen können. Trotzki appliziert in diesem Zusammenhang „eine leitende Organisation“ (S. 9) – doch „die“ Partei, die er meint, wird nach dem revolutionären Sieg die Gesellschaft diktatorisch regieren, bis sie selbst der Vernichtung anheimfällt und einem aus Geschöpfen Stalins zusammengesetzten Parteiersatz weichen muss, dessen Funktion es nur noch ist, sich der Geheimpolizei willig zu unterwerfen.

So geht es nicht. Dennoch kommt die revolutionäre Bewegung ohne einen materiellen Unterbau, über den am Ende noch nachzudenken sein wird, nicht aus und klar ist auch, dass es, wenn keine Führung, ein geistiges „Leiten“, eben O r i e n t i e r e n in Form von Vorschlägen, die sich durchsetzen, weil sie plausibel erscheinen, jedenfalls geben muss. Da reicht es nicht vorzuschlagen, wie die Andere Gesellschaft aussehen, womit sie beginnen sollte, sondern auch die Wege, auf denen die Menschen mit den Wirren der revolutionären Situation fertigwerden und sie zum guten Ende bringen, müssen gezeigt werden können. Es wird desto eher gelingen, je mehr die Revolutionäre die Situation schon mit vorbereitet haben. Denn zwar nicht dass und wann genau sie sich ereignet, wird durch Vorbereitung zu beeinflussen sein, wohl aber ihre Gestalt und der möglichst „ordentliche“ Ablauf. Etwa dass nicht der Faschismus sie ersticken und übernehmen kann.

2. Axiome

Man kann Axiome hinterfragen, wird es aber nur fallweise tun: wenn sie zum Problem werden. Das unterscheidet die fragende Überschreitung einer Grenze - Axiome sind Grenzen des Denkens - von der kapitalistischen, die grundlos automatisch überschreitet, weil ihr „Ziel“ das Grenzenlose ist. In die Überlegungen zur Gründung der Anderen Gesellschaft gehen zwei allgemeine Voraussetzungen ein, die ich eigens hervorheben möchte. So setze ich erstens axiomatisch voraus, dass es in der Vorbereitung und Durchführung einer Revolution darum geht, Konfusionen aufzulösen, also z u f r a g e n u n d z u a n t w o r t e n - denn es obliegt linguistisch gesehen der Antwort, das Konfuse da zu thematisieren, wo es am mächtigsten ist, das ist in der „falsch gestellten“ Frage, die von der Antwort zurückgewiesen wird, damit eine neue Frage an die Stelle der alten aufgelösten treten kann -, also das „Fragespiel“ s t a t t des „ B e h a u p t u n g s s p i e l s “ zu spielen. Dies betrifft das Herangehen der Revolutionäre, ist also die subjektive Seite.

Das Behauptungsspiel besteht darin, dass Behauptungen ausgetauscht, das heißt miteinander konfrontiert werden. Sofern man sie dabei auch zu begründen versucht, haben wir es mit dem Spiel des Argumentierens zu tun. Doch wenn die Gründe erschöpft sind, ohne dass ein Sieger zu ermitteln ist, und man sich auch nicht hat einigen können, dann kann es zum Krieg der Behauptenden gegeneinander kommen. Als Diskurs der Argumente ist das Behauptungsspiel Bestandteil jedes vernünftigen und auch des revolutionären Austauschs, doch dieser Gefahr wegen, dass es zum Krieg führt, der in der bloß konfrontativen Grundstruktur des Spiels schon angelegt ist, sprechen wir ihm nicht die Dominanz im Herangehen der Revolutionäre zu. Dominanz hatte das Behauptungsspiel im bolschewistischen und maoistischen Diskurs. Oft wurde nicht einmal argumentiert, sondern man begnügte sich, die Argumente der Gegner ideologietheoretisch „abzuleiten“. Es ist kein Wunder, denn die Menschen, die sich in diesem Diskurs bewegten, steuerten von vornherein auf den Krieg zu – den Bürgerkrieg -, wozu sie übrigens auch Grund hatten und was eine damals weder vom Entwicklungsstand der Strukturen ihrer peripheren Gesellschaften noch von der Entwicklung der Waffentechnik überholte Option war. Es wurde aber erwähnt, dass Friedrich Engels den revolutionären Bürgerkrieg in den kapitalistischen Metropolen schon am Ende des 19. Jahrhunderts für unmöglich erklärt hat, weil die Waffentechnik ihn nicht mehr zulasse. Ergänzend wies später Antonio Gramsci, der Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei, auf das neue dichte Institutionennetz dieser Metropolen seit ungefähr 1870 hin, das eine militärische Übernahme „im Handstreich“, und damit doch überhaupt, ebenfalls unmöglich mache. Heute ist sie nirgends mehr möglich, man kann es in Syrien sehen, während damals Bürgerkriegsopfer in peripheren Gesellschaften noch akzeptabel erscheinen mochten, weil sich die blutigen Wirren nach verhältnismäßig kurzer Zeit beenden ließen.

Aber sind dann überhaupt noch revolutionäre Wege möglich? Eine erfolgreiche Revolution anders zu denken, als dass sie einerseits immer mehr Anhänger gewinnt, auch immer mehr Menschen das Neue akzeptieren oder zu tolerieren bereit sind, andererseits aber ein harter Kern von Gegnern übrigbleibt, die bereit sind, die revolutionäre Gründung mit allen Mitteln zu verhindern oder, wenn sie erfolgt ist, zu zerstören, fällt schwer. So scheint es unumgänglich, dass die Revolutionäre sich auf eine denkbare bewaffnete Konterrevolution, oder auf einen Militärputsch wie in Chile, ihrerseits militärisch vorbereiten. Was tun, wenn es sich verbietet, ein solches Szenario noch heraufzubeschwören? Wenn wir doch daran festhalten müssen, dass d a s o b e r s t e r e v o l u t i o n ä r e P r i n z i p nicht eines der Kriegslogik sein kann? Das Prinzip wird Auflösung, nicht Konfrontation heißen, und daher Frage und Antwort, nicht Behauptung und Gegenbehauptung. Oder mit Gramsci gesprochen: Hegemonie, nicht Zwang.

Diese Position hält auch gerade der faschistischen Gefahr des „aktiven Nihilismus“ stand. Denn Nihilismus als geistige Verelendung, die eine revolutionäre Situation heraufbeschwört, ist ihrem Wesen nach unaufgelöste Konfusion – Alleingelassensein mit Fragen, die s c h o n unbeantwortbar geworden, aber n o c h nicht zurückgewiesen sind - und bietet somit der Antwort der Revolutionäre den Anknüpfungspunkt. Dies bedeutet nicht, dass die Revolutionäre für Gegnerschaft blind wären. Gegnerschaft braucht aber weder in Gegenbehauptungen ausgetragen zu werden, noch ist sie mit jenem harten Kern von Gegnern zu verwechseln, der z u l e t z t übrigbleibt. Es ist klar, dass Unbeteiligte, in die sich veritable Gegner mischen, ja die von diesen ideologisch beherrscht werden, von Anfang an und gerade am Anfang das Gegenüber der Revolutionäre sind. Dies Gemisch ist das, was mit Antworten aufgelöst werden soll, damit sich die Unbeteiligten, aber auch soweit möglich die Gegner in Mitstreiter der Revolution verwandeln. Revolutionäre werden mit den einen nicht anders als mit den anderen umgehen: fragend und antwortend, auch, wenn es sein muss, „polemisch“ und sich wehrend, so aber, dass im Verhalten das mögliche spätere Befreundetsein schon vorweggenommen ist. Wie schon gesagt wurde, ist eine derart doppelsinnige Haltung weiter nichts als „Opposition“ im Wortsinn, das selbst noch in den Gegnern zuerst das Gegenübersein anerkennt und so versucht, ihre Anzahl zu mindern.

Übrigens ist sie natürlich auch Lenin und Mao bekannt gewesen. Auch Lenin hat natürlich abgewartet, bis die Menschewiki und Sozialrevolutionäre ihre Mehrheit in den Petersburger Sowjets verloren hatten, bevor er zum bolschewistischen Aufstand aufrief. Mao hat im Bürgerkrieg mit den Truppen Chiang Kai-shecks dazu aufgefordert, feindliche Gefangene mit größter Freundlichkeit zu behandeln, um sie zum Übertritt zu ermutigen. Mit der späteren „Kulturrevolution“ freilich initiiert er ganz andere Prozesse, und Lenin ist nach dem Sieg der Revolution in St. Petersburg nicht bereit, sich der Mehrheit der russischen Konstituante zu beugen. Demgegenüber ist der Weg, den ich mitvertrete, gramscianisch, wenn man will „eurokommunistisch“. Die Akzentsetzung auf Hegemonie war eben Gramscis Schritt. Zwar fasste er selbst sich als Leninist auf und konnte auch einer sein, weil gerade bei Lenin der hegemoniale Kampf eine große Rolle spielt. Bei Gramsci aber eine noch größere. Dass der Grund in seiner Analyse der Verschiedenheit hochentwickelter westlicher Gesellschaften von peripheren östlichen wie dem zeitgenössischen Russland liegt, habe ich angedeutet und werde es noch näher ausführen.

Vorgestern jährte sich übrigens sein Geburtstag zum 125. Mal. Er starb 1937 in Mussolinis Gefängnis.

Bevor wir darangehen, einige zentrale Sätze über den revolutionären Kampf, die besonders von Lenin überliefert sind, kritisch zu erörtern, soll hier noch eine bemerkenswerte Äußerung Mao Tse-Tungs gewürdigt werden. Sie eignet sich, nach unserm „subjektiven“ Axiom das „objektive“ präzis zu formulieren. Subjektives Axiom war das fragend-antwortende und wieder fragende Herangehen der Revolutionäre. Das objektive ist ihre Verpflichtung aufs ökologisch Notwendige. Da lesen wir in Maos roter Bibel, die sein später hingerichteter Anhänger Lin Biao in der Art konfuzianischer Sprüche zusammengestellt hat, den lapidaren Satz: „Die Widersprüche zwischen Gesellschaft und Natur werden mit der Methode der Entwicklung der Produktivkräfte gelöst.“ (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tungs, Erste Miniaturausgabe Peking 1968, S. 61 f.) Der Satz trifft genau, was unser objektives Axiom ist.

Dass er unter der Rubrik „Widersprüche im Volke“ erscheint, ist eine Kuriosität, die das Herz erwärmt. Die Natur scheint zu den lebendigen Wesen zu gehören, die zwar „oppositionell“ sein mögen, von uns aber dennoch als zugehörig erkannt sind. Wir anerkennen sie und verhalten uns empathisch. Es ist ja auch wahr, dass sie lebendig ist und dass wir Menschen nicht überleben ohne Anerkennung des Lebensrechts auch der außermenschlichen Natur. Bemerkenswert ist aber, dass Mao die Auflösung des „Widerspruchs“ ganz orthodox als Anwendung der „Methode der Entwicklung der Produktivkräfte“ annonciert. Er integriert damit diese Frage, die ganz offenkundig eine ökologische ist, obwohl es für Mao den Begriff und die Sache Ökologie noch nicht gibt, in den Zentralbereich der Marxschen Lehre. Wie wichtig das ist, sieht man an den Äußerungen nicht weniger Marxisten, Michael Hardt und Toni Negri gehören dazu, die glauben, man habe die Produktivkräfte insofern aus der Fessel der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu lösen, als diese sie hinderten, sich ganz hemmungslos ins Unendliche zu steigern. Aber das unendliche Streben ist nun eben Sache der Kapitallogik und nicht des Kommunismus.

Marx‘ Ziel war nicht das Unendliche. Er schrieb vielmehr, der Fortschritt der menschlichen Emanzipation lasse sich an der Entwicklung des Mann-Frau-Verhältnisses ablesen. Es lohnt sich, die Stelle aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten zu zitieren:

„In diesem n a t ü r l i c h e n Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigne n a t ü r l i c h e Bestimmung ist.“

Man muss es so lesen, dass Mann und Frau f ü r e i n a n d e r Natur sind, daneben dass sie einander auch als gesellschaftliche Individuen begegnen.

„In diesem Verhältnis e r s c h e i n t also s i n n l i c h , auf ein anschaubares F a k t u m reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen. A u s dem Charakter dieses Verhältnisses folgt, inwieweit der M e n s c h als G a t t u n g s w e s e n , als M e n s c h sich geworden ist und erfasst hat; das Verhältnis des Mannes zum Weib“, wie auch des Weibes zum Mann, „ist das n a t ü r l i c h s t e Verhältnis des Menschen zum Menschen. In ihm zeigt sich also, in[wie]weit das n a t ü r l i c h e Verhalten des Menschen m e n s c h l i c h oder inwieweit das m e n s c h l i c h e Wesen ihm zum n a t ü r l i c h e n Wesen, inwieweit seine m e n s c h l i c h e N a t u r ihm zur N a t u r geworden ist.“ (MEW Ergbd. I, S. 562)

Marx schwebten Frieden, Gleichberechtigung und Zueinandergehören freier Individuen vor. Was die außermenschliche Natur, mit der es die Produktivkräfte der assoziierten Individuen zu tun haben, angeht, kann es nur dasselbe Ziel geben. Die Befreiung der Produktivkräfte von kapitallogischen Fesseln besteht darin, dass sie d i e s e m Ziel dienen dürfen: die Natur umarmen, statt sie wie bisher, im Unendlichkeitswahn, zerstören zu müssen.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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