Briefe aus Japan

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Ich teile hier drei Briefe mit, die ich von dem in Japan lehrenden Japanologen Prof. Reinold Ophüls-Kashima nach der Reaktorkatastrophe erhalten habe. Der erste bezieht sich auf meinen Artikel "Verwundbare Gesellschaft", der am 12.3. online erschienen ist. Der zweite und dritte übt u.a. an einem Beitrag von Robert Zion Kritik: Ophüls-Kashima geht so weit, ihm eine "neokolonialistische Atitüde" vorzuwerfen.



12.4.2011

Lieber Michael,

ich wollte schon die ganze Zeit auf Deinen Artikel zu der AKW-Havarie in Fukushima, der gleich nach Eintritt der Katastrophe im Freitag erschien, reagieren. Ich möchte eigentlich dabei nur auf die Frage eingehen, ob Japan eine sehr grundsätzliche Wende einzuleiten in der Lage ist. Ich denke, es wird Änderungen geben, aber zuerst gibt es einige wichtige Faktoren, die meines Erachtens einer schnellen grundsätzlichen Änderung der Ausrichtung Japans im Wege stehen:

– da ist zum einen die Integration Japans in den kapitalistischen Weltmarkt, der vor allem die Mehrheit der Bewohner der Metropolen ihren Wohlstand verdankt; man konnte ja auch gut sehen, was für Auswirkungen der Ausfall von Produktionsstätten hat, und mit China und Indien hat man in der Nähe ja auch Gesellschaften, die sich in den kapitalistischen Weltmarkt integrieren;

– die Unmöglichkeit, mit einer Bevölkerung von 120 Millionen Menschen wirklich nachhaltig oder sogar autark zu wirtschaften, wie das z.B. die Edo-Regierung (1603–1868) mit anfangs 30 Millionen Einwohnern tatsächlich getan hat (z.B. durch eine planmässige Forstwirtschaft); da Japan auf Lebensmittel-Importe und einen nicht nachhaltigen Fischfang angewiesen bleiben wird, werden auch Exporte notwendig bleiben;

– die Abhängigkeit von den USA, die durch die anscheinend dringend notwendige Anwesenheit der US-Army in Fukushima sogar noch stärker geworden ist;

– die Struktur einer hierarchisch strukturierten Konsensgesellschaft, in der Entscheidungen Zeit brauchen und nicht einfach von oben verordnet werden können, aber auch nicht gegen "oben" entschieden werden können;

– eine Abneigung der japanischen Gesellschaft gegenüber radikalen Entscheidungen, die vorsichtige, eher indirekte Richtungsänderungen bevorzugt; mein Lieblingsbeispiel ist das Zahnersatz-Almagan, das in Japan nie verboten und dessen Gebrauch auch nicht kontrovers diskutiert wurde, das aber durch den Ruf, eventuell Allergien bei Kindern hervorzurufen, eigentlich so gut wie gar nicht mehr verwendet wird (wenn Du willst, kannst Du es aber bekommen);

– eine gewisse Vorliebe für technische Lösungen: wenn man so will, ist der Hybrid-Motor der perfekte Ausdruck japanischen Denkens.

Ich denke aber, dass es mittelfristig eine deutliche Wende in der Energiefrage geben wird. Die letzten Wochen, in der eigentlich bei fast allen Nachrichten das Thema der havarierten AKW-Anlage an erster Stelle stand, die Evakuierungen, die vielen Informationen über die Gefahren der Strahlungen, die Funktionsweise von AKWs, oder allein schon die Tatsache, dass wir in unserer Tageszeitung bei den Informationen zum Wetter auch Angaben über die Strahlenbelastung bekommen (auch wenn sich die Werte in Tokyo weitgehend schon wieder den vor der Katastrophe üblichen Werten angenähert haben), haben die Bevölkerung in einem Maße aufgeklärt und sensibilisiert, dass dies nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die entscheidende Schicht der Regierungsbürokraten auf allen Ebenen haben ja auch oft Familie, die sie nicht gern in Gefahr bringen wollen.

Darüber hinaus ist auch klar geworden, dass die Atomkraft für die Energieversorgung keine sichere Energiequelle ist, denn wir müssen in Tokyo ja Strom sparen (Kashiwazaki konnte ja auch nicht wieder vollständig hochgefahren werden). Dies ist jetzt wieder etwas weniger problematisch geworden, weil nicht mehr geheizt werden muss, aber wenn die stromfressenden Klimaanlagen im Sommer aus bleiben müssen, dann wird das Leben in Tokyo hart, und auch dies wird dazu führen, dass man über eine Energiewende nachdenken wird, vielleicht sogar über eine Begrünung der Stadt. Im Wahlkampf zu der Gouverneurswahlen haben alle Kandidaten betont, die Solarenergie ausbauen zu wollen.

Wird es eine Änderung des politischen Denkens geben? Mittelfristig bis langfristig ja, vermute ich. Es wird sicher das Bedürfnis nach Modellen steigen, die eine sozialere und ökologischere Welt denkbar machen. Wahrscheinlich wird es aber erst einmal zu eher technischen Lösungen führen, wie eben dem Hybrid-Motor oder dem Katalysator. Im Gegensatz zu den Kapitalisten von TEPCO haben die Staatsbeamten hier in der Krise ein erheblich höheres Maß an Verantwortungsbewusstsein gezeigt, und im Gegensatz zu Deutschland besitzen sie hier noch viel Macht und Ansehen.

Herzliche Grüße,
Dein Reinold



26.4.2011

Lieber Michael,

ich möchte, bei aller grundsätzlichen Sympathie, davor warnen, die Selbstdarstellung von Greenpeace in den westlichen Medien in Bezug auf die Katastrophe in der AKW-Anlage einfach zu übernehmen, wie z.B. in dem naiven, ja geradezu gefährlichen Brief von Robert Zion, der die Haltung von Greenpeace seiner Einschätzung zu Grunde legt.

Also: Greenpeace erweckt den Eindruck, als würde die japanische Regierung auf ihre Forderungen und ihre Messungen hin reagieren. Das ist einfach Blödsinn. Greenpeace spielt hier in Japan gar keine Rolle, in den Medien kommen sie überhaupt nicht vor, und auch ihre Verankerung in der japanischen Gesellschaft ist minimal. Es gibt sehr viele andere Akteure, Basisinitiativen, Verwaltungen, politische Gruppen, die aber alle eben nur national agieren und keine Stimme in den westlichen Medien haben.

Ich bekomme jeden Tag die Zahlen der Strahlenhöhe aus meiner Zeitung, und im Internet kann man auf den Seiten der Kommunen noch viel genauere Zahlen zu der Strahlenbelastung in der Luft und im Wasser bekommen (die Strahlenwerte in Tokyo sind wieder auf das Niveau der Katastrophe gesunken, ebenso die im Wasser, aber an einem Tag gab es im Trinkwasser von Tokyo Spuren von Cäsium 137, das an den anderen Tagen nicht aufgetaucht ist). Das betrifft auch die Stadt Fukushima bzw. in der Präfektur Fukushima; die Zahlenwerte dort sind öffentlich und werden auch veröffentlicht. Jeder weiß, dass sie zu hoch sind, aber da sie kontinuierlich sinken, besteht die Hoffnung, dass ein Leben in der Stadt langfristig möglich sein wird.

Die Regierung hat tatsächlich einmal auf eine Einflussnahme von außen reagiert, und zwar bei der Ausweitung über die 30-Kilometer-Evakuierungs-Zone (inzwischen Sperrzone und Zone der Selbst-Evakuierung) hinaus auf eine Ortschaften nach Nordwesten (Zone einer "planmäßigen Evakuierung"), aber es war nicht Greenpeace, sondern die IAEA, die den Anstoß gegeben hat. Überhaupt spielt die IAEA hier eine wichtige Rolle, und die japanische Regierung macht eigentlich fast immer, was von der UNO-Organisation vorgeschlagen wird, wenn auch nicht immer sofort. Dass heißt, Japan hört jetzt schon auf die entscheidende UNO-Organisation und braucht dazu nicht gezwungen werden, wie Zion anscheinend meint. Es wäre allerdings wichtig gewesen, wenn TEPCO vor dem Umfall auf die IAEA gehört oder die Regierung mehr Druck gemacht hätte.

Greenpeace hat, in den westlichen Medien, einmal eine 80-Kilometer-Evakuierungs-Zone gefordert (die US-Army hat sich übrigens in der ersten Woche nach der Havarie tatsächlich 80 Kilometer weit zurückgezogen, aber diese Maßnahme vor ein paar Tagen wieder aufgehoben), später dann die Evakuierung der Großstädte Fukushima und Koriyama. Wissen sie eigentlich, was da fordern? Was eine Evakuierung für die Betroffenen bedeutet? Für die Präfektur Fukushima? Ehrlich gesagt wäre es sinnvoller, die allmählich anschwellende Bewegung gegen die Atomanlage in Hamaoka in der Präfektur Shizuoka, die ebenfalls stark Erdbeben- und Tsunami-gefährdet ist, öffentlichkeitswirksam zu unterstützen.

Ein weiterer Faktor, der mich ärgert, ist, dass kein Unterschied in den westlichen Medien gemacht wird zwischen der Regierung und TEPCO, obwohl das erkennbar zwei sehr unterschiedliche Akteure sind. Eigentlich habe ich im Fall der Regierung, im Gegensatz zu TEPCO, nie den Eindruck gehabt, dass sie die Situation verharmlosen wollen, auch wenn sie zwischen der Warnung, die evakuierte Zone zu betreten, und der Beruhigung der Menschen in Tokyo sicher eine recht schwierige Position einnehmen. Deswegen waren auch alle in den westlichen Medien überrascht, dass die Regierung den Unfall, im Gegensatz zu den Aussagen von TEPCO, als Unfall der Stufe 7 eingestuft hat, wobei die Wasserstoffexplosion im Reaktor 2, der dadurch entstandene Riss im Druckgehäuse und der Austritt von Radioaktivität aus dem Reaktorinneren der entscheidende Punkt waren (kann ich alles in meiner Tageszeitung nachlesen), was heißt, dass Fukushima zwar nicht quantitativ, sehr wohl aber qualitativ mit Tschernobyl gleichzusetzen ist. Edano, der übrigens nicht einfach ein Regierungssprecher, sondern eher so etwas wie ein Staatsminister im Kanzleramt ist, meinte gestern, dass sie alle von den Wasserstoffexplosionen völlig überrascht worden wären... Soviel zu der Sicherheit von Szenarien und Vorhersagen.

Schön wäre es auch gewesen, wenn in den westlichen Medien ein offizieller Vorschlag des japanischen Umweltministeriums zu lesen gewesen wäre: der massive Ausbau der Windkraftanlagen, wobei sie ausgerechnet haben, dass mit Hilfe der Windkraft 40 Reaktoren ersetzt und diese abgeschaltet werden könnten. Das war eine sehr deutliche Positionierung eines japanischen Ministeriums gegen die Atomkraft und für den Ausbau einer alternativen Energie! Das Wirtschaftsministerium wäre allerdings noch wichtiger gewesen, aber auch dieses will wenigstens jetzt schnellstens optimale Sicherheitsmaßnahmen an allen Standorten durchsetzen.

Ich könnte noch so vieles sagen, aber ich denke, das reicht erst einmal.

Herzliche Grüße,
Dein Reinold



28.4.2011

Lieber Michael,

die Reaktionen der japanischen Gesellschaft auf die Katastrophe sind, wie nicht anders zu erwarten, vielschichtig. Wir haben es bei den jüngeren Menschen aber noch stärker als in Deutschland mit einer Denkweise zu tun, die zwischen sich und der Politik keinen Zusammenhang sieht. Deswegen ist es durchaus ermutigend, wenn es viele kleine Aktivitäten, auch Demonstrationen gegen die Kernkraft gibt, an denen Menschen, fast immer Frauen, zum ersten Mal teilnehmen. Auf der politischen Ebene gibt es durchaus Akteure, die sich jetzt gegen die Kernkraft wenden, gerade in Städten mit AKW-Anlage, die, meist in ländlichen Gebieten gelegen, wirtschaftlich stark von den Anlagen profitiert haben. Es ist schwer vorherzusagen, wohin sich das alles entwickelt. Wenn es aber zu Veränderungen kommt, dann eher aus den Verwaltungen, die mit der Wissenschaft vernetzt sind, heraus, vielleicht in Kombination mit regionalen und lokalen Bewegungen. Leider ist die Kommunistische Partei, die mit dem genau dem Szenario, dass dann in der AKW-Anlage Fukushima 1 eingetroffen ist, vor einiger Zeit eine offizielle Anfrage im Parlament eingebracht hatte, nicht in einen so guten Zustand, dass sie profitieren könnte.

Der Brief von Zion war in seiner neokolonialistischen Attitüde geradezu erschreckend; Japan, noch ganz Nationalstaat, würde nie freiwillig Einschränkungen in seine staatliche Souverninität zulassen, noch vielleicht dazu von europäischer Seite. Ist das grüne Politik heute, Imperialismus getarnt als Umweltmenschenrecht? Oder wollte er nur einer Stärkung der UNO das Wort reden?

Herzliche Grüße,
Dein Reinold

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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